Der Mann ohne Gesicht

  • Der Mann ohne Gesicht


    Jahr 171 nach der Asche, Souvagne, Beaufort.

    Vendelin war zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre jung.


    Die Pantoffeln schlurften unermüdlich über den staubigen Teppich des verwaisten Hauses. Von Schrank zu Schrank, wo Vendelin wühlte, von Tisch zu Tisch, wo er alles zur Sichtung ausbreitete. Er arbeitete sich von Raum zu Raum, ging die Treppen hinauf, stieg sie wieder hinunter. Eine Reise durch die Vergangenheit, die sich an der Gegenwart wie eine Brandung brach und ihre Spuren überall verteilte. Vendelin wich den auf dem Boden verstreuten Habseligkeiten seines Vaters mit den Schritten aus. Geschirr, angeblich Erbstücken, eine Knochenkette aus Rakshanistan, almanische Trinkgefäße aus verzierter Keramik, bemalte Essstäbchen aus Arashima samt des dazu gehörenden Porzellans, fremdartige Glücksbringer, deren Herkunft er nicht entschlüsseln konnte. Aber auch eine Sammlung unterschiedlichster Kleidung, mehr eine Kostümsammlung für all die unterschiedlichen Anlässe, in denen Wenzel sich unerkannt hatte bewegt. Stempel, falsche Siegel, eine Sammlung von Unterschriften, die er bei Bedarf kopieren konnte.


    Ölmalfarben! Wozu hatte Wenzel Ölmalfarben gebraucht? Vendelin hatte ihn niemals malen gesehen und fand auch keine Leindwände, wenngleich ein Skizzenbuch erahnen ließ, dass er künstlerisch talentiert gewesen war. Beim Durchblättern fanden sich zahllose Portraits, ausdrucksvolle Gesichter, versehen mit einem Namen und einer kurzen Personenangabe. Ah, Phantombilder. Oder vielmehr eine Recherchesammlung als Inspirationsquelle für die eigene Maskerade? Vendelin vermochte es nicht zu sagen, aber dieses Skizzenbuch legte er auf den Tisch mit den Dingen, die er gesondert verwahren wollte. Jeder Tuschestrich trug eine Handbewegung seines Vaters konserviert in sich. Einen Moment hielt Vendelin inne und drückte das Buch an sein Herz.


    Lange hatte er sich nicht dazu durchringen können, all dies auch nur zu betrachten, geschweige denn, es durchzugehen, für sich in geeigneter Weise zu sortieren und Unbrauchbares auszumisten. Wenzel hatte unwahrscheinlich viele Dinge besessen - doch was davon gehörte wirklich ihm und was gehörte den falschen Identitäten? Das war in den meisten Fällen unmöglich, zu erkennen. Die wenigen Schätze, die zweifelsohne der Person seines Vaters zuzuordnen waren, wollte Vendelin von dem übrigen Hausrat trennen. Er lauschte in die Leere, die ihn trotz der überbordenden Fülle umgab.


    Still war es im Haus, während er innehielt. Nur der Wind heulte im kalten Kamin und ließ die Äste der Platanen wie knorrige Finger an den Fenstern kratzen. Die verstaubten Spinnweben wehten wie Banner des Verfalls. Das Haus, das zu Lebzeiten von Wenzel und Marilou trotz seines beträchtlichen Inventars so ordentlich gewesen war, dass es Vendelin steril und tot erschienen war, quoll nun über vor Dingen, die sonst ordentlich in den Schränken verstaut oder im Dachboden und Keller gelagert gewesen waren: Gemalte Postkarten, mit Grüßen an einen Mann, der gar nicht existierte, Briefe und Regale voller Bücher, von denen Vendelin nicht unterscheiden konnte, ob Wenzel sie gern gelesen hatte oder ob sie Teil seiner Maskerade gewesen waren. In all den Lügen, die seine Familie gelebt hatte, suchte Vendelin seinen Vater.


    Er suchte nicht Soel, das Mitglied eines Geheimordens und auch nicht Eloy, den Agentenlehrling. Er suchte den unverfälschten Wenzel von Wigberg, den er nie unmaskiert hatte kennenlernen dürfen. Welche Kleidung er wohl getragen hätte und wie sein Haar frisiert? Vendelin durchwühlte das ganze Haus aus auf der Suche nach Spuren, die ihm Anhaltspunkte für Wenzels wahre Persönlichkeit liefern konnten. Er legte das Skizzenbuch auf einen der Tische und suchte weiter. Zwischendurch weinte er, dann riss er sich zusammen und wühlte, bis er hinter mit Laken verhangenen Möbeln eine Truhe fand, die sein Interesse weckte. Der Schlüssel steckte nicht, doch sie war leicht zu knacken. Vendelin öffnete sie mit einem zurechtgebogenen Draht. Sie war unter den Rand befüllt, doch sein Blick verharrte auf dem Ersten, was er sah. Ganz oben lag in einem weichen Körbchen wie in einem Bett eine nackte Puppe mit Holzkopf, Holzgliedern und einem weichen Stoffkörper. Sie stellte kein Kind dar, wie viele Puppen es taten, sondern war den Proportionen und Formen nach ein Mann.


    Mit der Puppe in der Hand sank Vendelin auf dem Teppichboden zusammen. Er betrachtete sie länger, als die anderen Gegenstände. Sie war alt, vermutlich älter als die Maskerade, und sehr abgegriffen. Wahrscheinlich hatte sie Wenzel durch seine Kindheit begleitet. Sie hatte sogar eine geschnitzte Frisur, einen naridischen Seitenscheitel. Hier war sie, die erste Spur von Wenzel höchstselbst, von seiner Kindheit in Naridien. Das Gesicht der Puppe war teilweise mit einer Feile entfernt worden, die Spuren waren noch deutlich zu sehen. Das Holz war dort viel heller. Die Augen und das Innenleben der Ohren waren von dem naturgetreu geschnitzten Holzkopf heruntergefeilt worden. Es war, als hätte Wenzeln versucht, die Puppe ihrer Sinne zu berauben. Taubblind war sie vielleicht ein kleiner Stellvertreter für Wenzel selbst, der in seiner falschen Identität gefangen versuchte, zu vergessen, wer er einst gewesen war. Diese Puppe repräsentierte vielleicht sein früheres Selbst und war ihm Gefährte im Leid. Doch der Mund der Puppe war erhalten geblieben. Sie musste sprechen können, um zu lügen.


    Was auch immer Wenzel mit der Zerstörung tatsächlich beabsichtigt hatte - die taubblinde Puppe sagte viel über seinen inneren Zustand aus. Er hätte sie entsorgen oder vernichten können, wenn ihre Gegenwart ihm Unbehagen bereitete. Stattdessen hatte er seinen kleinen Begleiter aus Kindertagen mit der Präzision eines Chirurgen verstümmelt, so dass er sein Leid teilten musste. Trotz allen Unbehagens hatte Wenzel sich an ihn geklammert, ihn in unschädlich gemachter Form behalten und ihn in einer Truhe versteckt wie in einem verborgenen Gefängnis. Interessant war auch der Umstand, dass der weiche Stoffkörper nackt war, bloßgestellt, verwundbar. Die Kleider der Puppe - eine Hose, ein Hemd und eine Jacke, sowie kleine Schuhe, alles naridisch - lagen gesondert in einer winzigen Puppentruhe. Und in dieser war noch eine weitere Puppe verwahrt, das winzige Äquivalent zu jener, die Vendelin gerade in der Hand hielt.


    »Ach, Papa«, seufzte Vendelin.


    Er nahm die unbekleidete Puppe samt ihrer Truhe mit sich. Die kleine Truhe stellte er auf den Nachttisch neben seinem neuen Bett. Seine alte Schlafstatt, in der die Leiche seiner Mutter geruht hatte, hatte er schon vor Jahren gemeinsam mit Wenzel verbrannt und sein ehemaliges Zimmer in ein Alchemielabor umgebaut. Vendelin war damals umgezogen ins Gästezimmer. Hatte er als Kind noch im Bett seiner Mutter geschlafen, als würde er auf den heimkehrenden Wenzel warten, so hatte er damit aufgehört nach Wenzels Tod. Die leere Betthälfte war nicht zu ertragen gewesen. Vielleicht sollte er das Haus noch weiter umräumen.


    Er kleidete die Puppe liebevoll an, setzte sie vor die Truhe und lehnte sie mit dem Rücken dagegen, so dass er sie vom Bett aus dort sitzen sehen konnte. In die Holzhände legte er ihren winzigen Puppenkollegen, eingeschlagen in ein kleines Tuchstück wie ein Kind. Dann wanderte er weiter durch das verwüstete Haus. Vielleicht sollte er es nicht nur umräumen, sondern gänzlich entleeren und komplett neu einrichten, die Wände anders bemalen, die Teppiche herausreißen. Doch allein der Gedanke daran trieb ihm erneut die Tränen in die Augen. Dass hier war alles, was ihm von seinem Vater geblieben war: ein viel zu großes Haus und ein noch größeres Geheimnis.