Ein Räuberleben
Jahr 192 nach der Asche, westliche Kandoren
Am Ende der Wildnis
Nebel hing feucht und kalt in den Bergen. Der See vor meinen Füßen ruhte still und schwarz, ein Gegenstück des lichtlosen Alldunkels zwischen den Sternen. Ein gelbes Blatt fiel auf die glatte Oberfläche und zeichnete Kreise, ehe die Reglosigkeit zurückkehrte. In dem schwarzen Spiegel des Wassers, von dem ich getrunken hatte, sah ich mein Antlitz. Ein junger Halbork blickte mir entgegen, dem gerade die ersten Barthaare neben den Mundwinkeln sprossen. Ein olivgrünes Gesicht mit unverkennbar menschlichen Zügen, die Brauen vor Anspannung verzogen. Die Spitzen meiner Ohren zitterten. Die Flucht hatte mich im Laufe des letzten Vierteljahres über die halbe Breite des Kontinents geführt, doch nun war ich fast am Ziel. Ich spuckte mir selbst ins Gesicht und zog weiter nach Westen, die steinige Straße entlang. In der klammen Kälte nahm ich den scharfen Geruch von Feuer wahr.
Während der letzten Tage und Nächten hatte es gewittert und die Erde war vom Regen matschig, das lange Gras lag flachgedrückt. Nun aber herrschte Stille, kein Vogel sang und kein Wind wehte. Während des Sommers hatte ich mich von meinem Schicksal treiben lassen, doch nun war die unbeschwerte Zeit erst einmal vorbei. Ich sah die Stadt im feuchten Dunst. Die Häuser, die eng aneinander gedrängt am Hang standen, wirkten bei diesem Wetter grau und zerbröckelt. Wie viele Menschen mussten dort leben, hunderte? Tausende? Und doch war ich allein auf der Straße. Niemand ging bei diesem Wetter vor die Tür.
Erschöpft schleppte ich mich durch die klamme Kälte. Eine Stadtmauer gab es um die naridischen Städte scheinbar nicht, was für mich gut war. Die Fellstreifen, die mir als Fußlappen dienten, umschlangen meine Füße als schwere nasse Klumpen. Das Leben in Freiheit hatte im Sommer so gut begonnen, mit frischen Beeren und knackigen Äpfeln vom Wegrand, mit jungen Hasen in den Schlingen und prasselnden Feuern, über denen ich das zarte Fleisch briet und mir heißen Tee kochte. Nun aber hielt der Herbst das Land in seinen Klauen. Es gab es nirgends mehr trockenes Brennholz und ich fror erbärmlich. Die Flüsse und Bäche, aus denen ich getrunken hatte, führten schlammig braunes Wasser. Die meisten Tiere, die ich gejagt hatte, hielten nun Winterschlaf oder waren in bessere Gebiete abgewandert.
In den letzten Tagen hatte ich erlebt, was Hunger und Kälte wirklich bedeuteten, und dabei hatte der Herbst gerade erst begonnen! Wie ich den Winter überleben sollte, wusste ich noch nicht. In der Wildnis hielt ich das für ausgeschlossen, doch vielleicht konnte mein menschliches Erbe mir das erste Mal in meinem Leben helfen.
Mein Haupt war voll trüber Gedanken, schwer wie die Wolken am Himmel, doch am Ende der Straße flimmerten die Lichter der Menschenstadt Vellingrad.