Zwei Wigbergs in Hohenfelde
Ditzlin führte seinen jüngeren Bruder von der Rüstkammer in den Flügel von Indutiomarus. Ihre Stiefel knirschten auf den dunklen Steinstufen. Die weichen Stiefel von Ditzlin kaum hörbar, die schweren Kampfstiefel von Harubold laut und schwer. Dass Ditzlin der Ältere von beiden war, war körperlich nicht zu erkennen. Harubold war einen halben Kopf größer, wog fünfzehn Kilo mehr und hatte das ernste und zerbeulte Gesicht eines erfahrenen Kriegers. Ditzlin war kleiner, schlanker und gab sein Bestes, um sein Gesicht auf dem Stand eines Zwanzigjährigen zu belassen, auch wenn er die Dreißig längst überschritten hatte. Das waren die Vorteile, die seine Art von Magie mit sich brachten - wenn man sie denn auf seinem Niveau beherrschte. Sein langes, glattes Haar floss glänzend von seinen Schultern. Das einstige kupferrot war zu einem sehr dunklen, fast schwarzen Blutrot geworden, seit er hier wohnte. Harubold hingegen hatte seins zu festen Würsten verfilzt, damit er es nicht zu kämmen brauchte und wirkte heute ein wenig nachlässig rasiert. Aber so unterschiedlich die beiden Brüder vom Äußeren und vom Wesen her auch waren, sie beide stammten aus Wigberg und das finstere und bedrückende Gemäuer von Hohenfelde über dem Kopf zu wissen, war für sie keine Selbstverständlichkeit.
"Ich verstehe nicht, wie du es hier auf Dauer aushältst", murrte Harubold und blickte die Wand aus blanken Gesteinsquadern hinauf, die doppelt so hoch war, wie es bei den Räume in ihrer Heimatburg war. "Kein bemalter Putz, kaum Teppiche. Dieser Herrensitz sieht aus wie eine Kathedrale der Finsternis, aber nicht wie eine Wohnung."
"Es ist eine Kathedrale der Finsternis", antwortete Ditzlin. "Indutiomarus´ Kathedrale. Kannst du dir ein würdigeres Anwesen für ihn vorstellen?"
Harubold betrachtete zweifelnd eine Fackelhalterungen in Gestalt einer enstellten Hand. "Aber wie kann er sich hier wohlfühlen? Oder erwarten, dass seine Familie es tut? Asa Karane ist heruntergekommen genug. Da sollte es wenigstens in den eigenen vier Wänden so behaglich wie möglich sein."
"Da missverstehst du etwas, Haru. Hohenfeldes sind keine Wigbergs. Es liegt Indutiomarus fern, je zu wünschen, dass sich hier irgendjemand wohl fühlt. Immer wachsam, immer auf der Hut sollen seine Söhne sein. Die Gefahr ist allgegenwärtig und das sollen sie nicht vergessen. Nur so haben sie bis heute überlebt, denn in jeder Mauerritze kann der Tod lauern. Asa Karane stirbt, die bewohnbaren Flächen schmelzen wie Eisschollen in der Sonne. Ein Nebeneffekt unserer magischen Aktivitäten. Je knapper das Leben wird, umso weiter sich unsere Zeit gen Ende neigt, umso agressiver und rücksichtsloser werden die letzten Ressourcen verschlissen um der Letzte zu sein, der zum Schluss noch am Leben ist. Am Ende aller Tage wird nur noch ein Haus übrig sein, das weißt du so gut wie ich, das weiß jeder."
"Aber du kannst nicht wollen, dass es Hohenfelde ist."
"Nicht?", flötete Ditzlin. "Mir ist der Name vollkommen gleich. Meinetwegen könnte er auch Kaltenburg oder Ratzenreuth lauten, so lange für mich und meine Nachkommen dort noch ein Plätzchen frei ist. Auf unser Blut kommt es an, Haru, das Blut der Wigbergs muss überleben. Erkannt oder unerkannt."
Harubold nickte langsam. "Ich verstehe. Du bist hier, weil du glaubst, dass du hier die besten Chancen hast, zu überleben." Er machte eine Umfassende Geste. "Ausgerechnet hier!"
"Wer ist sicherer vor einer Viper, als der Mungo an ihrer Seite? Du bist auch aus anderen Gründen hier, als nur um deinen Bruder zu besuchen. Nicht wahr? Du hast dir ebenso einen Rettungsanker nach Hohenfelde geworfen, nur für den Fall der Fälle. Glaub nicht, dass ich davon nicht wüsste. Ich bin dein Bruder und wie wir alle habe ich die Augen eines Falken, die Ohren eines Luchses und den Verstand eines Schakals."
"Und die Bescheidenheit eines Pfaus." Harubold grinste, ohne ihm die rage zu beantworten, und rempelte Ditzlin im Gehen freundlich mit der Schulter an.
Hätte er es nur gelassen.
Ditzlins soeben noch gut gelauntes Gesicht verwandelte sich in eine Fratze. "Die Robe war frisch", schnauzte er. Mit seinen klauenbewehrten Fingern prüfte er den Stoff an seiner Schulter. "Suuuper! Staub! Bleib mir bloß vom Leib mit deiner dreckigen Rüstung!"
Harubold blickte ihn von der Seite an, ohne den Kopf zu drehen. "Du bist vorhin an die Wand gekommen. Meine Rüstung ist sauber. Meinst du, ich kreuze wie ein Schwein hier auf?"
"Mit der Rasur nimmst du es schließlich auch nicht so genau. Alle Einsatzrüstungen sind dreckig! Das ist schließlich keine Paraderüstung! Damit wälzt du dich mit den anderen Soldaten draußen im verseuchten Schlamm, wenn ihr eure Übungen macht! Wenn dir das egal ist, ob du irgendwann von Entartungen entstellt aufwachst und ein weiteres Ungetüm der Wildnis wirst oder ob deine Kinder einst aussehen werden wie wandelnde Trüffel auf Beinen, ist das deine Sache. Aber mir ist das nicht egal!" Ditzlin wurde dermaßen wütend, dass er Harubold auf schnellstem Wege ins Gästegemach führte, obwohl er ihm eigentlich noch den Rest des Anwesens hatte zeigen wollen. Wenn er ihn nach diesem Patzer noch länger sah, würde er anfangen, ihn richtig zu beschimpfen. "Hier wohnst du. Gute Nacht!"
"Warte, bekomme ich wenigstens noch einen Sklaven, den ich nach etwas zu Essen schicken kann?"
Harubold bekam statt einer Antwort einen Stiefel gegen den Hintern gedrückt. Ditzlin schob ihn mit dem Fuß in das Gästegemach und schlug hinter ihm die Tür zu. Mit vor lauter Ekel gespreizten Fingern ging er steifbeinig zurück zu der Wohnung, die er mit Indutiomarus bewohnte. Sie lag ganz in der Nähe im gleichen Flügel, denn er wollte seinen Bruder hier nicht allein wissen. Er brüllte nach den Sklaven, die ihn - noch im Gang stehend - auszogen, damit die Verseuchung nicht in die Wohnung hineingetragen wurde. Zwei weitere Sklaven ließen ihm derweil ein heißes Bad ein, das er mit einem alchemistischem Badezusatz nach der Rezeptur Kuttenthals versah. Der Zusatz öffnete die energetischen Kanäle der Haut, wenn man dem gestohlenen Wissen glauben schenken. Ein speziell zu diesem Zwecke gehaltener Sklave, der groß und gut genährt war, musste als Blutspender herhalten für die letzte und wichtigste Zutat des Bades. Mit geübter Hand ritzte Ditzlin ihn an, ließ ihn in eine Flasche bluten und schickte ihn dann zum Heiler. Die Flasche aber entleerte er in die Wanne. Während irgendwo in den Eingeweiden des Anwesens seine verseuchte Robe ausgekocht wurde, ließ Ditzlin sich in das nun rosafarbene Wasser sinken und schloss die Augen. Der Duft des Badezusatzes, die regenerierende Wirkung und der sanfte Kerzenschein halfen ihm dabei, wieder herunterzufahren.