In diesen Geschichten wird die Vergangenheit von Robere beleuchtet, bevor er den Namen Tekuro trug und was ihn zum Schwarzen Skorpion werden ließ.
Kapitel 1 - Nestkälte
Skorpione gebären ihre Jungen in einem Erdloch. Wenn sie zur Welt kommen, gleichen sie ihren Eltern anatomisch so sehr, dass sie Miniaturen von ihnen sein könnten. Vom Beginn ihres Lebens an sind sie mit Scheren, Stacheln und Panzer versehen. Nichts Niedliches ist an ihnen zu finden, sie betteln nicht nach Nahrung, weinen nicht und fordern keine Liebe. Stattdessen zehren von ihren Körperreserven, während sie geduldig auf die erste Häutung warten. Dann verlassen sie, noch winzig, ihre Mutter und leben auf sich allein gestellt. Mit jeder Häutung wird der Panzer härter, die Scheren kraftvoller und der Stich tödlicher. Vom Beginn seines Lebens an ist ein jeder Skorpion ein Jäger und mit allem ausgestattet, was er zum Beutemachen braucht. Vor allem anderen aber - Geduld. Und die Fähigkeit, die extremsten Umweltbedingungen durch pure Zähigkeit zu überstehen.
Robere wurde im Jahr 167 nach der Asche in einer Umgebung geboren, die kaum freundlicher als das Erdloch eines Skorpiones war. Aufruhr herrschte damals in Souvagne, die Krone wurde bedroht von den Agenten der Autarkie. Die einstige Elitetruppe, gegründet um Recht und Ordnung zu sichern, war zur größten Bedrohung der inneren Sicherheit erwachsen. Es kam zu monatelangen Unruhen. Ein Staatsstreich durch die Agenten konnte gerade noch verhindert werden, indem man sie mit Gewalt niederschlug. Dies war das Ende der Agenten der Autarkie, die allesamt auf dem Schafott landeten, und das Ende der Unruhen im Land. Für Robere und viele andere jedoch kam die einkehrende Ruhe zu spät. In den unsicheren Monaten vor der Zerschlagung des Ordens hatte es in den unteren Bevölkerungsschichten viele Eltern gegeben, die ihre Kinder nicht länger bei sich behalten konnten und er war eines von ihnen. Ungeachtet der Witterung wurde er als Säugling in einer mit Stroh ausgelegten Kiste vor der Tür das Waisenhauses Saint Amaury abgestellt. Zumindest war das die Version, mit der man ihn und auch seinen besten Freund und Wahlbruder Boldiszàr abspeiste, der mit ihm dieses Schicksal teilte.
Sie beide waren die einzigen Kinder des Heims, die man namenlos abgestellt hatte, ohne jeden noch so geringen Hinweis auf ihre Herkunft. Die Mönche, die das zu einem Tempel gehörende Waisenhaus leiteten, hatten sie anhand einer Liste benannt und jene Namen zugewiesen, die als Nächstes an der Reihe waren. Eine Nummer hätte es nach Roberes Empfinden ebenso getan. Er hatte seinen Namen stets gehasst. Schließlich hatte Boldiszàr die naridische Form ›Robby‹ vorgeschlagen, die er von Marktbesuchen her kannte und damit konnte er besser leben.
Möglicherweise war das gemeinsame Schicksal, der blinde Fleck ihrer Herkunft, die Grundlage ihrer Verbundenheit. Robere und Boldiszàr nannten sich gegenseitig Brüder. Theoretisch war es möglich, dass sie tatsächlich Brüder waren. Der Gedanke, einen großen Bruder zu haben, gefiel Robere. Und auch Boldi fühlte sich in seiner Rolle als Vorbild und Anführer wohl. Die Rolle des Beschützers aber nahm nicht er wahr, sondern der drei Jahre jüngere und einen Kopf kleinere Robere. Nicht, weil Boldi unbedingt einen nötig gehabt hätte, jedoch war sein kleiner Bruder eindeutig der Rücksichtslosere und Brutalere von ihnen. Wenn er andere Kinder malträtierte, um Ihren Gehorsam zu erzwingen, dann im besten Gewissen, Boldiszàr damit etwas Gutes zu tun. Andere Wege, seine Zuneigung auszudrücken, kannte Robere nicht, so wurde er ein zuverlässiger Vollstrecker und Wächter. Anschließend stießen sie ihre Fäuste aneinander und Boldiszàr gab ihm, um den Sieg zu feiern, eine seiner selbstgedrehten Rauchstangen. Qualmend saßen sie in ihrem Versteck hinter dem Holzschuppen und fühlten sich sehr erwachsen.
An seine Kindheit erinnerte Robere sich, abgesehen von der engen Freundschaft mit Boldi, nur wenig, obwohl er erst sechsunddreißig war und sein Gedächtnis tadellos funktionieren sollte. Es war, als ob sein Geist diese Zeit aus seiner Biografie streichen wollte, als sei er schon immer der Leibgardist gewesen, zweiter Mann von Unitè B, als sei er schon mit Rüstung und Bewaffnung zur Welt gekommen, wie die Skorpione es taten. Nein, mit dem Thema Kindheit wollte Robere möglichst wenig zu tun haben und er konnte Kinder auch nicht leiden.
Entsprechend gab es nur sehr wenige Ereignisse aus dieser Zeit, an die er sich im Detail erinnerte. Eines davon war jener Tag, als Boldiszàr krank wurde. Nicht nur ein wenig, mit Schnupfen und Heiserkeit, sondern todkrank.