Einen letzten Blick schenkte Dimicus der Stadt Drakenstein, als er durch das sumpfige Land Almaniens schritt. Die Stadt war seit der Überflutung ein Hort des Chaos geworden. Nahrungsknappheit und der Zusammenbruch der Infrastruktur hatten seinen Tribut gefordert. Die Bewohner der Stadt hatten begonnen zu plündern. Jeder tötete den Anderen für ein Stück Brot. Eine große Stadt , die innerhalb weniger Zeit ein Schatten seiner selbst wurde. Auch Dimicus hatte sich grausamer Methoden bedienen müssen, um sich selbst über Wasser zu halten. Doch die gesamte Zeit war ihm bewusst geworden, dass die Stadt nicht mehr seine Heimat sein würde. Nichts darin hatte mehr Bestand gehabt. Nun auch verwüstete der Krieg die letzten Überreste seiner Heimat.
Während seine Augen den Rauschschwaden über der Stadt folgten, musste er an vieles zurückdenken. Sein Genie, seine Kunst. Sie alles war nichts mehr wert. Genau so wie seine Person. Er hatte alles verloren. Der letzte Rest entschwand mit dem Rauch, der aus dem Inneren der Stadtmauern trat. Zumindest hatte er aus der Stadt fliehen können Shazeem und die Anderen wollten bleiben, um das Chaos auszunutzen. Ihm aber verholfen sie zur Flucht. Er hatte seinen Anteil in der Geschichte Drakensteins gehabt. Doch jede Spur verbrannte in den Feuern des Chaos. Rakshor freute sich sicherlich.
Dimicus blickte in die trübe Suppe, in der er mit seinen Stiefeln stand. Sein Gesicht spiegelte sich auf der Oberfläche wieder. Die Augen untermalt von schwarzen Rändern, die Wangen eingefallen und der Gesichtsausdruck geprägt von langem Leid. Es war alles weg. Er hatte es nicht verhindern können. Sein einziger Weg führte hinaus aus Almanien, mit nicht mehr als seiner Ausrüstung und dem Teil seines Reichtums, den er hatte tragen können. Es war nicht viel, doch es war in seinen Augen genug. Schließlich schaute er wieder auf und blickte in die Richtung, in der sich bewegen wollte. Die Strecke würde lang und kraftraubend werden. Das war ihm bewusst, doch hatte er keine andere Wahl mehr.
Hauptsache war es, dass er aus Almanien floh, bevor der Krieg ihn abermals einholte und sein Leben einforderte. Shazeem hatte ihm geraten, dem Flusslauf des Draken zu folgen. Der sicherste Weg, um in das nächste Land zu kommen. Die Bergwychtl herrschten dort über ein unabhängiges Land. Dimicus wollte, so hoffte er zumindest, dort Unterschlupf finden und seine weitere Vorgehensweise erkunden. Doch so frei wie er jetzt war, ohne Wurzel und Anker, wusste er noch lang nicht, wo er hingehören würde.
So begann Dimicus' weite Reise durch das Land, seine einzige Orientierung war der Draken, oder besser das, was von ihm übrig war. Zu seinem Pech war es Winter und es wurde eine pure Qual, unbeschadet durch die Ländereien zu wandern. Kälte, Erschöpfung und auch Hunger forderten schnell ihren Tribut. Er fand selten eine Gelegenheit sich auszuruhen, geschweige denn Nahrung oder sauberes Wasser.
Mit Glück fand er Hügel und zerstörte Gehöfte, die nicht mit Wasser bedeckt waren. Nur an diesen Orten konnte er rasten, doch nie konnte er richtig schlafen. Stets war er auf der Hut, bereitete sich akribisch darauf vor, im Notfall zu fliehen oder zu verstecken. Sein körperlicher Zustand wurde zunehmend fragiler. Die Schritte wurden beschwerlicher, die Bewegungen langsamer und jeden Tag schmerzte der Körper mehr.
Zur Krönung beutelte ihn schon bald eine Krankheit, die seinem Körper zusätzlich belastete. Eine Erkältung, vielleicht auch ein Infekt. Er wusste es nicht ganz genau. Letztendlich war er kein Medicus, der sein Gebrechen bestimmen und behandeln konnte. Das Einzige was ihn antrieb, war der Wille zu überleben. Ein Instinkt. Nicht sein Verstand, nicht der Wunsch nach einem längeren Leben. Was war dieses Leben schon wert, wenn ihm alles genommen worden war?
Diese Art der Veränderung, sie machte Dimicus vollkommen fertig. In einem Moment konnte er noch in der Stadt Drakenstein überleben, lernte lieben und lachen. Doch das alles war weg. Einfach so. Verschwunden und ausgelöscht. Nun blieb ihm nicht mehr als Kummer und seine Existenz. Er hasste dieses Gefühl. Zuvor war er auch klargekommen, ohne diese Dinge! Doch jetzt war alles anders.
Mit letzter Kraft erreichte Dimicus schließlich eine Stadt Almaniens, welche nicht überflutet war! Sogar im Gegenteil. Sie schien auch unter Nahrungsnot zu leiden, doch ihre Verbindung zu den Ländereien der Bergwychtl ermöglichten das Schlimmste zu verhindern. So zumindest erfuhr es Dimicus von einem hiesigen Wirt, der ihn sehr mitleidig angeschaut hatte. Es war kein Wunder. So betrachtete er sein Spiegelbild und fand ein fahles Gesicht vor. Seine Augen hatten jeden Glanz verloren. Schmutz, Kratzer und Schorf zierten sein Gesicht. Seine Rüstung war gerissen, die Kleidung darunter schmutzig und kaputt.
Seine Krankheit hatte sich zunehmend verschlimmert. Zumindest bot ihm sein Geld Essen und Getränk, doch laut der Auskunft des Wirtes musste er bald weiter. Einen fähigen Medicus gab es in der Stadt nicht, so verwies der Wirt auf Syriel im Gebiet der Bergwychtl. Dort sollte es einen Arzt geben und wenn Dimicus dort hin wollte, könne er sich einer der Handelskarawanen anschließen, um die Reise sicherer zu überstehen. Wenn auch nur gegen Bezahlung. Geld spielte jedoch keine Rolle für Dimicus.
Das Wichtigste war, weiter zu kommen und dieses lästige Gefühl der Krankheit loszuwerden. Seine Gefühlswelt war erkaltet und selbst der Drang seiner Kunst lang abgeflacht. Nicht einen Moment hatte er mehr an sich gedacht. Für ihn waren seine größten Tage gezählt und er wartete nur noch auf den Tod. Allerdings wollte ein kleiner Funken in ihm sagen, dass alles besser ist, als an einer Krankheit zu sterben. Ein lebensrettender Gedanke, wie er später erfahren sollte.
Denn kaum in Syriel angekommen, wandte er sich an an den hiesigen Medicus. Der schüttelte nur mit dem Kopf und schlug die Hand voller Entsetzen gegen die Stirn. „Wieso habt Ihr nicht besser auf Euch geachtet?“, bekam er zu hören. „Das ist eine ausgewachsene Grippe! Es ist ein Wunder, dass ihr überhaupt laufen könnt, geschweige denn lebt!“ Ohne Dimicus auch nur eine Chance zu lassen, sich gegen die Behandlung zu wehren, verarztete ihn der Medicus von Kopf bis Fuß. Behandlung mit Magie, Kräuter und Trank, gefolgt von strikten Anweisungen. Das zu horrenden Kosten! Durch die Behandlung verlor Dimicus den größten Teil seines Vermögens, doch war ihm keine andere Wahl geblieben.
Mit dem letzten Rest seines Geldsäckels wandte sich Dimicus schließlich in die Taverne der Stadt. Wankend und stark geschwächt öffnete er deren Tür, worauf ihm der wohlige Geruch von Essen und Wein entgegenschlug. Bei der Untersuchung des Arztes hatte er festgestellt, wie abgemagert er mittlerweile geworden war. Seine Rippe hatte man einzeln zählen können, die Muskeln waren schwach geworden. Wie der Arzt es gesagt hatte, es war ein Wunder, dass Dimicus noch am Leben war. Doch er nannte es kein Leben. Mehr ein Schatten seines früheren Selbst.
Dieser Schatten schlich auf einen der Tische des Gasthauses zu, nahm Platz und wartete geduldig auf die Bedienung. Blicke zogen sich auf ihn, doch Dimicus war es egal. Ein Tuscheln ging durch den Raum, seine Ohren vernahmen flüsternde Worte. Er schloss seine Augen und versuchte es auszublenden. Es war zu viel, sie alle sollten verschwinden! Sie hatten keine Ahnung mit wem sie es zu tun hatten! Dimicus legte seine Hände auf seine Ohren und versuchte sie alle aus seinem Kopf fernzuhalten. Doch dann tippte ihn jemand an. Erschrocken fuhr er hoch.
Vor ihm stand die Schankmaid. Ein sorgenvolles und doch zugleich unsicheres Lächeln befand sich auf ihren Lippen. „Was darf ich Euch bringen?“, fragte sie, zupfte dabei ihre Schürze zurecht.
Mit müden Augen betrachtete Dimicus die Frau vor sich, seine Züge regten sich für einen Moment nicht. Die Bedienung begann unruhig auf den Füßen umher zu wippen. „Ein Braten. Und eine Flasche Rotwein. Eine ganze Flasche“, erklärte Dimicus, suchte einige Münzen aus seinem Geldbeutel und gab sie ihr. Nickend nahm sie die Bestellung auf und verschwand schnell in Richtung Küche. Mittlerweile war im Raum Stille eingekehrt. Die Menschen betrachteten Dimicus unter vorgehaltener Hand. Niemand traute sich etwas zu sagen. Immer wenn Dimicus einen von ihnen in die Augen schauen wollte, blickten sie sofort weg. Feiges Pack.
So wartete Dimicus, bis schließlich sein Essen und der Rotwein kam. Dazu ein entsprechendes Weinglas. Allerdings machte sich Dimicus nichts aus Tischmanieren. Grob schaufelte er mit Messer und Gabel das Essen in seinen Mund. Dabei entkorkte er die Flasche und soff den Wein, statt ihn zu genießen. Natürlich dauerte es so nicht lang, dass der sonst vernünftige und kalkulierende Dimicus ein Opfer der Trunkenheit wurde.
Das war nun das Schicksal des einstigen Rosendämonen. Einst ein glorreicher Künstler, prägend für Generationen und der Schrecken eines Landes. Nun nicht mehr als ein saufender Tavernengast, der sich köstlichen Wein einfach in den Rachen goss, als wäre es ein billiger Fusel aus einer Schwarzbrennerei. Dabei galt jeder Gedanke seiner verlorenen Vergangenheit – und fehlenden Zukunft.