Ein Räuberleben

  • Ein Räuberleben

    Jahr 192 nach der Asche, westliche Kandoren

    Am Ende der Wildnis


    Nebel hing feucht und kalt in den Bergen. Der See vor meinen Füßen ruhte still und schwarz, ein Gegenstück des lichtlosen Alldunkels zwischen den Sternen. Ein gelbes Blatt fiel auf die glatte Oberfläche und zeichnete Kreise, ehe die Reglosigkeit zurückkehrte. In dem schwarzen Spiegel des Wassers, von dem ich getrunken hatte, sah ich mein Antlitz. Ein junger Halbork blickte mir entgegen, dem gerade die ersten Barthaare neben den Mundwinkeln sprossen. Ein olivgrünes Gesicht mit unverkennbar menschlichen Zügen, die Brauen vor Anspannung verzogen. Die Spitzen meiner Ohren zitterten. Die Flucht hatte mich im Laufe des letzten Vierteljahres über die halbe Breite des Kontinents geführt, doch nun war ich fast am Ziel. Ich spuckte mir selbst ins Gesicht und zog weiter nach Westen, die steinige Straße entlang. In der klammen Kälte nahm ich den scharfen Geruch von Feuer wahr.


    Während der letzten Tage und Nächten hatte es gewittert und die Erde war vom Regen matschig, das lange Gras lag flachgedrückt. Nun aber herrschte Stille, kein Vogel sang und kein Wind wehte. Während des Sommers hatte ich mich von meinem Schicksal treiben lassen, doch nun war die unbeschwerte Zeit erst einmal vorbei. Ich sah die Stadt im feuchten Dunst. Die Häuser, die eng aneinander gedrängt am Hang standen, wirkten bei diesem Wetter grau und zerbröckelt. Wie viele Menschen mussten dort leben, hunderte? Tausende? Und doch war ich allein auf der Straße. Niemand ging bei diesem Wetter vor die Tür.


    Erschöpft schleppte ich mich durch die klamme Kälte. Eine Stadtmauer gab es um die naridischen Städte scheinbar nicht, was für mich gut war. Die Fellstreifen, die mir als Fußlappen dienten, umschlangen meine Füße als schwere nasse Klumpen. Das Leben in Freiheit hatte im Sommer so gut begonnen, mit frischen Beeren und knackigen Äpfeln vom Wegrand, mit jungen Hasen in den Schlingen und prasselnden Feuern, über denen ich das zarte Fleisch briet und mir heißen Tee kochte. Nun aber hielt der Herbst das Land in seinen Klauen. Es gab es nirgends mehr trockenes Brennholz und ich fror erbärmlich. Die Flüsse und Bäche, aus denen ich getrunken hatte, führten schlammig braunes Wasser. Die meisten Tiere, die ich gejagt hatte, hielten nun Winterschlaf oder waren in bessere Gebiete abgewandert.


    In den letzten Tagen hatte ich erlebt, was Hunger und Kälte wirklich bedeuteten, und dabei hatte der Herbst gerade erst begonnen! Wie ich den Winter überleben sollte, wusste ich noch nicht. In der Wildnis hielt ich das für ausgeschlossen, doch vielleicht konnte mein menschliches Erbe mir das erste Mal in meinem Leben helfen.


    Mein Haupt war voll trüber Gedanken, schwer wie die Wolken am Himmel, doch am Ende der Straße flimmerten die Lichter der Menschenstadt Vellingrad.

  • Ankunft in Vellingrad


    Bauernhäuser säumten die Straße, errichtet aus Feldsteinen und gedeckt mit dunklen Holzschindeln. Auf den nassen Ländereien weidete das Vieh und die abgeernteten Felder ruhten. Dahinter lagen winzige Holzhütten. Ich betrachtete einen schiefen, moosigen Zaun. War das die vielgerühmte Zivilisation, auf welche die Naridier so stolzt waren? Ich wusste es nicht, denn es war das erste Mal, dass ich eine menschliche Stadt betrat.


    Worauf die Menschen sich so viel einbildeten, ahnte ich erst, als ich das Stadtzentrum erreichte, mit dem Rathaus, der Rüstkammer und dem Bärenzwinger. Ich blickte an diesen Bauwerken hinauf, Etage um Etage, bis hoch zu den Spitzgiebeln, um die in weiter höhe graue Tauben kreisten. Ich hatte nicht gewusst, dass man Steine derart hoch stapeln konnte, ohne dass sie zusammenbrachen.


    Ich stellte mir vor, wie mein Vater durch diese Straßen gegangen war, auch wenn ich nicht wusste, ob er tatsächlich aus Vellingrad stammte. Ich wusste gar nichts, außer, dass er ein Naridier gewesen war. Hier würde ich ihn nicht finden, doch ich stellte mir vor, dass die Leute hier den Mensch in mir erkannten und ein Erbarmen hatten. Dabei wusste ich selbst nicht, wie viel Menschliches sich hinter meinem olivgrünen Antlitz verbarg, denn mir fehlte der Vergleich. Das erste Mal in meinem Leben stellte ich mich diesem Teil meines Erbes.


    Ich folgte dem nassen Geruch bis zum Hafen und fand dort ein paar Arbeiter, die im Schutz einer Plane rauchten. Ich nahm meinen Mut zusammen und sprach sie an.


    "Taey vanaeak!", grüßte ich sie. Das hieß "Seid bereit" und war ein orkischer Gruß. Ich hoffte, jemand würde mich verstehen.


    Ein Mann hob eine wulstige Braue. War sein Blick fragend?


    Da er nichts sagte, fuhr ich fort: "Ich bin ein Reisender und erbitte euren Schutz. " Naiv, wie ich war, ging ich davon aus, dass in Naridien die gleichen Gepflogenheiten der Gastfreundschaft herrschen müssten wie in Shakorz.


    "Unseren Schutz?", fragte er. Er sprach mit starkem Dialekt, doch ich konnte ihn verstehen.


    So deutlich wie möglich antwortete ich: "Ja. Ich suche einen Platz zum Schlafen und etwas zu Essen."


    Er musterte meine heruntergekommene Erscheinung. "Hast du denn Geld?", fragte er.


    "Nein", antwortete ich verwirrt, da ich den Zusammenhang mit meiner Bitte nicht verstand. Ich wusste zwar, dass Geld existierte und dass es unter Menschen für eine Art Tauschhandel benutzt wurde, aber ich hatte keine Ahnung, woher man es bekam oder wie man es verwendete. Erst recht ahnte ich nicht, dass die gesamte naridische Gesellschaft darauf aufgebaut war.


    "Ohne Geld gibt es für dich keine Unterkunft und nichts zu Essen", antwortete der Arbeiter. "Wir haben hier nichts zu verschenken. Da könnte ja jeder kommen. Und am Ende arbeitet keiner mehr." Er spuckte aus.


    Das verwirrte mich, weil in Shakorz auch ohne Geld alles bestens funktionierte, aber so schnell wollte ich nicht aufgeben. Ich war bereit, mich den menschlichen Gepflogenheiten anzupassen, wenn mir nur einer erklärte, wie das ging. Also fragte ich: "Woher bekomme ich Geld?"


    "Indem du arbeitest, anstatt als Landstreicher ehrliche Leute anzubetteln."


    "Gut", sagte ich, ohne auf den mitschwingenden Vorwurf der Unehrlichkeit einzugehen, "sag mir, was ich arbeiten soll! Dann arbeite ich."


    Nun lachten alle drei. "Ich bin Tagelöhner, ich habe keine Arbeit für dich! Du musst dich durchfragen."


    Kopfschüttelnd wandte er sich ab. Aber immerhin: Keiner hatte etwas zu meinem Aussehen gesagt. Ich nahm also an, dass meine grüne Haut in Ordnung ging. Vor allem wusste ich nun, dass ich arbeiten musste. Dafür würde ich Geld bekommen. Das konnte ich anscheinend gegen einen Schlafplatz und etwas zu Essen eintauschen. War doch gar nicht so kompliziert.


    Doch Arbeit zu finden erwies sich in den folgenden Tagen viel als schwieriger, als gedacht. Wen ich auch fragte, niemand konnte mich gebrauchen. Manchmal stellten sie Rückfragen, zum Beispiel wurde ich mehrmals gefragt, ob ich schmieden könne und einmal wollte ein Händler wissen, ob ich mehrere Sprachen beherrschte. Leider musste ich alles verneinen. Ich war ein guter Jäger, doch niemand benötigte einen. Damit endete die Liste meiner Fähigkeiten.


    Die Tage zogen ins Land und der Hunger wurde unerträglich. Ich war keinen Schritt weiter. Die Menschen waren mir fremd, doch ihr Erbe floss durch meine Venen. Es musste doch möglich sein, Anschluss zu finden!


    Die Not brachte mich dazu, auch andere Wege auszuprobieren. Zu betteln und zu stehlen erwiesen sich allerdings als wenig lukrativ, ungeachtet des Reichtums von Naridien. Man sah mir meine Not schon von weitem an und wachte skeptisch über sein Hab und Gut. Da ich kein erfahrener Dieb war, blieben meine Versuche erfolglos. Da ich vermutete, dass mein Gesicht zur erhöhten Vorischt beitrug, verhüllte ich es schließlich mit einem Schal, doch das machte mich nur noch verdächtiger.


    Man sagt, Kleider machen Leute. Und meine Lumpen logen nicht.

  • Das Fest


    Nachts streifte ich in endlosen Wanderungen durch die Straßen von Vellingrad, um nicht zu erfrieren. Wenn die Sonne aufging und ein wenig Wärme durch meine Kleider kroch, rollte ich mich vor Hauseingängen oder am Brunnen zusammen. Zitternd schloss ich die Augen, doch an Schlaf war kaum zu denken. Immer wieder wachte ich vor Kälte auf oder weil mich der Lärm des Tagesgeschehens weckte. Und leider, das muss ich sagen, herrschte unter diesen wohlhabenden Leuten ein zermürbendes Desinteresse für meine Situation. Der Tag war trotz seines Lärms die einzige Zeit, in der das Schlafen sinnvoll war. Nachts einzuschlafen, hätte bei dieser Kälte meinen Tod bedeutet, zumal noch weiteres Gesindel auf den Straßen unterwegs war, dem ich in der Dunkelheit lieber auswich. Es gab auch andere, die heimatlos herumstreiften.


    In den Tagen kurz nach meiner glücklosen Ankunft fand in Vellingrad ein Stadtfest statt. Ich wusste nicht, dass der Tag des Kaisho-Abkommens sich jährte, bei dem die Handelsallianz gegründet wurde. Nichts hätte mir gleichgültiger sein können. Auf der Suche nach etwas Essbarem folgte ich dem Gedränge bis auf den Marktplatz, wo süße Gerüche von Backwaren meine Nase kitzelten. Sehnsüchtig betrachtete ich die Stände der fahrenden Händler, witterte die Kuchen und Kekse, die gebrannten Mandeln, das kandierte Obst und den Ochsen, der über dem Feuer briet. Vergebens versuchte ich, etwas davon zu ergaunern. Mit meinem schäbigen Aussehen sah man mir meine diebische Absicht schon von weitem an und behielt mich genau im Auge. Es war hoffnungslos.


    In einer Geste der Verzweiflung legte ich den Kopf in den Nacken und blickte hinauf in den nächtlichen Himmel. Was immer ich erwartet hatte zu sehen - das nicht! Vor Erstaunen weiteten sich meine Augen.


    Hoch über meinem Kopf balancierte ein Seiltänzer zwischen den Dächern. Bedächtig setzte er einen Schritt nach dem anderen. Sein Gehilfe ging derweil herum und hielt den Leuten eine Kappe hin. Da ich nichts hatte, winkte ich ab, außerdem wollte ich zusehen und nicht abgelenkt werden. Mit einem Mal sprang der Seiltänzer mit beiden Füßen gleichzeitig in die Luft. Ich hielt ich den Atem an, er drehte sich im Sprung um seine eigene Achse und landete sicher wieder auf den Füßen. Das Seil wippte, doch er stürzte nicht. Nun ging er in die andere Richtung. Für dieses Kunststück warfen sie Münzen in die Kappe. Für dieses Geld riskierte er sein Leben, das war jedem hier klar. Dafür applaudierte man ihm. Falls er stürzte, würde er sich alle Knochen brechen und nie wieder aufstehen. Bezahlten sie ihn aus Mitleid oder aus Bewunderung für seine Todesverachtung? So oder so sorgten sie dafür, dass er das nächste Mal erneut auf sein Seil steigen würde. Ich begann zu erahnen, wie die Gesellschaft der Menschen funktionierte.


    Nachdenklich ging ich weiter, folgte dem Klang der Trommeln und Instrumente, die wie fremdartige Flöten klangen und von denen ich später erfuhr, dass sie Schalmeien hießen. Es war das erste Mal, dass ich Menschenmusik hörte. Schnell und fröhlich klang sie in meinen Ohren, leicht wie Vogelgesang. In Shakorz gab es kaum etwas anderes als Kriegs- und Spottgesänge.


    Plötztlich erwuchs ein Licht in der Nacht, gleißend stieg es über die Mützen und Hüte hinauf in den Himmel. Für einen Moment erhellte sich der Markt und die Farben der Gewänder leuchteten so klar wie am hellichten Tag. Ein Feuerball hing über uns allen am Himmel, tauchte das Fest in sein herrliches Licht, um mit einem Schlag wieder zu vergehen. Es blieb nichts als Rauch und der Geruch von verbranntem Öl zurück. Der Feuerspucker verneigte sich, die Menschen applaudierten. Münzen prasselten immer wieder in einen bereitstehenden Krug. Danach griff der Feuerspucker zu brennenden Fackeln und jonglierte damit. Sein trotz der Kälte nackter Oberkörper war übersät von Brandnarben, doch er wirkte nicht, als würde ihn das kümmern. So erlangte er meinen Respekt, weil er weder Kälte noch Schmerz fürchtete.


    Seine Darbietung brachte mich auf eine Idee, denn ich konnte auch jonglieren. War dies eine Gelegenheit, mein Schicksal zu wenden? Wer etwas Besonderes konnte, der vermochte es hier in Vellingrad zu klingender Münze zu machen. Vielleicht würde das auch mir gelingen.


    Ich suchte mir eine freie Ecke, wo ich meine nassen Fußlappen auszog, sie zu vier tropfenden Bällen zusammenknotete und damit jonglierte. Es gelang mir auf Anhieb, denn das war mir oft ein lieber Zeitvertreib am Feuer gewesen. Vier klatschnasse Bälle wirbelten durch die Dunkelheit und versprühten dreckige Tröpfchen. Bei jedem Griff meiner Hände machten sie ein saugendes Geräusch wie ein nasser Schwamm. Die Menschen zogen vorbei, niemand würdigte meine Halbork-Kunst eines Blickes. Ehrlich gesagt, wäre ich bei solch einem Anblick auch weitergegangen, aber es hätte ja sein können, dass den Menschen das gefiel. Doch ich war noch nicht gewillt, aufzugeben.


    Ich dachte an den Seiltänzer und den Feuerspucker, die ihr Leben und ihre Gesundheit riskierten, um den Gästen des Marktes das Geld aus den Taschen zu locken. So etwas musste es sein, dann konnte man Erfolg haben. Nichts gewöhnliches, sondern etwas außergewöhnliches. Doch womit wollte ich aufwarten? Jagen und Kämpfen waren hier wohl kaum gern gesehen. Es musste sein, das Interesse weckte und zu mir passte. Etwas martialisches, orkisches.


    Ich legte die matschigen Bälle aus Fellstreifen beiseite. Barfuß war ich schon. Trotz der Kälte legte ich auch meine klatschnasse Oberbekleidung ab, um meinen grünen Oberkörer zu zeigen. Auch mein Gesicht machte ich wieder frei. Das lockte bereits die ersten versohlenen Blicke. Dann zog ich mein Jagdmesser, ein klobiges Ding, das andere Kulturen als Kurzschwert verbucht hätten.

  • Flammen und Klingen


    Ich trat ins Licht des jonglierenden Feuerspuckers und warf meine Waffe hoch über mich in die Luft. Entsetzte Blicke folgten dem Steilflug der schweren Klinge. Das Jagdmesser erreichte seinen Zenit, schien einen Moment zu schweben und sauste dann, die Klinge voran, in meine Richtung hinab. Ich trat einen Schritt zurück, streckte die Hand aus - entsetztes Keuchen meiner Zuschauer - und fing die Klinge zwischen Daumen und Zeigefinger. Allumfassende Erleichterung.


    Grinsend ließ ich das Messer um meine Finger wirbeln, bis man es kaum noch sah, wechselte die Hand. Dann das Ganze hinter meinem Rücken und wieder nach vorn, hinauf und hinunter. Dann ein erneuter Wurf, angespornt von der Aufmerksamkeit, noch höher als der Erste. Doch o Graus, das war zu viel Schwung gewesen. Das Jagdmesser flog und flog. Ich sah, dass ich das Messer im Fall diesmal nicht würde packen können, ohne meine Hand zu verlieren. Die Klinge wendete und sauste erneut auf mich hinab. Ich trat einen Schritt zur Seite, gerade im rechten Moment, und das Jagdmesser fuhr zwischen zwei Pflastersteinen in die Erde. Mit einem Schleifgeräusch versank es bis zum Heft darin. Stolz grinste ich mit meinen scharfen Zähnen in die Runde der Menschen.


    Ein großer Mann trat aus ihrer Reihe an mich heran. Er kam so nah, dass ich erschrak und niemanden sonst mehr beachtete. Würde er mich für meinen Leichtsinn vom Fest werfen? Oder für meine olivgrüne Haut? Auf seiner Brust trug er einen Wappenrock, unter dem sich seine muskulöse Brust bei jedem Atemzug hob und senkte. War das ein almanischer Ritter? Hier in Naridien?


    Er drückte mir eine Silbermünze in die dreckige Hand. "Du kannst erstaunlich gut mit dem Messer umgehen, Junge."


    In diesem Moment war dieser fremde Menschenmann mein Gott, so prächtig und gütig, wie er da vor mir stand, der Inbegriff eines edlen Ritters. Doch diese wenigen Worte waren alles, was er sagte, bevor er wieder verschwand, und die Münze alles, was mir von ihm blieb.


    Fort war er, der Mann, dem ich bis ans Ende der Welt folgen wollte. Natürlich war dieser Wunsch kindisch, ich kannte den Kerl ja nicht und er hätte sonstwas für ein Übeltäter sein können, aber ich war ja auch noch ein halbes Kind und der Fremde mein einziger Hoffnungsschimmer!


    Für den Rest der Nacht suchte ich ihn. Das Gleiche am nächsten Abend. Die ganze Zeit lief ich durch die dreckigsten Gassen und die wohlhabendsten Straßen, durch die Armenviertel des Seehafens und an den Villengärten vorbei. Jeden fragte ich nach dem Mann mit dem Wappenrock, doch niemand wusste, wer er war oder und niemand hatte ihn gesehen. Als ich wieder müde in einem Hauseingang zusammensank, fragte ich mich, ob er vielleicht nur ein Traum gewesen war, eins der Hungergespenster, die man sah, wenn man lange nichts gegessen hatte. Doch in meiner Tasche lag, glatt und kühl, die Silbermünze. Ich umschloss sie fest mit meiner Faust.

  • Ein schlechtes Geschäft


    Da ich den Fremden mit dem Wappenrock nicht finden konnte, schmiedete ich einen Plan. Er hatte sich für meine Messerkünste interessiert, also würde ich eine ganz besondere Darbietung wagen, um ihn erneut zu mir zu locken. Mit der Kupfermünze gelang es mir, einen Messerverkäufer davon zu überzeugen, mir einige seiner Klingen auszuleihen. Für den Kauf reichte das bisschen Geld natürlich nicht. Er mahnte mich, in Sichtweite zu bleiben und sein Lehrling passte genau auf, dass ich mit den Messern nicht durchbrannte. Aber mein Plan lautete anders.


    Langsam und mit viel Bedacht begann ich, mit den Messern zu jonglieren. Zunächst mit einer einzigen Klinge, dann mit zweien. Ich musste etwas üben, doch als ich die dritte Klinge hinzu nahm, sah das Ganze schon ziemlich eindrucksvoll aus. Nicht viele konnten das, und auch mein orkisches Erbe sorgte hier sicher für Interesse. Das war besonders, das war martialisch, das kam gut an. Der Lehrling klimperte mit dem Becher vor den Zuschauern und ich hörte, wie weitere Münzen ihren Weg hinein fanden.


    Doch der, für den ich diese Darbietung lieferte, zeigte sich nicht. Es wurde spät und wie das Licht im Osten über den Horizont kroch, leerte sich der Markt. Ich gab die Messer zurück.


    "Mein Geld hätte ich gern noch."


    Der Verkäufter zog fragend die Brauen hoch. "Dein Geld? Wovon sprichst du?"


    "Von dem Geld, das ich heute verdient habe."


    "Verdient. Interessante Formulierung. Offensichtlich gehst du von Einnahmen aus. Hast du denn ein Gewerbe angemeldet, um sie zu versteuern? Oder muss ich dich etwa für Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung anzeigen?" Ausdruckslos sah er mich an, doch seine Stimme klang wie das Knirschen eines Gletschers, als er sagte: "Überlege dir sehr gut, was du nun antwortest. Die Finanzkammer versteht keinen Spaß und nimmt Hinweise aus der Bevölkerung äußerst ernst."


    Ich wusste nicht, wovon er sprach. Wie auch, wenn ich bisher nur die orkische Gesellschaft kannte? Die funktionierte nach anderen Gesetzen als das komplizierte Leben in Naridien. Aber ich war noch nie auf den Mund gefallen, nicht einmal zu der Zeit, da meine geistige Welt sich auf Shakorz beschränkte. So fragte ich, in der Hoffnung, eine Lösung für das scheinbar bestehende Problem zu finden: "Ein Gewerbe? Was soll das denn sein? Von so einer Kammer habe ich auch noch nie etwas gehört. Ich habe nur das getan, was die anderen auch taten, der Seiltänzer und der Feuerspucker. Ich habe etwas vorgezeigt, was nicht viele Leute können, und dafür haben die Zuschauer ein paar Münzen locker gemacht."


    "Und deswegen glaubst du, hättest du automatisch gearbeitet und Geld verdient?"


    Ich zuckte mit den Schultern. "Irgendwie schon."


    Er seufzte und sah mir mit einem Blick in die Augen, in dem sich Mitleid und Verachtung mischten. "So funktioniert der freie Markt nicht, man kann nicht einfach irgendwo hingehen, etwas vorführen und dann der Meinung sein, das wäre ein rechtmäßiges Geldgeschäft. Ich sehe nicht, wieso dir jene Einnahmen zustehen sollten, die unter Anleitung meines Lehrlings und unter Zuhilfenahme meines Eigentums erzielt wurden. Aber da du uns bei der Werbekampagne geholfen hast, gebe ich dir natürlich ein Taschengeld für deine Mühen."


    Er gab mir ein kleines Häufchen von Kupfermünzen. Traurig sah ich es an. "Aber das ist nur ein Bruchteil, obwohl ich die meiste Arbeit hatte."


    Er lächelte. "Du kannst gern morgen wiederkommen und meinem Lehrling erneut helfen, meine Messer zu bewerben, nur verkneife dir in Zukunft die Behauptung, dass dieses Geld dir gehören würde! Dir gehört hier gar nichts ohne ein ordentlich angemeldetes Gewerbe. Wenn herauskommt, dass du versucht hast, am Staat vorbei Geld zu machen, würde man dich ruckzuck einsperren. Die Stadt verlangt für Steuerhinterziehung die hundertfache Leistung des hinterzogenen Betrags. Da du eine solche Summe kaum zahlen kannst, wenn ich dich so ansehe, würdest du öffentlich gehäutet werden."


    Darauf wusste ich nichts mehr zu erwidern. Ich kratzte das Häuflein Kupfermünzen zusammen und hoffte, dass sie für etwas zu Essen reichen würden. Da mischte sich unerwartet von hinten jemand ein:


    "Dann weißt du sicher auch, lieber Messerhändler, dass die Schaustellerei de jure eine Form von Betteln ist und dass Betteln mit Sicherheit keine Gewerbeanmeldung erfordert! Hast du dem Jungen auch gesagt, dass diese Kupfermünzen viel weniger wert sind als die Silbermünze, die er dir zur Miete für die Messer gab? Dass er folglich mit seiner Arbeit für dich sogar noch Verlust gemacht hat?"


    Ich drehte mich zu der Stimme um. Da stand der Mann mit dem Wappenrock.

  • Mehr als nur ein Fremder


    Ich folgte dem geheimnisvollen Mann durch den dichten Wald, der sich vor uns ausbreitete. Der Weg war von Bäumen gesäumt, die im sanften Wind raschelten und das Licht der aufgehenden Sonne nur in spärlichen Strahlen durchließen. Es schien fast so, als ob wir allein waren in dieser Wildnis. Der Geruch von frischem Moos und feuchter Erde erfüllte die Luft, als wir tiefer hinein in das Dickicht vordrangen. Ich hatte keine Ahnung, wohin unser Weg uns führte oder was mich hier erwarten würde.


    Der Fremde führte mich weiter und ich bemerkte schnell, dass er wusste wo er hinging. Er lief auf einem schmalen Pfad durch eine kleine Schlucht zwischen zwei Felsen hindurch und dann plötzlich standen wir vor einer alten Burgruine. Ihre Tore waren halb zerstört und Moos kroch die Mauern hinauf. Farn und Efeu wucherten aus allen Winkeln. Trotz ihres Alters sah die Burg noch immer majestätisch aus. Ich fragte mich, was für Menschen hier leben konnten.


    "Komm mit mir", sagte der Fremde. "Hier ist es besser als in Vellingrad."


    Wir gingen gemeinsam die vom Laub bedeckten Stufen zur Ruine hinauf und traten durch das zerstörte Tor. Dahinter kam ein steinerner Tunnel, der uns durch die gesamte Breite der Mauer führte. Wir betraten einen großen Innenhof voller Leben:

    Einige Menschen hatten sich in der Burg eingerichtet und es sah so aus, als würden sie hier leben. Es gab Tische und Bänke, sowie einige Kisten mit Vorräten. Die Männer saßen um ein Lagerfeuer herum. Einige Frauen bereiteten Frühstück zu, während weitere Männer ihre Waffen vorbereiteten oder etwas tranken. Dazwischen turnten Kinder unterschiedlichen Alters herum.


    "Ich bin deinem Ruf gefolgt", sagte ich zu dem Mann im Wappenrock, während ich versuchte, meine Verwirrung zu verbergen. "Aber wer seid ihr?"


    "Weißt du nicht?", lachte der Fremde.


    Mein Herz raste bei diesen Worten, da ich nicht wusste, was mich erwarten würde. Ich hatte Angst vor ihnen aber irgendwie auch Respekt, denn jeder Einzelne davon sah sehr erfahren aus. "Nein", sagte ich, "ich weiß es nicht."


    "Du wirst es vielleicht erfahren. Vielleicht aber auch nicht. Erst einmal heiße ich dich jedoch als unseren Gast willkommen", sprach der Fremde zu mir und deutete auf eine freie Stelle am Feuer. Seine Männer rückten ein Stück auseinander, um mir Platz zu machen. Trotzdem war ich mir nicht sicher, ob ich bleiben sollte oder fliehen. Doch wohin sollte ich schon gehen? So nahm ich meinen Mut zusammen und setzte mich dazu. Auch der Fremde setzte sich.


    "Hungrig?", fragte er.


    "Und wie."


    Der Mann mit dem Wappenrock gab mir eine Schüssel dicker Suppe und einen Kanten Brot. Gierig verzehrte ich beides und er schenkte mir noch zwei Mal nach, bis ich aus Höflichkeit die vierte Portion ablehnte, obwohl ich sie gut vertragen hätte.


    "Wie konntet ihr euch hier niederlassen? Was ist eure Geschichte?", fragte ich.


    Der Anführer lehnte sich zurück, bevor er antwortete: "Lass uns sagen ... wir haben unsere Methoden gefunden, um überleben zu können." Als ich ihn mit einer Frage unterbrechen wollte, hob er seine Handfläche, um sicherzustellen, dass ich verstand, wer die Autorität besaß. Sofort verstummte ich.


    "Was willst du nun tun?" fragte der Fremde mich dann mit einem ernsten Blick. "Du wirkst nervös. Ich kann dich gehen lassen wenn du möchtest."


    Aber das konnte ich nicht machen. Ich lauschte dem Knistern des Feuers und dachte an die Reise zurück zu meinem bisherigen Leben. Für den Moment gab es keine Möglichkeit wegzulaufen oder einer Antwort näherzukommen wer diese Räuber tatsächlich waren. Mein Kopf wurde schwer, die Erschöpfung der letzten Wochen und Monate lastete auf meinem Haupt.


    "Ich würde gern hier schlafen, wenn du es erlaubst."


    "Du bist mein Gast, natürlich darfst du dich ausruhen, was ist denn das für eine Frage? Na, komm, Junge. Reden wir weiter, wenn du die Augen besser offen halten kannst."


    Ich fand mich bald in einem improvisierten Bett wieder, das in einem der leerstehenden Gebäude stand. Der Fremde hatte mir versichert, dass ich sicher sei - doch konnte ich ihm wirklich vertrauen? Ich war mir nicht sicher. Als das Sonnenlicht durch das kaputte Fenster hereinströmte, bemerkte ich wie mein Körper sich langsam entspannte. Während die Menschen ihr Tagewerk begannen, fielen mir die Augen zu. Meine Gedanken kreisten noch eine Weile nervös, weil ich mich fragte, was noch alles auf mich zukommen würde, bis der Schlaf mich übermannte.

  • Die erste Prüfung


    Als die Sonne unterging, wachte ich auf. Ich hatte geschlafen wie ein Stein. Als ich auf dem Bett saß, lauschte ich auf die Geräusche. Für ein Räuberlager klangen sie friedlich, vielleicht kam der Eindruck daher, weil sie ihre Frauen und Kinder dabei hatten. Warum sie hier im Wald hausten, abseits der Städte und Dörfer, konnte ich mir nicht erklären. Langsam stand ich auf und schlenderte durch die verlassenen Hallen. Niemand hetzte mich und meine Schritte wurden auch nicht kontrolliert. Ich sah aus den Fenstern, blickte über den herbstlichen Wald. Im Abendrot leuchteten die Blätter rot und orange. Ich durfte mich frei auf der Burg bewegen und alles erkunden. Doch ich wollte es nicht übertreiben und so kehrte ich bald zur Feuerstelle zurück.


    Der Anführer war ein Mann mit wildem Bart und durchdringend blauen Augen. "Du bist also geblieben", sagte er. "Wärst du geflohen, hätte niemand dich aufgehalten. Aber du bist noch hier. Warum?"


    "Du warst freundlich zu mir. Und ich weiß nicht, wohin ich sonst gehen soll."


    "Heißt das, dass du Teil unserer ... Gruppe werden möchtest?", fragte er mit tiefer Stimme. Und ich nickte stumm. "Wir sind offen für neue Mitglieder - wenn sie etwas taugen", fuhr er fort. "Bevor wir dich aufnehmen, musst du beweisen, dass du das Zeug dazu hast. Und dass es dir ernst ist. Wir werden es dir nicht leicht machen."


    "Natürlich", antwortete ich. "Welche Aufgabe muss ich erfüllen?"


    Der Anführer schaute mich lange an und zogt dann einen Brief aus seiner Tasche. "Es sind drei. Heute kannst du bereits die Erste absolvieren. Dies ist ein wichtiger Brief. Er betrifft einen Händler in Vellingrad", erklärte er. "Er enthält wertvolle Informationen über seine Handelsrouten. Wir haben sie für ihn ausgekundschaftet und ihm auch den Posten einer Bande von Unruhestiftern verraten." Mein Herz begann schneller zu schlagen als ich hörte was, nun kam: "Deine Aufgabe ist es, ihm diesen Brief zu bringen, ohne dabei erwischt zu werden. Hast du dazu noch fragen?"


    "Ich werde diese Mission erfolgreich absolvieren", antortete ich fest.


    Die Nacht senkte sich langsam um uns herum, während er mir noch ein paar Tipps gab, wie ich vorgehen sollte. Schließlich machte ich mich in der Dunkelheit des Abends hinaus auf den Weg zur Stadt; die Schatten meiner Umgebung schienen lebendig geworden zu sein. Als ich die Lichter der Stadt erreichte, begann mein Herz schneller zu schlagen, doch mein Ziel zwang mich weiterzugehen - unbemerkt und unsichtbar. Meine Augen waren besser als die der Menschen, was mir zugute kam.


    Während ich das Armenviertel durchquerte, umging ich die Nachtwächter und zwielichtige Gruppen, die in den Eingängen lauerten. Ich hörte die schweren Atemzüge eines Betrunkenen und roch seinen üblen Atem. Die Nacht war kalt, aber die Bewegung und meine Anspannung hielt mich warm.


    Ich erreichte den Laden des Händlers schließlich, ohne von jemandem gesehen worden zu sein. Es war kein großes Geschäft, sondern ein schäbiger kleiner Krämer, der allerlei verbotene Dinge unter seine Waren mischte. Die Beihilfe zum Schmuggel war also ein Teil dessen, womit die Bewohner der Burg ihren Lebensunterhalt verdienten. Wenn ich mich ihnen anschloss, wurde ich Mitglied einer Bande von Kriminellen.


    Plötzlich traten zwei Wächter an mich heran. Bevor sie etwas sagen konnten, hatte ich mein Jagdmesser gezogen.


    "Holla", sagte einer mit bösem Grinsen. "Ein kleiner Draufgänger."


    "Ich habe kein Interesse an Ärger", knurrte ich, während meine Finger sich fest um den Griff schlossen. "Lasst mich in Ruhe, dann sehen wir alle morgen die Sonne aufgehen."


    "Du kannst nicht einfach hier eindringen", sagte der andere.


    "Aber Sie haben auch kein Recht auf Missachtung meiner Person", erwiederte ich entschlossen.


    Über diese sperrige Formulierung mussten die beiden lachen. Es stellte sich heraus, dass sie für den Händler arbeiteten und mich nur ein wenig ärgern wollten, um meine Reaktion zu prüfen.


    "Du hast deine Sache gut gemacht. Nimm den Lohn für deinen Anführer und ab mit dir."

    Wir gingen friedlich auseinander und ich machte mich auf den Heimweg, den Kopf voller Gedanken.

  • Die zweite Prüfung


    Am Lagerfeuer genoss ich die nächste Mahlzeit. Die Frau eines Räubers hatte sich entschuldigt, weil es so karg wäre, aber für mich war der sogenannte "Waldeintopf" ein Festmahl.


    Die Basis bildete der Wildgulasch vom Vortag, der mit Steinpilzen und Pfifferlingen aufgekocht worden war. Eine ordentliche Menge Zwiebeln sorgte für eine aromatische Würze. In der herrlichen Brühe trieben die grünen Blätter von Knoblauchsrauke, Vogelmiere und Wildem Kerbel. Für die Sättigung waren außerdem gekochten Topinambur-Knollen hineingeschnippelt worden. Dazu reichte man mir geröstetes Brot. Wenn sie das als karg bezeichneten, aßen sie vermutlich stets sehr üppig.


    Beim Essen betrachte ich den Anführer der Räuberbande, während wir uns über unsere Erlebnisse des Tages unterhalten. Er hatte ein hartes Gesicht mit tiefen Falten, die von Jahren harter Arbeit im Freien zeugten. Ihm gefiel, dass ich mich der vermeintlichen Ergreifung mit dem Messer entgegengestellt hatte, anstatt aufzugeben und meinen Auftrag und die Räuber zu verraten.


    "Also", sagte er schließlich und legte seine Hand auf mein Knie. "Die erste Aufgabe hat dich offenbar nicht abgeschreckt. Du möchtest also tatsächlich einer von uns werden? Auch, wenn das heißt, den Pfad der Rechtschaffenheit zu verlassen?"


    Ich nicke bestimmt. "Ja, das möchte ich." Es gab keine Zweifel, denn es gab keine Alternative. Und was scherten mich die naridischen Gesetze? Ob ich sie brach oder nicht, war mir gleichgültig, denn ich war kein Naridier. Dem Mann im Wappenrock, dessen Name ich noch immer nicht kannte, war der einzige, der mir in der Not geholfen hatte. Ihm wollte ich treu sein, ihm meine Zukunft anvertrauen, denn ich vertraute ihm schon jetzt. Mein Schicksal sollte in seinen rauen, schmutzigen Händen liegen, von denen eine nun väterlich auf meinem Knie ruhte.


    Er lehnte sich zurück und musterte mich gründlich. Ich hielt seinem Blick stand. "Gut", sagt er schließlich langsam. "Aber bevor du ein vollständiges Mitglied unserer Bande wirst, musst du zwei weitere Prüfungen absolvieren. Sie werden nicht leichter."


    "Ich bin bereit", sagte ich schnell und versuchte meine Nervosität zu verbergen.


    Er nickte zufrieden. "Die nächste Prüfung wird morgen früh beginnen."


    "Und wie lautet sie?", fragte ich neugierig.


    Seine Mundwinkel zogen sich leicht nach oben zu einem spöttischen Grinsen."Das werde ich dir noch nicht sagen. Nur so viel: Ein weiterer Anwärter wird teilnehmen."


    Ich schluckte schwer bei diesem Gedanken an das Unbekannte meiner Herausforderung.


    Am nächsten Morgen traf ich mich mit dem anderen Anwärter morgens am Eingang zum Waldgebiet, welches von den Räubern bewohnt wurde. Der andere Anwärter war, um es genau zu sagen, eine junge Frau, etwas älter als ich, aber genau so abgekämpft aussehend und mit einem bissigen Ausdruck um ihren breiten Mund.


    "Ihr müsst einen Ort finden", erklärte uns der Mann im Wappenrock. "Hört aufmerksam zu:


    Ein Baum, dessen Namen man ungern nennt,

    der in keines Gelehrten Naturbüchern steht,

    Wachet über den Weg, den man einmal nur geht,

    ein Baum, den keiner liebt und den doch jeder kennt."


    Er blickte ernst von einem zum anderen. "Der Baum liegt in Richtung Westen. Ich wünsche euch viel Erfolg."


    Ich spurtete los, Arvida ebenfalls. Die Straße, die zur Burg hinaufführte, liefen wir nebeneinander hinab. Ich spürte meine Nervosität steigen. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete, aber ich ahnte, dass es einen Haken an der Suche nach dem geheimnisvollen Baum geben würde. Bevor wir de große Straße erreichten, die am Fuß des Berges entlang verlief, bogen wir in den Wald ab, um dem kürzesten Weg nach Westen zu folgen.


    Plötzlich schlug Arvida einen Haken. Als sie vor mir im Dickicht verschwand, hörte ich sie noch rufen: "Viel Spaß beim Verlieren, Grünspan!" Dann war sie fort.


    Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte geglaubt, wir würden uns gegenseitig helfen. Ich gab mir keine Mühe, ihre Spur zu finden und suchte mir meinem eigenen Weg durch das Unterholz, an uralten Bäumen vorbei. Dabei hielt ich Ausschau nach einem abgestorbenen Baum, der markant genug aussah, um das Ziel dieser Prüfung zu sein. Die Geräusche um mich herum schienen nur aus dem Rascheln von Blättern unter meinen Füßen und aus meinem eigenem Atem zu bestehen. Welchen Weg ging man nur einmal? Vielleicht den Weg zur Kaserne, weil man als Soldat schließlich dort wohnen musste? Die lag an der großen Handelsstraße. In dieser Richtung hatte ich für die erste Prüfung gemusst und als der Anführer mich zur Burgruine geführt hatte, waren wir ebenfalls von dort gekommen. Also hielt ich mich in dieser Richtung.


    Da ich kein festes Schuhwerk trug, sondern Fußlappen, mied ich Geröll und Ansammlungen von abgebrochenen Bäumen und Ästen. Stattdessen hielt mich auf moosigem Untergrund oder festem Gestein. Eine Ewigkeit später erreichte ich schließlich einen dunklen Teil des Waldes, wo alles still war. Hohe Tannen standen hier mit geraden, säulenartigen Stämmen dicht an dicht. Darunter war es finster. Die Stille hatte etwas Magisches.


    Ich lief etwa zwei Stunden in Richtung Stadt. Sie lag im Westen und es gab hier eine Straße, über die ein Baum wachen konnte. Doch keiner schien mir markant genug, um des Rätsels Lösung zu sein. Erst, als ich den Galgenberg erreichte, verstand ich. Mit einem mulmigen Gefühl blickte ich das Blutgerüst hinauf.


    Ein Baum, dessen Namen man ungern nennt,

    der in keines Gelehrten Naturbüchern steht,

    Wachet über den Weg, den man einmal nur geht,

    ein Baum, den keiner liebt und den doch jeder kennt.


    Der Galgenbaum hob sich drohend gegen den grauen Himmel ab. Ich hatte das Rätsel gelöst. Aber war es wirklich nur ein Rätsel oder nicht vielmehr eine Warnung?


    Ja ... ein deutlicher Hinweis darauf, welches Risiko ich eingehen würde, wenn ich mich den Bewohnern der Ruine anschloss. Sie waren nicht nur kleine Schmuggler, sondern steckten bis über beide Ohren im Sumpf des Verbrechens, was sie den Hals kosten würde, wenn man sie jemals fasste. Und auch mich, wenn ich bei meiner Entscheidung blieb. Und natürlich würde ich das, daran gab es keinen Zweifel. Das Risiko war seit jeher Teil meines Lebens. Ich war in einer Gesellschaft aufgewachsen, die das Spiel mit dem Risiko regelrecht zelebrierte. Böse grinste ich dem Galgen entgegen.


    Plötzlich bemerke ich etwas ... Ein Knistern - ein Rauschen- oder waren es Schrittgeräusche? Ich roch Arvida. Sie war mir heimlich gefolgt. Bevor ich mich umdrehen konnte, stülpte mir jemand von hinten einen Sack über den Kopf. Ein paar Handgriffe später sackte ich bewusstlos zusammen.


    Als ich wieder erwachte, befand ich mich wieder am Lagerfeuer in der Ruine, umgeben von den Mitgliedern der Bande. Mein Kopf schmerzte abgründig. Arvida grinste triumphierend in die Runde.


    "Das war nicht so gut gelaufen", meinte der Anführer und sah mich ernst an. Bevor ich protestieren konnte, hob er die Hand. "Ich will keine Ausreden hören", fuhr er fort. "Für mich zählt nur das Ergebnis. Im Ernstfall hätte es dich das Leben gekostet, und wenn du vorher unter Folter alles ausgeplaudert hättest, auch das von uns allen. Dafür gibt es keine Entschuldigung. Jeder von euch beiden hat in diesem Moment eine bestandene Aufgabe vorzuweisen und eine, in der er versagt hat. Es steht unentschieden und eure Zukunft auf Messers Schneide. Die dritte und letzte Aufgabe wird es sein, die über euer weiteres Schicksal entscheidet. Ruht euch aus. Morgen zu Sonnenaufgang geht es los."


    Ich biss die Zähne zusammen, wütend über Arvidas Art und Weise, aber entschlossen, mich nicht von ihr besiegen zu lassen. Das hier war kein Wettbewerb, für mich ging es um nichts Geringeres als mein Überleben. Ich wollte hier bleiben und leben, ich wollte hier wohnen und Teil der Gemeinschaft werden. Worum es für Arvida ging, wusste ich nicht, aber sie wirkte weniger heruntergekommen als ich. Sie stand gut im Futter und war eine skrupellose Rivalin.


    Beim Abendbrot aß ich so viel, wie ich konnte. Als ich mich in das Bett legte, war mein Bauch so prall, dass ich mich auf die Seite legen musste, und tat entsetzlich weh. Ob das kurz vor der letzten Prüfung klug war, wusste ich nicht, aber es war womöglich meine letzte Mahlzeit, bevor man mich wieder auf die Straße setzte, sollte ich versagen.

  • Die dritte Prüfung


    Ich stand vor der Tür des Anführers, bereit für die letzte Prüfung. Der kalte Wind peitschte meine Kleidung gegen meinen Körper. Als ich eintrat, wartete Arvida bereits auf mich. "Ah, du bist endlich da", sagte sie mit einem spöttischen Grinsen auf dem Gesicht.


    "Dein Grinsen wird dir noch vergehen", sagte ich eisig. Sie war gut und hinterhältig, doch diesmal würde ich vorsichtiger sein.


    Der Anführer trat aus dem Schatten in das Licht einer Kerze. "Ihr beide seid hier, um eure letzte Prüfung anzutreten", sagte er und reichte uns jeweils einen Gegenstand: Arvida bekam eine Karte und ich einen Kompass. "Eure Aufgabe ist es, den Turm zu finden, der auf der Karte eingezeichnet ist. In früheren Tagen wurde er als Maut- und Zollstelle genutzt, ebenso zur Kontrolle der Einfuhr von Edelpelzen und Torfkohle. Wenn ihr den Turm erreicht habt," fuhr er fort, "werde ich entscheiden ob einer von euch Mitglied unserer Bande werden darf."


    Nur einer, hatte ich das richtig verstanden? Arvida schaute herausfordernd zu mir hinüber. Trotzig erwiderte ich ihren Blick. Wir verließen die Burg gemeinsam und begannen unsere Reise durch den dunklen Wald.


    Dass wir zusammenarbeiten sollten, war offenkundig. Das verrieten uns die Geräte. Anfangs versuchten wir, gemeinsam Lösungen zu finden - aber natürlich hatte jeder seine eigenen Vorstellungen davon, was der beste Pfad wäre. Immer wieder diskutierten wir darüber und zankten uns fast die Köpfe ab. Schließlich gingen wir schweigend weiter, bis Arvida stehen blieb und auf die Gesteinsformation starrte, die uns den Weg versperrte.


    "Diese Felsen sollten dort eigentlich nicht sein", murmelte sie. "Gib mir den Kompass, ich muss was kontrollieren", forderte sie schließlich. "Ich glaube, wir gehen in die falsche Richtung."


    "Nur, wenn wir dabei gemeinsam in die Karte schauen", antwortete ich stur.


    Sie ballte die Fäuste. "Damit du mich anschließend in die nächste Schlucht stößt? Vergiss es!"


    Wir sprachen für die weitere Strecke kein Wort miteinander. Da sie die Karte besaß, war sie im Vorteil und das wusste sie genau. Das war auch der Grund, warum ich mich an ihre Fersen heftete, denn ansonsten hätte ich keinen Anhaltspunkt, wo der Turm liegen könnte. So wenig, wie sie mich in die Karte sehen ließ, gewährte ich ihr einen Blick auf den Kompass.

    Als wir nach vielen Stunden endlich den Turm in der Ferne sahen, glaubte ich wirklich daran, dass wir trotz aller Streitigkeiten zusammen gewonnen hatten; ebenbürtige Konkurrenten über alle Grenzen hinweg verbunden … aber Arvida wand sich plötzlich zu mir herum. Sie sagte: "Danke", riss mir den Kompass aus der Hand und rannte davon.


    "Stehenbleiben", brüllte ich, doch sie rannte einfach weiter.


    Wenn ich sie jetzt laufen ließ, würde sie Mitglied der Räuberbande werden und ich den Winter als einsamer Vagabund verbringen, der langsam verhungerte und erfror. Dass ich Spuren lesen konnte, erwies sich als Vorteil, und Arvida hinterließ auf ihrer Flucht sehr deutliche Spuren. Auch wenn ich sie aus den Augen verloren hatte, gelang es ihr nicht, mich abzuschütteln. Ich ließ ihr bewusst einen Vorsprung, um sie in Sicherheit zu wiegen. Der Turm war noch weit genug entfernt, ein oder zwei Stunden trennten uns noch von unserem Ziel. Als ich an ihren Spuren sah, dass sie ihr Tempo verlangsamt hatte, fiel auch ich in ein langsames Gehen. Auf meinen weichen Fußlappen konnte ich mich lautlos bewegen, während ihr schweres Schuhwerk bald für mich zu hören war. Als sie in Sichtweite kam, wurde ich ganz Jäger. Ich überholte sie seitlich und stieß dann erneut auf den Pfad.


    "Buh", sagte ich und trat böse grinsend in ihr Blickfeld. "Kompass und Karte, aber dalli."


    "Vergiss es", kreischte sie und ihr Kopf wurde Rot vor Zorn. Sie trat die Flucht nach hinten an und rannte schwer keuchend den Pfad zurück. Das Manöver war leicht zu durchschauen. Sie würde bei der nächsten Gelegenheit einen Abzweig nehmen und durch die Wildnis auf den Turm zuhalten. Entsprechend leicht war ihre Fluchtroute für mich zu berechnen. Was Ausdauer betraf, war ich im Vorteil. Sie pfiff aus dem letzten Loch und ich hatte noch zahlreiche Reserven. Ich rannte erneut einen Bogen und fing sie ein zweites Mal ab.


    Ich hielt ihr die offene Hand entgegen. "Kompass und Karte, ich sage das kein drittes Mal."


    Da hob sie einen faustgroßen Stein und schleuderte ihn in meine Richtung. Er traf mich genau zwischen die Augen. Ich plumpste mit dem Hintern auf den Waldboden, wo ich benommen sitzen blieb, um mein Bewusstsein ringend. Der Wurf war nicht von schlechten Eltern gewesen. Nun aber nahm sie einen zweiten, viel größeren Stein, den sie mit beiden Händen anheben musste. Sie hob ihn hoch über den Kopf und kam mit grimmigem Blick auf mich zu.


    "Du wirst nicht länger zwischen mir und meinen Träumen stehen, Ork", posaunte sie.


    Ich kam wieder auf die Beine, wankend, aber entschlossen. "Du vergisst, wen du vor dir hast, obwohl du es gerade selbst ausgesprochen hast", grollte ich. "Ich habe schon etliche Duelle überlebt, sonst stünde ich jetzt nicht vor dir. Und glaub mir, meine Gegner waren ganz andere Burschen als ein kleines Mädchen wie du."


    Das war zur Hälfte geflunkert, denn ein wirkliches Duell auf Leben und Tod war in meiner Rotte etwas, das selten vorkam. Orks waren keine Idioten, die sich wegen jedem Kleinkram umbrachten. Falls Rotten das taten, würden sie aufgrund von Kriegermangel in der Bedeutungslosigkeit versinken oder aufgerieben werden.


    Ich legte die Hand um den Griff meines Jagdmessers. "Tu nichts, was du gleich bereuen würdest."


    Sie heulte wütend auf. "Du hast ja keine Ahnung, du weißt nicht, was Liebe ist!"


    "Nein", sagte ich ehrlich. "Und es ist mir auch egal. Jetzt her mit den Gegenständen, dann lasse ich dich vielleicht am Leben."


    "Du verdienst es nicht, seine Aufmerksamkeit zu haben! Wer bist du schon, WAS bist du schon?! Du bist ein wertloses nichts, ein hässliches Geschöpf, von denen er aufgrund seines guten Herzens schon zu viele durchfüttert!"


    Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen - sie liebte den Anführer. Der aber hatte sich zumindest seit der Zeit, da ich in der Ruine wohnte, viel mehr mir gewidmet als ihr.


    "Dann werde eben sein Weib", knurrte ich, "putze seine Stiefel und wasche seine Unterhosen. Ich aber werde sein Kampfgefährte!"


    Diese Worte waren zu viel, sie schleuderte den großen Stein in Richtung meines Kopfes. Polternd krachte er gegen einen Baum, dessen Rinde absplitterte. Wäre das mein Schädel gewesen, wäre ich tot. Das war ein Mordanschlag. Nun gab es für mich kein Zögern mehr. Ich ging auf sie los und eine wüste Schlägerei entstand. Was Kraft und Geschick anging, war ich ihr weit überlegen. Mit dem Knauf meines Jagdmessers, das ihre Schläfe traf, setzte ich ihrer Gegenwehr schließlich ein Ende. Schlaff sackte sie zusammen.


    Ich stieg über sie, kniete auf ihrer Brust und packte ihren Kragen, das Jagdmesser noch immer in der Hand. "Wie wäre es, wenn ich dir die Kehle aufschneide, hm? Wenn ich mich so aufführe wie du, du mieses Stück? Aber ich mache mir an dir nicht die Hände schmutzig." Ich wickelte mir die unsagbar dreckigen Fußlappen ab und fesselte ihr damit die Hände hinter den Rücken. "Hoch jetzt!"


    Wankend stand sie auf. Ich nahm ihr Kompass und Karte ab, betrachtete mir den Weg, der mir einen wunderbaren Pfad offenbarte. Zufrieden packte ich beides weg. Ich trieb Arvida mit dem Jagdmesser vor mir her, bis wir gemeinsam den Turm erreichten.


    Da sprang eine Truppe von Männern aus ihrem Versteck und umzingelte uns. Der Anführer trat hervor. Arvida stieß einen verzweifelten Schrei aus. "Hilfe", rief sie. "Der Ork will mich umbringen! Er hat mir Karte und Kompass geklaut!"


    Er schaute mich an. Ich spürte, wir mir das Blut von der Stirn die Nase hinablief.


    "Einer von euch hat die Prüfung nicht bestanden", sagte er langsam. "Ich habe eine ernste Anschuldigung vernommen. Arvida wurde gefesselt und hierher getrieben wie eine Gefangene. Doch sie wurde weder getötet noch den wilden Tieren zum Fraß im Wald zurückgelassen."


    Er legte mir die Hand auf die Schulter und lächelte. "Willkommen in unserer Räuberbande."


    "Nein", schrie sie verzweifelt.


    Räuber waren sie also. Und ich war nun einer von ihnen. Ich grinste vor Glück, doch dann riss ich mich zusammen. Wir waren hier noch nicht fertig.


    "Wenn du ein Wort erlaubst", sagte ich, "Arvida hat mich durch ihren Verrat zum Kampf gezwungen. Doch sie hätte mich fast besiegt. Vielleicht sollte sie ebenfalls Mitglied der Bande werden. Für ihre entschlossene Skrupellosigkeit hat sie meinen Respekt verdient. Und ist es nicht das, was einen guten Räuber ausmacht?"


    "Nein, Junge. Das ist es nicht. Du behandelst deine besiegten Gegner ehrenvoll, was mir gefällt, aber Großmut ist hier nicht angemessen. Verräter und Egoisten gibt es da draußen schon genug. Sie sind der Grund, warum wir in dieser Waldruine hausen. Du hast die Prüfung in jeder Hinsicht bestanden. Und was Arvida betrifft", er sah sie unbarmherzig an, "so werden wir sie laufen lassen. Doch lass dir nicht einfallen, irgendetwas zu tun, was uns zum Schaden gereicht, oder du wirst es bitter bereuen. Hättet ihr zusammengearbeitet, hätten wir euch beide aufgenommen, denn diese Prüfungen waren eine Prüfung eures Charakters."


    Arvida ging auf die Knie. "Bitte, ich flehe dich an! Ich werde dich nie wieder enttäuschen!" Aber es war zu spät. Sie hatte das Vertrauen des Anführers der Räuber verwirkt.

  • Feierliche Aufnahme


    Meine Aufnahme in die Reihen der Räuber wurde mit einem Fest besiegelt. Die bislang zurückhaltenden Räuber begrüßten mich herzlich. Es schien niemanden zu stören, dass ich ein Halbork war. Obwohl ich dreckig war und wie ein wandelnder Misthaufen stank, umarmten sie mich. Während ich in einer Zinwanne mit heißem Wasser lag, reichten sie mir den heißen Würzwein, von dem ich Arvida vorgeschwärmt hatte, und ich trank ohne Hemmungen alles, was sie mir gaben, denn ich war glücklich. Ein älterer Mann wusch mir den verfilzten und verlausten Kopf mit einer selbstgemachten Seife.


    "Ich fürchte, deine Haare können wir nicht retten, sie sind ein einziger Knoten."


    "Könnte daran liegen, dass sie seit einem halben Jahr weder Kamm noch Seife gesehen haben. Sie wachsen nach, also runter damit. Ich bin froh, diese juckende Filzplatte los zu sein."


    "Filzplatte, hm-hm. Da sagst du was." Mit einem Rasiermesser schor er mit den Kopf, bis ich eine Glatze hatte. Dann legte er mir den Kopf in den Nacken und rasierte ganz vorsichtig meinen spärlichen Jünglings-Bart. Nachdem ich mich in der heißen Seifenlauge gewärmt und gewaschen hatte, goss er mir klares Quellwasser über Kopf und Körper. Ich trocknete mich ab und nun wurde ich von jemandem verarztet, der scheinbar Erfahrungen als Heiler besaß, obwohl ihm selbst mehrere Finger fehlten. Er kümmerte sich um meine fürchterlichen Füße, denen er die eingewachsenen und entzündeten Klauennägel komplett herunterstutzte und glatt feilte, bis meine Zehen aussahen wie die eines Menschen. Für die Entzündungen machte er mir Wickel aus den Blättern wohltuender Kräuter und Weidenrinde. Darüber durfte ich trockene Schuhe ziehen.


    "Passen die?", fragte er und auch der Alte sah neugierig zu.


    "Ich hatte noch nie Schuhe, aber ich glaube, sie passen sehr gut." Vor allem waren sie trocken und frei von üblem Gestank. Ich liebte sie und falls ich sie behalten durfte, würde ich sie mir für gut aufsparen und nicht draußen im Herbstmatsch tragen.


    "Noch nie Schuhe", wiederholte der Heiler traurig. "Na, jetzt bist du ja in guter Gesellschaft, was? Von jetzt an wird alles anders."


    Ich erhielt auch neue Kleider, während die Frauen sich darum mühten, meine orkische Pelzkleidung zu reinigen und gegen das darin hausende Getier zu behandeln. Die Kleidung der Räuber, die sie mir gaben, wirkte auf mich vertraut, denn vieles bestand aus den Fellen von selbst erjagtem Wild. Bald war ich so sauber und gepflegt wie lange nicht mehr.


    Als wir ums Feuer saßen und Musik erklang, war ich von dem heißen Würzwein noch immer ziemlich betrunken. Für mich war das ein neues Gefühl, doch es war angenehm, weil ich mich leicht, frei und glücklich fühlte.


    "Verrätst du mir nun, wer ihr seid?", fragte ich den Mann im Wappenrock, der die Räuber anführte.


    "Ja, denn du hast dir mit Abschluss der drei Prüfungen mein Vertrauen verdient. Mein Name ist Dolwin", erklärte er mir. "Dolwin, Sohn des Dolgrim von Niederau." Mit Nennung des zweiten Namens wies er auf den alten Mann, der mich geschoren hatte. Nun erkannte ich die Ähnlichkeit zwischen den beiden. "Und wer bist du?"


    "Ich heiße Serak."


    "Ein ziemlich kurzer Name."


    "Mein Name war einst Serak von den Skunks, Sohn der Skugga. Doch ich habe die Rotte verlassen und will von meiner Mutter nichts mehr wissen, deswegen nenne ich mich nur noch Serak."


    Und ich erzählte ihm von den Gräueln, die ich erlebt hatte, von meinem verfluchten Dasein als Halbork, und dass ich in meiner Rotte keinen Wert besaß. Mit Erstaunen stellte Dolwin fest, dass ich dabei keinerlei Emotionen zeigte. Die Worte flossen über meine Lippen, als würde ich die Geschichte eines anderen erzählen. Schwäche zu zeigen half nicht unter Orks, es machte die Situation nur schlimmer, und so hatte ich gelernt, völlig neutral zu wirken. Einer der Räuber glaubte mir deswegen nicht, dass die Zustände für mich wirklich so fatal gewesen waren, wie geschildert, doch Dolwin verstand, warum ich so war, wie ich eben war. Ich erzählte von den Demütigungen, die ich durchstehen musste, den Beschimpfungen und der Gewalt - von all den Dingen, vor denen ich in die Wildnis geflohnen war, ohne jeden Plan und ohne Perspektive, doch mit dem Wissen, dass ich niemals wieder zu den Bruthöhlen zurück wollte.


    "Das hört sich an, als gäbe es für Mischlinge dort keinen Platz", fasste Dolwin zusammen.


    "Doch - am untersten Ende der Rangleiter, ohne Aussicht, sich jemals den Respekt von Vollblutorks zu verdienen. Ich weiß nicht, wie ein Mensch das sieht, aber für mich kommt es nicht infrage, ein solches Leben zu akzeptieren. Lieber hätte ich in diesem Winter den Tod gefunden."


    "Derbe Worte für einen so jungen Burschen. Den Tod zu akzeptieren, sollte in diesem jungen Alter eigentlich noch keine Option sein."


    "Es ist aber so und Zartheit bringt einen nicht weiter. Ich hatte einen Leidensgenossen namens Katax der Träumer, der ... aber lassen wir das." Ich lächelte, was scheinbar fehl am Platz wirkte, wie ich der hochgezogenen Braue Dolwins entnahm. Das Lächeln war in der Tat falsch, eine Maske kühler Gleichgültigkeit, während mir die Erinnerung daran, wie ich den sensiblen Katax in diesem Dreckloch zurückließ, das Herz zusammen zog. Es war besser, den Gedanken nicht weiter zu vertiefen.


    Dolwin knuffte meinen Oberarm. "Erfüllst du mir einen Wunsch?"


    "Du hast mich als deinen Gast aufgenommen und warst für mich da. Du bietest mir ein zu Hause. Natürlich erfülle ich dir einen Wunsch. Sag mir, was du willst, und ich kümmere mich darum." Ich rechnete mit einer Aufgabe oder sogar einem Auftrag als frischgebackener Räuber.


    "In deiner Brust schlägt das Herz eines Kämpfers. Du weißt es und du hast es in drei Prüfungen bewiesen. Das wollen wir ausbauen. Ich möchte, dass du in Zukunft nie wieder deinen Tod akzeptierst. Streich diese Möglichkeit aus deinen Gedanken. Ab sofort wirst du dich nur noch auf deinen Sieg und auf dein Überleben konzentrieren und an nichts anderes mehr denken. Versprichst du mir das?"


    Er sah mir fest in die Augen. Ich erwiderte den Blick, gerührt und verwirrt, weil ihm an mir gelegen war. Nun war mein Lächeln ehrlich. "Ich verspreche es dir."


    "Jetzt ist mir wohler. Und nun fort mit diesen trüben Gedanken. Trink noch etwas." Dolwin schenkte mir nach. Vor unseren Schuhen prasselte das Feuer und wärmte unsere Vorderseite, während ich im Rücken die herbstliche Kälte spürte.


    "Nun erzähl mir aber auch von dir, Dolwin", bat ich. "Wie bist du Räuber geworden? Du heißt Dolwin von Niderau. Dein Name klingt wie der eines Adligen und du trägst einen Wappenrock." Solche Dinge wusste ich, denn ein Grundwissen über unsere menschlichen Nachbarn waren den Orks bekannt, auch wenn vieles falsch verstanden oder von Klischees verfälscht wurde.


    Er sah lange schweigend in die Flammen, bevor er sprach. "In Naridien ist es nicht von Bedeutung, ob man von Stand ist oder nicht. Wir sind nun eine Republik und alle Bürger sind gleich."


    "Mit Menschen kenne ich mich kaum aus. Unter Orks werden die Dinge anders geregelt. Es klingt aber so, als wäre diese Gleichheit für die naridischen Bürger nicht gut?", fragte ich. "Es muss ja einen Grund haben, warum du mit deinen Leuten als Räuber in dieser Ruine haust und andere als reiche Händler in den Städten."


    "Jede gut begründete Meinung ist auf ihre Weise richtig. Das musst du verstehen, um die Naridier zu begreifen."


    "Mein Vater war Naridier. Aber ich habe ihn nie kennengelernt. Meinst du, er hat die Dinge auch so gesehen?"


    "Natürlich, denn er ist so aufgewachsen. Wir leben demokratisch, das heißt, die Anführer unseres Staates werden gewählt. Die Stimme eines jeden hat dabei das gleiche Gewicht. Das war aber nicht immer so, sondern erst seit dem Jahr 117 nach der Asche. Jetzt schreiben wir das Jahr 192 nach der Asche. Mein Großvater hat die Zeit der Naridischen Handelsallianz noch erlebt. Und damals hatte der Adel das Sagen. Hast du bis hierhin Fragen?"


    "Nur eine. Was war die Naridische Handelsallianz?"


    "So hieß Naridien, bevor es eine Republik wurde. Und die Handelsallianz wurde vom Adel regiert, bis Fürst Leopold von Ghena den Adel abschaffte und die Republik ausrief." Dolwin schnaufte wütend. "An seiner eigenen Vormachtstellung änderte sich nichts, als dass sich nun Vorsitzender des Hohen Rates nannte anstatt Fürst. Für die kleinen Adelsgeschlechter aber hat es bedeutet, dass sie alles verloren. Unsere Burgen fielen an den Staat, der nun für die Landesverteidigung zuständig war, und daraus Garnisonen machte. Wir durften allein unsere zivilen Gebäude behalten. Leopold von Ghena, der Schuft, hat uns entwaffnet und zahnlos gemacht."


    "Und was geschah mit euren, ähm, Dienern und Untergebenen?"


    "Unsere Leibeigenen waren von einem Tag auf den anderen keine Leibeigenen mehr, sondern Bürger - genau wie wir. Sie galten nun als unsere Angestellten, die nach gesetzlichem Tarif entlohnt werden sollten. Und wenn ihnen etwas nicht passte, so wechselten sie einfach zu einem anderen Dienstherren."


    Mit bitterem Lächeln wies er auf die verfallene Burg in der die Räuber ihrem Tagewerk nachgingen.


    "Was du hier siehst, ist alles, was den Edlen von Niederau blieb. Mein Großvater konnte es sich nicht leisten, seine ehemaligen Leibeigenen nach den neuen Gesetzen zu versorgen, mit all den Sozialabgaben, den Versicherungen und was sie sich noch alles ausgedacht haben, um uns das Geld aus der Tasche zu ziehen. Unsere Ländereien liegen seither brach, unsere Häuser verfielen. Die meisten suchten sich eine neue Bleibe. Uns blieben nur wenige, die aus reiner Treue bei uns blieben und freiwillig dieses Leben wählten. Dafür kann ich ihnen nicht genug danken. Nun verstehst du sicher auch, warum ich ein Herz habe für Ausgestoßene wie dich oder Arvidia und ihnen eine Chance gebe, in meinen Diensten unterzukommen."


    "Du hast ein gutes Herz, Dolwin, auch wenn du ein Räuber bist. Wenn du mich fragst, solltet ihr froh sein, diese treulosen Verräter los zu sein, die nur des Geldes wegen bei dir blieben. Aber was geschah mit den großen Adelshäusern, wie das des Leopold von Ghena?"


    Dolwin lachte bitter. "Sie waren die größten Profiteure des Umbruchs! Denn ihre wirtschaftliche Macht blieb ungebrochen. Ja, sie erstarkten sogar. Sie sägten all ihre aufstrebenden Rivalen auf einen Schlag ab. Nun gibt es für sie keine Rivalen mehr. Es sollte niemanden verwundern, dass diese Burschen auch jetzt in Zeiten der Republik alle Posten des Hohen Rates und der Ministerien besetzen. Sie haben sich so prächtig mit der Republik arrangiert, dass böse Zungen behaupten, sie selbst hätten die Aufstände unter dem Volk eingeläutet und dass Leopold von Ghena sich nur zum Schein dem Druck der Mehrheit beugte, die er in Wahrheit selbst aufstachelte."


    "Und nun?"


    "Du siehst, was aus meinesgleichen geworden ist. Manche leben als einfache Arbeiter. Andere als Geschäftsleute. Einige haben es bisweilen sogar wieder zu etwas Wohlstand gebracht. Aber wir Edlen von Niederau, die sich den alten Werten und Treueschwüren verpflichtet sehen, leben noch immer in dieser Burg unserer Vorfahren inmitten unserer verwilderten Ländereien, auch wenn hier alles verfällt und wir uns nur durch Raubzüge und Wegelagerei über Wasser halten. Doch glaube mir, Serak, die Zeiten werden sich wieder ändern, daran glaube ich fest. Ich bin ein Nachfahre von Rittern; ich handle im Interesse meiner Familie und der Getreuen, die unter meinem Banner dienen, und dem kleinen Stück Land, das uns geblieben ist. Zu meinem Gefolge gehörst nun auch du. Und mit dir viele andere, die vom naridischen Staat vergessen worden sind. Wir machen das Beste aus der Situation."


    Er klopfte mich freundlich. "Nun kennst du meine Geschichte und ich kenne die deine. Ich glaube, nun verstehen wir einander. Lass uns nicht länger über Vergangenes reden, denn das ist vorbei. Lass uns essen, trinken und feiern, weil wir heute hier beisammen sein dürfen. Sprechen wir über die Zukunft, mein Freund."


    Er hob das Trinkhorn und ich tat es ihm glücklich gleich.

  • Räuberjahre


    Während des Winters lernte ich das Räuberhandwerk. Es begann mit einer Schulung zur Orientierung in der Wildnis und zu den Grundlagen des Überlebens. Ich übte Feuer zu machen, Trinkwasser zu gewinnen und lernte, Essbares von Nichtessbarem zu unterscheiden. Es folgten einfachen Aufklärungsaufträge und später durfte ich Wache schieben. Damit vertrauten mir dir Räuber ihr Leben an und ich nahm meine Aufgabe äußerst ernst.


    Doch die Räuber lernten auch bereitwillig von mir, denn das Jagen hatte seit meiner Kindheit zu meinen Aufgaben gehört. Insbesondere, was Fallen betraf, machte mir hier niemand etwas vor. Das brachte Dolwin dazu, mir beizubringen, welche Pelze teuer verkauft werden konnten und wohin ich sie dafür bringen musste. Dies wurde meine feste Aufgabe, so dass wir neben der Räuberei auch durch meine Wilderei Einnahmen hatten.


    Das Essen war jederzeit ausreichend, nach meinem Verständnis sogar reichlich, auch wenn sich die Frauen jedes Mal entschuldigten, dass sie uns nicht noch mehr Speis und Trank auftischen konnten. Dolwin wuchs in diesem Winter ein Bauch und mein Körper veränderte sich noch dramatischer. Als ob er das fehlende Wachstum nachholen wollte, das sich aufgrund der Zustände in den Bruthöhlen verzögert hatte, wuchs ich in die Höhe und in die Breite und mein Nacken wurde bullig. Meine Fangzähne gewannen an Länge, so dass meine Sprache sich veränderte, und mir wuchs ein dünner Bart. Kurzum: Ich war nun nicht allein den Jahren nach, sondern auch äußerlich eindeutig kein Kind mehr.


    Und zwei weitere Winter später war ich so groß und so schwer wie die Männer und körperlich einer der leistungsfähigsten Räuber. Vor allem hatte ich mein Wort gehalten und niemals wieder an meinen Tod gedacht, sondern mich ganz auf das Überleben unserer Gemeinschaft konzentriert. In diesen Jahren, in denen ich erwachsen wurde, war ich glücklich.


    Dann aber begann sich etwas abzuzeichnen, das uns allen große Sorge bereitete ...

  • Bedrohliche Beobachtung


    Misstrauisch beobachtete ich die schwer bewaffnete Kolonne, die sich unter meinen Füßen durch die felsige Schlucht bewegte. Es war Frühling und die Reisezeit begann, doch das da unten waren weder Reisende noch Händler. So etwas hatte ich noch nicht erlebt. Ihr Anführer blickte plötzlich hinauf, als erwarte er einen Hinterhalt, doch die Zweige einer Sandkiefer verbargen mich vor seinem Blick. Ich war längst kein Grünschnabel mehr und blieb unentdeckt. Die Bewaffneten zogen weiter durch die Schlucht. Hoch über ihnen folgte ich auf weichen Sohlen ihrem Marsch. Als ich sicher war, dass sie sich um den Berg herum in Richtung unserer Burg bewegten, brach ich die Beobachtung ab und rannte auf geheimen Pfaden durch den Wald.


    "Wo ist Dolwin?", rief ich schon von weitem, während ich noch rannte.


    Er hob den Kopf von der erbeuteten Kiste, deren Inhalt er gerade überprüft hatte. "Was ist los? Du ziehst ein Gesicht, als wärst du dem Tod begegnet."


    Keuchend blieb ich vor ihm stehen. "Vielleicht bin ich das auch. Durch die Schlucht nähern sich 76 Bewaffnete unserer Burg."


    Bei ihm war sein Vater Dolgrim, der die Augen aufriss, die so blau waren wie die seines Sohnes. "Was sagst du? Sechsundsiebzig?!"


    Ich nickte. Mir war genau so unwohl wie ihm. Eine Streitmacht von dieser Größe war noch nie hier gewesen. Normalerweise beschränkten die Bewaffneten sich auf einen kleinen Trupp von Leibwächtern.


    "Das ist eine ganze Kompanie samt Kommandant", stöhnte Dolgrim.


    Dolwin stand auf, sein Blick war entschlossen. "Kommen sie von Osten oder von Westen?"


    "Von Osten."


    "Dann sind das keine naridischen Soldaten, sondern Fremde. Wahrscheinlich wissen sie nichts von dieser Burg."


    "Soll ich herausfinden, wer sie sind und was sie hier wollen?"


    Dolwin betrachtete mich, während er nachdänklich die Hände in die Hüfte stemmte. "Dein grünes Gesicht könnte sich dabei als Nachteil erweisen. Wir wissen nicht, wie die Burschen auf Orks zu sprechen sind."


    "Dann maskiere ich mich. Das wäre ja nicht das erste Mal."


    "Für einen Unterhändler ist das keine gute Idee, man wird dein Gesicht sehen wollen", gab Dolwin zu bedenken. "Ich werde selbst gehen und du begleitest mich - zusammen mit den anderen Kämpfern. Mein Vater wird hier mit den Übrigen alles vorbereiten."


    "Für einen gastlichen oder für einen blutigen Empfang?", wollte ich wissen.


    Dolwin legte seine Rüstung an und schnallte sich den Waffengurt um. "Das, mein Junge, liegt ganz bei den Fremden." Er nannte mich immer noch seinen Jungen, obwohl ich beinahe so groß war wie er. Größer würde ich wohl nicht mehr werden - da schlug mein menschliches Erbe durch. Dolwin wandte sich um und brüllte: "Ausrüsten und Kampfbereitschaft herstellen!"


    In die Räuber kam Bewegung. Dieser Befehl war nicht das erste Mal gestellt worden und alles verlief zügig. Die Frauen räumten die Gegenstände an vereinbarte Plätze. Manches wurde versteckt, anderes taktisch klug positioniert, so dass es als Hindernis für die Feinde, als Deckung oder auch als Wurfgeschoss dienen konnte. Die älteren Kinder griffen ihre Schleudern und kontrollierten die Steinhaufen, die sie zu diesem Zweck bereitliegen hatten. Dann schmierten wir alle uns Ruß in die Gesichter und ins Haar, damit nichts Helles im Dunkel des Waldes leuchten konnte. Dolwin erklärte die Aufstellung, die im Wesentlichen der Riegelstellung entsprach, mit der wir unseren Opfern bei einem Hinterhalt die Schlucht abzuriegeln pflegten. Ich aber würde als sein Leibwächter direkt an seiner Seite stehen. Mit dem Ruß im Gesicht und dem Schweißband, das über der Stirn und meinen spitzen Ohren lag, war ich nicht von einem muskulösen Menschen zu unterscheiden, so lange ich den Mund nicht aufmachte.


    Dolwin gab das Singal und wir liefen los.

  • Konfrontation mit der fremden Kompanie


    Die Armbrustschützen hockten oben und zielten hinab in die Schlucht. Die Äste der Sandkiefern verbargen sie vor Blicken. Die Truppe mit den Schwertern - die nicht sehr viele waren, denn Schwerter kosteten unwahrscheinlich viel - marschierten hinter Dolwin und mir. Auch mir hatte man ein Kurzschwert anvertraut. Für einen Schild hatte es nicht gereicht, doch man musste nehmen, was man bekam. Am besten ausgerüstet war Dolwin, der in seinem Kettenpanzer mit dem Wappenrock und dem blau-roten Rundschild an der Seite einen prächtigen Anblick bot. Das Schwert beließ er, wie wir alle, noch in der Scheide. So traten wir der fremden Kompanie in den Weg.


    "Heda", rief Dolwin. "Halt!"


    Einer der Fremden hob seine Faust und die gesamte Truppe kam zum Stillstand, ehe er vortrat. Misstrauisch beäugten sich die beiden Anführer. Der andere war jünger, er mochte etwa dreißig Sommer und Winter gesehen haben. Er war eine große und bullige Erscheinung. Sein Kupferrotes Haar leuchtete über einem weißen Gesicht, das trotz der Witterung, der er zweifellos regelmäßig ausgesetzt war, keine Anzeichen von Bräune zeigte, dafür aber einen schmerzhaft aussehenden Sonnenbrand. Wie die meisten Mitglieder seiner Truppe trug er einen Dreitagebart.


    "Name und Grund der Durchreise", verlangte Dolwin zu erfahren. Ich stand neben ihm. Auch wenn ich meine Hand nicht auf den Griff der Waffe legte, denn das war eine gefährliche Drohung, blieb ich äußerst wachsam. Die Situation war nicht im Mindesten einschätzbar. Die Fremden trugen das Banner eines Rotfuchses auf weißem Grund, an dem mehrere echte Fuchsschwänze im Wind wehten. Viele von ihnen trugen außerdem Kragen, Stiefelstulpen oder Armschoner aus Fuchsfell. Ihre Rüstungen hingegen wirkten wild zusammengewürfelt. Vom verschlissenen Lederwams bis zur rostigen Schuppenrüstung war alles dabei. So schäbig die Truppe auch aussah, so wirkte sie dennoch erfahren.


    "Garlyn Meqdarhan. Auch bekannt als Garlyn der Fuchs, Kommandant dieser Söldnerkompanie. Der Grund unserer Durchreise hängt ganz von eurem künftigen Auftreten ab - Dolwin von Niederau." Er grinste böse.


    Ich schloss die Finger um den Griff meines Kurzschwertes, doch von hinten legte jemand besänftigend die Hand auf meine Schulter. Widerwillig löste ich die Finger wieder. Die Söldner betrachteten feindselig meine Bewegungen.


    "Was heißt: 'diese Söldnerkompanie'?", fragte Dolwin unwirsch. "Wer ist euer Auftraggeber, für wen kämpft ihr?"


    "Lasst das unsere Sorge sein. Wir wünschen lediglich, zu passieren. Ich empfehle euch also in aller Freundlichkeit, mir samt euren Leuten aus dem Weg zu gehen."


    Diese Söldner waren uns drei zu eins überlegen, aber wir hatten den Vorteil, dass unsere Schützen aus guten Stellungen auf sie zielten. So war es kein Wunder, dass Dolwin nicht klein bei gab. "Üblicherweise erheben wir für Reisende einen Zoll."


    Während er ihnen die Preise vorrechnete, ließ ich den Blick über die grimmigen Söldner schweifen. Ich erschrak fast zu Tode. "Dolwin", raunte ich warnend, doch er winkte ab und fuhr in seinen Berechnungen fort. "Dolwin", sagte ich deutlicher, und als er mir wieder das Wort mit einer Geste verbieten wollte, fuhr ich laut dazwischen: "Das sind nicht alle! Das sind nur 51!"


    Dolwin fuhr herum und sah nach hinten, ebenso wie die meisten unserer Männer, doch hinter ihren Rücken war niemand. Ich nahm das Stirnband ab. Nun war es völlig gleichgültig, ob man meine spitzen Ohren sah oder meine grüne Haut. Meine Ohren waren besser als die meiner menschlichen Kameraden und obendrein beweglich. Als Dolwin sah, wie sie sich ganz von selbst nach oben hin ausrichteten, folgte er der Richtung mit dem Blick. Zwischen den Ästen war kein einziger Schütze mehr zu sehen.


    Garlyn zog herablassend einen Mundwinkel zur Seite, so dass man seine gelben Zähne sah. "Kein Grund, nervös zu werden. Aber vielleicht eine Grundlage, eure Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen. Meint ihr nicht, Edler von Niederau?"


    Es war das erste Mal, dass ich erleben musste, wie Dolwin keine Antwort einfiel. Das Verschwinden der Schützen machte ihm sehr zu schaffen, ich sah es ihm an. "Dolwin", hakte ich nach, als zu viel Zeit verstrich und die Söldner langsam unruhig wurden. "Verlange ein Lebenszeichen unserer Freunde und wenn es ihnen gut geht, empfangen wir die Gäste." Das schien mir der einzige vernünftige Rat zu sein. Übertriebener Stolz war bei dieser Übermacht fehl am Platz, die das Leben unserer Freunde in den Händen hielt.


    Dolwin riss sich zusammen. "Du hast es gehört, Fuchs! Komme dem nach!"


    "Wie ihr wünscht, Edler!"


    "Unterlasse deinen Hohn", blaffte Dolwin. "Wir sind hier nicht in Almanien. Du weißt so gut wie ich, dass Adelstitel in Naridien schon seit drei Generationen nicht mehr üblich sind. Und jetzt beweise, dass es meinen Männern gut geht und du das Recht besitzt, diese Schlucht in einem Stück zu verlassen."


    Garlyn zog Rotz hoch und spuckte aus - gerade weit genug zur Seite, dass es nicht vor Dolwins Füßen landete. Trotzdem war die beleidigende Absicht kaum verschleiert. "Ihr Adligen habt nichts von eurer Arroganz verloren - nicht einmal nach der Entwertung eurer albernen Titel."


    Der Anführer der Söldner hob lässig beide Arme und machte mit den Händen lockende Bewegungen. Oben auf der felsigen Stufe der Schlucht war Bewegung auszumachen. Unsere Freunde traten bis ganz vor an die Kante, die Gesichter kreideweiß. Ihre Hände waren leer und sie streckten sie nach oben. Hinter ihnen standen zweifelsohne die Söldner.


    Ich zählte rasch durch. "Alle da."


    "In Ordnung", sagte Dolwin, dem es kaum gelang, seine Erleichterung zu verbergen. "Folgt mir, aber unterlasst alles, was mich dazu bringen könnte, meine Gastfreundschaft zu überdenken."

  • Um alles oder nichts


    Es war spät geworden. In der Ruine saßen die Räuber und Söldner in mehreren Reihen im Kreis um das Feuer. Im Zentrum saßen die beiden Anführer und ihre engsten Vertrauten. Ich verfolgte die Verhandlungen mit tiefen Sorgenfalten auf der Stirn. Zwischendurch betrachtete ich die Söldner und versuchte, uns irgendwelche Chancen auszurechnen, doch realistisch betrachtet war das Nonsens.


    Nahe der Mauer nahm gerade ein hühnenhafter Söldner seinen Helm ab, um nach dem Aufstieg die kühle Nachtluft zu genießen. Erleichtert strich er durch seinen schwarzen Hahnenkamm. Ich sah genauer hin. Trotz der Dunkelheit genügte mir das Rechtlicht, um Farben zu sehen. Das Grau seiner Haut war keine Einbildung. Mit seinen wildschweinartigen Hauern und den langen spitzen Ohren war er näher am Ork als am Menschen, doch er war eindeutig weder das eine noch das andere. Was zum Henker war er?


    Als er meinen Blick bemerkte, zwinkerte er mir mit einem Auge freundlich zu. Als ich zögerte, winkte er mich zu sich heran. Da nichts dagegen sprach, verließ ich meinen Platz und ging zu ihm herüber. Neben ihm ließ ich mich im feuchten Laub nieder, das vor der Mauer lag. Aus Gewohnheit setzte ich mich dabei auf einen meiner Füße, damit mein Hintern trocken blieb. Der graue Bursche drückte mir seinen angesabberten Trinkschlauch in die Hand, aus dem es scharf nach selbstgebranntem Beerenschnaps roch.


    "Du siehst aus, als könntest du einen tüchtigen Schluck gebrauchen. Trink nur!"


    Weil er so freundlich mit mir sprach und etwas Deeskalation sicher nicht schaden konnte, trank ich das scharfe Zeug. Es fühlte sich an, als würde eine Armee meine Speiseröhre hinabmarschieren. Ich verschluckte mich, hustete und bekam die Plörre in die Nase. Mein Gesicht brannte wie Feuer. Sofort stiegen mir die Tränen in die Augen, ach was, sie kullerten mir über die Wangen, als würde ich heulen! Zeitgleich brachen der Bursche und ich in Gelächter aus, was uns aus der Gegend um das Feuer herum strenge Blicke bescherte.


    "Altes Trollrezept", sagte er leise und zwinkerte mir wieder zu. Das schien er gern zu machen. "Und du bist...?!"


    "Ein Halbork", raunte ich.


    "Das sehe ich selbst, ich wollte deinen Namen wissen!"


    Ich grinste schief. "Serak. Sonst nichts. Und deiner?"


    "Cherax. Sonst nichts." Grinsend knuffte er mich mit der Faust. "Darauf trinken wir einen."


    Einer seiner Kameraden lehnte sich zu mir herüber. Sein Helm glänzte im Licht der beiden Mondsicheln und des Feuers. "Lass dich nicht abfüllen. Das macht der gern."


    "Spielverderber." Cherax nahm mir den Trinkschlauch wieder ab und trank selber einen kräftigen Schluck. "So, den Rest heben wir uns für später auf. Wir wissen ja nicht, was uns heute noch alles erwartet." Er wirkte sorglos, womit er das glatte Gegenteil von mir bildete. Ich war ein einziges Nervenbündel, aber das gemeinsame Lachen und die wenigen Worte hatten den Knoten in meinem Inneren gelöst. Auch wenn diese Söldner mit Sicherheit gefährliche Burschen waren, so hatte ich nicht länger das Gefühl, dass sie unsere Feinde waren. Aus ihrer Richtung war kein Hass zu spüren. Ihnen ging es, wie uns Räubern, nur ums Geschäft. War das nicht eine gute Basis?


    Ich warf einen Blick auf unsere Anfüher, die mit steinernen Gesichtern miteinander verhandelten und meine Hoffnungen auf eine friedliche Lösung schrumpften in sich zusammen. "Denen würde ein Schluck deines Gebräus wahrscheinlich auch gut tun", murmelte ich.


    Aber Cherax winkte ab. "Entspann dich. Die zwei sind Kommandanten, als solche müssen sie ihre Position deutlich machen. Uns Fußvolk kann das egal sein. Wir haben den Luxus, gemeinsam etwas trinken zu dürfen. Nimm den grimmigen Blick der beiden nicht so ernst. Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Wöllten wir Söldner tatsächlich kämpfen oder ihr Räuber, dann würden wir jetzt nicht hier zusammen sitzen. Situationen wie diese habe ich schon zu Hauf erlebt. Meist ist es am Ende halb so wild."


    Ich war mir da nicht sicher und auch sein Kamerad hob die Brauen, sagte aber nichts. Meine Ohren richteten sich nach vorn. Die Töne aus dieser Richtung wurden schlagartig doppelt so laut, während die Geräusche hinter mir sehr viel leiser wurden. Nun verstand ich jedes Wort der beiden Kommandanten.


    "Wer euch schickt, hast du allerdings immer noch nicht offenbart", sagte Dolwin gerade.


    "Uns wurde gutes Geld geboten, das muss dir genügen", antwortete Garlyn. Beide sprachen gedämpft, doch es bereitete mir keine Mühe, ihr Gespräch zu verfolgen. "Aber ich habe kein Interesse daran, einen kleinen Trupp Wegelagerer zu vernichten, wenn es Alternativen gibt. Seien wir ehrlich, es wäre kein Kampf, sondern ein Abschlachten. So was muss nicht sein. Darum lass uns darüber nachdenken, ob es keine bessere Lösung gibt." Er machte mit Daumen und Zeigefinger eine reibende Bewegung, wobei er anzüglich grinste. Natürlich, es ging um das Wichtigste im Leben eines Söldnerkommandanten - um Geld.


    "Wenn ich dich recht verstehe", sagte Dolwin mit abweisendem Gesicht, während er sich zurück lehnte, "willst du dich doppelt bezahlen lassen: einmal von deinem Auftraggeber dafür, dass du uns angeblich getötet hast und einmal von uns dafür, dass du es nicht tust."


    In aller Ruhe klemmte Garlyn Meqdarhan sich eine Rauchstange zwischen die Lippen, zündete sie an und begann zu qualmen. "Nicht ganz", nuschelte er, während die Rauchstange in seinem Mund wippte. "Unser Auftraggeber ist nicht blöd. Ich werde ihm eine glaubwürdige Geschichte unseres Scheiterns auftischen müssen. Die Anzahlung behalte ich ein, aber auf die Boni für eure Köpfe muss ich dann verzichten. Freilich schadet das außerdem dem guten Ruf meiner Einheit. Schon allein deshalb kann ich euch nicht aus reiner Gutmütigkeit laufen lassen." Nach einem genüsslichen Lungenzug, nahm er endlich die nervig wackelnde Kippe aus dem Mund.


    "Wie viel verlangst du?", fragte Dolwin.


    Garlyn pustete ihm einen Rauchkringel ins Gesicht, der sich um Dolwins Hals legte, ehe er verwehte. "Fünftausend je Kopf." Er grinste böse. "Freilich gilt das auch für eure Frauen und Kinder, nicht allein für die Männer. Gleiches Recht für alle, im Leben wie im Tod."


    Das Entsetzen bei dieser Summe führte zu einem allgemeinen Schweigen unter den Räubern. Nun war die Katze aus dem Sack. Der edelmütige Söldnerkommandant hatte sein wahres Gesicht gezeigt.


    "Wir sprechen hier von mehr als einer Viertelmillion", sagte Dolwin schließlich mit mühsamer Beherrschung. "Selbst wenn ich diese Summe nicht für astronomisch halten würde ... ich habe sie nicht. Garlyn, nicht einmal ein Zehntel davon! Das Angebot ist eine Farce. Wir müssen eine andere Lösung finden, oder meine Räuber und ich werden uns bis zum letzten Mann und zur letzten Frau, ja, bis zum letzten Kind verteidigen und so viele von euch wie möglich mit in den Abgrund reißen. Lebend bekommt ihr keinen von uns!"


    Garlyn nahm noch einen Zug und lächelte. Er schien genau zu wissen, was er wollte. "Kein Problem. Denken wir pragmatisch: Was ist diese Burg wert und welche Ländereien gehören dazu?"


    Dolwin atmete tief durch. "Der Wert könnte für die heruntergekommene Burg hinkommen, aber wo sollen ich und meine Leute dann hin? Wir sind Vogelfreie, Garlyn! Wir werden in Naridien gesucht. Für uns gibt es keinen anderen Platz."


    Der Söldnerführer nickte. "Richtig, und weil ihr gesucht werdet, sind wir hier. Es missfällt den Leuten, dass ihr hier die Händler abfangt und ausplündert, oder abartige Zölle erhebt und irgendwelche Schutzsteuern erfindet. Gleichzeitig schleust ihr dabei auch noch Schmuggler durch. Jemand hat ein Interesse daran, diese kriminellen Machenschaften zu beenden, die den Handel in dieser Region schädigen."


    Dolwin schnaufte. "Natürlich."


    "Ich muss gestehen, dass die Summe, die er mir für jeden eurer Köpfe geboten hat, es mir schwer gemacht hat, überhaupt Verhandlungen in Erwägung zu ziehen. Es grenzt an ein kleines Wunder, dass wir nun hier sitzen, das solltest du dir bewusst machen. Man will uns sehr, sehr gut bezahlen und hat uns aus der Ferne bis hierher bestellt."


    Dolwin presste die Lippen aufeinander, schloss die Augen und ballte eine Faust. "Du setzt mich unter Druck, aber das ändert nichts an den Rahmenbedingungen. Ohne Burg haben wir keine Zukunft, egal, wie du es wendest und drehst, besonders jetzt im Winter. Hier haben wir unser Hauptquartier und unser zu Hause. Ohne Burg sind wir verloren."


    "Ich biete dir eine lebenslange Pacht an", schlug Garlyn vor. "Mit jährlichen Beträgen, die problemlos für dich zu stemmen sind. Und ein paar Gefälligkeiten, wenn es darum geht, ein paar Freunde durchzulassen." Dieser Gauner. Wahrscheinlich hatte er von Anfang an nur darauf gewartet, dieses Angebot zu unterbreiten.


    "Ich muss anerkennen", sagte Dolwin würdevoll, "dass man dich nicht allein wegen deines roten Haares einen Fuchs nennt. Du hast dir deinen Beinamen redlich verdient."


    Garlyn lächelte und zog schweigend an seiner Rauchstange. Dolwin stützte das bärtige Kinn in die Hand. Er sah auf einen Schlag unwahrscheinlich alt und müde aus. Er tat mir leid und gern hätte ich irgendetwas getan, um ihm beizustehen. Stattdessen trank ich mit den Schergen des Söldnerkommandanten, als wäre ich einer der ihren. Ich erhob mich, klopfte meine Hose sauber und ging kommentarlos wieder zu Dolwin, um mich in seine Nähe zu setzen. Er sollte wissen, dass ich bei ihm war. Wenn es wirklich hart auf hart kam, würde ich an seiner Seite in der ersten Reihe stehen.


    Wir waren gerade einmal fünfzehn Krieger. Um uns herum saßen 51 Söldner, bis unter die Zähne bewaffnet. Weitere 24 von Garlyns Männern lagen irgendwo auf der Lauer - mit unseren gefangenen 12 Freunden als Geiseln. Ich glaubte, die auf uns zielenden Armbrüste in der Dunkelheit regelrecht zu spüren. Das würde ein sehr kurzer Kampf werden, aber vielleicht gelang es uns, Garlyn den Fuchs mit in den Tod zu reißen. Das würde mein oberstes Ziel sein.


    Plötzlich kam einer der Söldner angerannt. Atemlos fiel er neben Garlyn auf die Knie, umarmte ihn fest von der Seite und flüsterte ihm dabei etwas ins Ohr, ehe er ihn wieder freigab. Die Augen von Garlyn waren schreckgeweitet.


    "Wie schnell sich die Dinge doch manchmal ändern", sagte er sehr langsam, während er die Rauchstange sinken ließ. "Dolwin, mein alter Raubritter: Vergiss alles, was ich dir vorschlug und drohte. Das ist Geschichte. Ich habe soeben erfahren, dass meine Truppe verraten wurde. In diesem Moment nähert sich die Radhora dieser Stellung. Die Straße ist bereits in beide Richtungen blockiert und nun ziehen sie den Kessel zu."


    Der Klang dieses Namens sorgte sowohl von den Seiten der Räuber als auch der Söldner für Ausrufe des Entsetzens. "Die Republikanische Armee des Hohen Rates? Hier?", rief Dolwin.


    Garlyn nickte düster. "Scheinbar finden sie es bequem, euch und uns auf einen Schlag gemeinsam zu eliminieren." Und dann, ganz leise, hörte ich den Söldnerkommandanten sagen: "Wir sind nur eine Kompanie. Die Radhora operiert in Batallionsstärke. Dagegen sind wir machtlos. Das ist dann wohl das Ende ... für euch und für uns."


    Doch Dolwin umfasste seinen Unterarm. "Nicht unbedingt - wenn wir zusammen kämpfen. Wie du schon sagtest, denken wir pragmatisch. Das hier ist meine Burg. Ich habe noch ein paar Asse im Ärmel. Nur Mut ... Freund."


    Garlyn hob den Blick. Die beiden sahen sich in die Augen, dann nickte der Fuchs. Der Anführer der Räuber und der Kommandant der Söldner gaben sich fest die Hand und klopften sich mit der freien Hand auf die Schulter, um ihren Pakt zu besiegeln. Dann sprangen sie auf die Füße und zogen sich für eine kurze Beratung zurück. Wenig später kamen sie wieder. In ihrer Mitte ging der alte Dolgrim mit einem bauchigen Tongefäß.


    Was jetzt geschah, war eine Schlachtvorbereitung, wie sie die Krieger dieser Welt nur selten zu Gesicht bekamen: Dolgrim ging mit dem Lostopf herum und jeder zog blind einen Stein. Die beiden Anführer gingen neben ihm her und kontrollierten bei jedem ihrer Männer den Zug.


    Schließlich war ich an der Reihe. Ich wusste so wenig wie jeder andere, wofür Schwarz und Weiß standen, doch wenn ich an mein legendäres Pech dachte, war klar, dass ich die schlechtere Variante ziehen würde. Ich tauchte die Hand ein, spürte die Kiesel und nahm nicht den erstbesten, sondern einen von ganz hinten links. Als ich die Finger öffnete, lag ein schwarzer Stein in meiner Handfläche.


    Dolwin nahm ihn mir kommentarlos weg und legte mir seinen eigenen weißen Stein in die Hand. Den schwarzen steckte er in seine Tasche. Dann gingen sie weiter zum nächsten.

  • Hinaus


    Unter den beiden Mondsicheln hatten sich alle im Burghof versammelt, Räuber wie Söldner. Der kalte Nachwind schob dicke Nebelschwaden durch den Wald und verschleierte ihre Stiefel. Im fahlen Licht wirkten sie wie schwebende Geister.


    "Die Männer mit den schwarzen Steinen bilden unter meinem Kommando die Verteidiger", erklärte Dolwin. "Und die Männer mit den weißen Steinen sind die Beschützer unter Garlyns Kommando. Die Aufgabe der Verteidiger ist es, den Beschützern so viel Zeit wie möglich zu verschaffen, damit sie die Frauen und Kinder in Sicherheit bringen können. Wir Verteidiger kämpfen bis zum Schluss und jedes dreckige Mittel soll uns recht sein." Dolwin sah ernst von einem zum anderen. "Die Beschützer aber haben nur eine einzige Aufgabe: Den Kreis der Angreifer samt den Frauen und Kindern erfolgreich zu durchbrechen."


    "Und danach?", fragte ich.


    "Dann lauft ihr, bis ihr alle in Sicherheit seit."


    Mein Atem stockte für einen Moment, als mir klar wurde, was geschehen sollte. Die Erkenntis war derart schockierend, dass ich in dem Versuch, etwas zu sagen, nach Luft japste wie ein Fisch auf dem Trockenen. Während die anderen Kämpfer mit dem weißen Stein mit ihrem Los keineswegs unglücklich wirkten, bedeutete es für mich, den Mann im Stich zu lassen, der mir das Leben gerettet hatte und all die anderen Räuber, die gut zu mir gewesen waren. Es tat mir um jeden einzelnen leid, doch es war das Zurücklassen von Dolwin, das mir so nahe ging, dass es völlig ausgeschlossen schien.


    Dolwin umschloss meine olivgrünen Hände mit seinen von der Kälte roten, geschwollenen Fingern. "Ich habe dir den Stein gegeben, weil ich dir vertraue, dass du ihn nicht verschwenden wirst."


    "Ich will ihn tauschen", sagte ich. "Jemand anderes mag leben. Mein Platz ist an deiner Seite!"


    "Dein Platz ist dort, wohin ich dich schicke", sagte er und drückte meine Hände. Dann gab er mich frei.


    "Ich bleibe hier", knurrte ich, doch mein Gesicht war flehend. Ein Leben ohne Dolwin war für mich unvorstellbar.


    "Denk daran, was du mir versprochen hast, Junge", sagte Dolwin sanft. "Heute musst du zum Mann werden und mithilfe deines scharfen Verstandes dein schwaches Herz besiegen. Dies ist die letzte meiner Prüfungen. Und ich erwarte, dass du siegst."


    Ich biss mir auf die Lippe und mein Gesicht verzog sich in inneren Qualen. Unter Aufbietung aller Willenskraft gelang es mir, ein Nicken zustande zu bringen. Eine warme Hand mit großen, fleischigen Fingern schob sich neben meinen Hals, um beruhigend meine Schulter zu massieren. Ich wandte mich um. Cherax' Finger wanderten meinen Arm hinab und umfassten nun fest meine Hand. Er nickte Dolwin zu. "Mach dir keine Sorgen", sagte er.


    Der Räuber lächelte. Dann wurde sein Gesicht plötzlich hart, er wandte sich von uns ab und begann, mit fester Stimme die Verteidigung zu organisieren. Es blieb keine Zeit mehr, die Welt drehte sich nicht um mich.


    "Na komm", sagte Cherax. "Lass unsere Kameraden sich nicht umsonst geopfert haben. Das tun sie für uns."


    Er zog an meiner Hand und ich ließ mich von ihm führen. Garlyn und zwei seiner Männer schoben die Abdeckung von einem trockenen Brunnen. Cherax nahm derweil einen Schluck aus seinem Trinkschlauch und reichte ihn mir. "Nimm vier große Schlucke. Das wird dir über die ersten Stunden hinweghelfen."


    Es war eine Tortur, das beißende Zeug zu trinken, doch ich spürte, wie die Hitze des Trankes sich in meinen Armen und Beinen ausbreitete. Meine Muskeln fühlten sich an, als könnte ich damit Bäume ausreißen. Mein Bewusstsein war übertrieben wach und meine Sinne gefühlt doppelt so scharf. Nachdem das Tränen meiner Augen aufgehört hatte, sah ich jedes noch so winzige Detail meiner Umgebung und hörte jeden noch so leisen Laut. Er reichte den Schlauch weiter herum. Als er leer war, packte er ihn wieder ein.


    Wir folgten Garlyn die Leiter hinab in den Brunnenschacht. Als der letzte unserer Gruppe hinabgestiegen war, schob einer der Verteidiger die schwere Holzplatte wieder darüber. Es war stockfinster. Nicht einmal ich konnte noch etwas sehen.


    "Haltet euch mit einer Hand am Gürtel eures Vordermanns fest", hallte Garlyns Stimme. "Mit der anderen tastet ihr euch die Wand entlang. Wir gehen langsam, damit wir nicht stolpern, aber kontinuierlich. Redet nur, wenn es notwendig ist, und dann leise."


    Ich fand den Gürtel des Trolls. Er zog mich langsam vorwärts. Meinen Gürtel hielt ebenfalls jemand gepackt. Meine Nase verriet mir, dass es der Kumpane von Cherax war, der mich davor gewarnt hatte, dass der Troll gern Leute betrunken machen würde. Meine Fingerspitzen fanden das glitschige Gestein des Geheimgangs. Der Boden bestand aus weicher, feuchter Erde. Draußen begann mit einmal ein fürchterliches Gebrüll. Eine der Frauen in unserem Gefolge versuchte, so leise wie möglich zu weinen. In meinen Adern aber kreiste der Trolltrank und ich spürte nichts als Entschlossenheit. Ich wollte strark sein für alle, die in meiner Gruppe waren, wollte kein Klotz am Bein sein sondern jemand, auf den Verlass war.


    Während wir den Schacht durchquerten, tobte über uns die Schlacht. Schwere Gegenstände polterten den Hang hinab und dem Geschrei entnahm ich, dass sie mitten durch die feindlichen Truppen rollten. Es handelte sich vermutlich um die zu diesem Zweck bereitliegenden Steinkugeln und Baumstämme. Eine Mutter versuchte, ihr weinendes Kind zu beruhigen. Egal, wie leise wir uns bewegten, Kinder waren für solche Situationen einfach unberechenbar. Der Geruch der muffigen Luft änderte sich, ein frischer Wind schlug mir ins Gesicht.


    "Alle bleiben stehen, ich kundschafte die Lage aus." Garlyns Schritte entfernten sich nach draußen, während wir warteten. Ich meinte, meinen heftigen Herzschlag zu spüren. Nach einer Weile war er zurück. Sein Atem ging schwer, weil er gerannt war. "Sie sind überall. Ein Kampf ist aussichtslos, wir müssen darauf vertrauen, dass Dolwin und die anderen für ausreichend Ablenkung sorgen, wenn es darauf ankommt. Wir haben nur eine Chance, wenn wir uns verteilen. Lasst ein wenig Abstand und dann lauft, so schnell ihr könnt."


    "Wo ist der Treffpunkt?", fragte Cherax.


    "Am Turm", antwortete Garlyn. "Danach ziehen wir gemeinsam weiter nach Osten." Und er rannte.


    Nach und nach verließen alle, die hier waren, den Brunnenschacht. Manchmal bildeten Männer, Frauen und Kinder kleine Gruppen, meist dann, wenn es Familien waren. Wen sollte ich beschützen?


    "Bleib bei Mauli und mir", sagte Cherax. "Wir passen auf dich auf."


    Fast hätte ich gelacht, doch tief im inneren war ich froh darüber. Vor uns floh die letzte Gruppe. Nun war es an uns. Cherax startete durch. Ich und der Kamerad hinter mir, der wohl besagter Mauli war, folgten ihm. Zwischen den Bäumen bewegten sich die Silouetten der feindlichen Soldaten durch den nächtlichen Nebel.


    "Sie brechen durch", brüllte jemand. "Hier, am Nordhang!"


    Ich rannte, was meine Beine hergaben. Erde und Laub stoben unter meinen Schuhen. Doch die Soldaten begannen, die Lücke zu schließen. Da polterte ein riesiger Baumstamm den Hang hinab und riss drei Soldaten mit sich, ehe er zwischen Bäumen verkeilt stecken blieb. "Ich bin es, den ihr wollt", hallte Dolwins Stimme durch den nächtlichen Wald. "Kommt und holt mich, ihr Feigl-"


    Mitten im Wort riss seine Stimme ab. Ich hörte einen Aufschlag und ein Poltern. "Dolwin!" Ich fuhr herum und rannte zurück, alle Vorsätze und Befehle missachtend. Er stand oben auf den Zinnen und mehrere Soldaten hieben auf ihn ein. Einer traf seine Hand. Wie ein silbriger Bogen flog sein Kurzschwert hinab. Kurz vor meinen Stiefeln landete es im Laub. Ich hob es auf, entschlossen, zurück in die Burg zu stürmen, doch etwas riss mir die Beine unter dem Körper Weg. Ich rollte mich kampfbereit auf den Rücken.


    Über mir stand Cherax. Er sagte nichts, sondern sah mir in die Augen und reichte mir die Hand. Ohne einen Ton von mir zu geben ließ ich mich von ihm auf die Beine ziehen und folgte ihm weiter durch den Wald. Die Bäume zogen im Rennen an meinem Blickfeld vorbei. Ich sprang über Äste, Wurzeln und Steine. Wir kamen in das Areal mit den hohen Tannen. Der Nebel war nun so dicht, dass man kaum etwas sah und er schluckte die meisten Geräusche.


    Von Moos zu Moos und von Stein zu Stein sprang ich hinab ins Tal. Rechter Hand sah ich die Barrikade, hörte die erstaunten Rufe, doch wir hatten sie erfolgreich umgangen. Ich sprintete und spürte keinerlei Schwäche. Cherax und Mauli waren etwas langsamer, da sie eine Rüstung trugen, doch auch ihnen gelang es lange, das Tempo zu halten, ehe wir schließlich schwer atmend ins Gehen verfielen. Vor uns ragte der Turm. Eine Weile mussten wir noch gehen, dann hatten wir das Ziel erreicht. Aus der Ferne hörten wir noch immer den Kampflärm.


    Ich stieg die Treppe hinauf. Nun merkte ich, dass meine Beine äußerst wackelig waren und strauchelte mehrmals. In den leeren Räumen fiel ich vor Erschöpfung einfach der Länge nach auf den blanken Boden, genau wie alle anderen. Der Trank hatte uns geholfen, doch auch dazu gebracht, all unsere körperlichen Reserven aufzubrauchen.


    Der Hälfte von uns gelang es, den Turm heil zu erreichen.


    Auf den Rest warteten wir vergebens.

  • Der Ruf der Toten


    Der Schlaf war viel zu kurz, doch niemand maulte, als Garlyn uns weckte. Durchs Fenster sah ich die Sterne. Der Atem der Söldner bildete beim Sprechen Wolken vor ihren Gesichtern. Vor der Toilette herrschte Andrang, Frauen, Kinder und Männer gemischt. Auf die Feinheiten der Zivilisation legte in dieser Situation niemand wert. Ich machte es wie viele andere und pinkelte aus einem Fenster hinaus in die Nacht. Wir hatten es eilig, denn es ging das Gerücht, der Radhora sei dieser Turm bekannt.


    "Wer auch immer uns verraten hat, weiß über alles Bescheid", meinte Mauli, der auf einem modrigen Eimer saß, weil er ein größeres Geschäft zu verrichten hatte. Der Eimer machte schon eine geraume Zeit hier die Runde.


    "Wo soll es denn jetzt überhaupt hingehen?", wollte ich wissen. Da Mauli mit den Schultern zuckte, blickte ich zu Cherax. "Weißt du es?"


    Der Troll schnürte gerade seine Stiefel neu. "Wir bringen die Frauen und Kinder nach Kaisho."


    "Das liegt doch am Arsch der Welt", stöhnte ich. "Dahinter beginnt Arashima!"


    Cherax nickte. "Wenn alle Stränge reißen, können sie sich über die Grenze in Sicherheit bringen."


    "Und wir?", hakte Mauli nach.


    Von der Seite rief einer: "Quatsch nicht so viel, beeil dich! Wir machen bald los und hier brauchen auch andere noch den Eimer!"


    "Hock dich einfach in eine Ecke", empfahl Mauli. "Hier kommen wir nie wieder hin." Der andere Söldner musste einsehen, dass Maui recht hatte und so folgten einige der Empfehlung.


    "Wir", fuhr Cherax unbeirrt fort, "kehren zurück in die östliche Wildnis. Wo es dann hingeht, entscheidet Garlyn." Er lächelte mir zu. "Ich nehme an, du begleitest uns bis nach Kaisho. Hast du Familie unter den Zivilisten? Bleibst du bei ihnen? Falls nicht, kannst du gern überlegen, ob du dich uns anschließen willst. Man verdient gutes Geld und wie du siehst, wird das Leben nicht langweilig."


    "Aber hallo", freute sich Mauli. "Männer mit Mut werden immer bei uns gesucht und wie es scheint, kannst du mit dem Kurzschwert umgehen. Das heißt, du müsstest nicht erst ewig ausgebildet werden sondern kannst von Anfang an dabei sein. Es würde dir bei uns gefallen."


    Ich kontrollierte meine Kleidung und den Sitz meiner Ausrüstung. Es erwies sich als nicht leicht, das zweite Kurzschwert so zu verstauen, dass es mich nicht behindern würde oder verletzten konnte. Am Ende blieb mir nur, es in einen vermoderten Lumpen zu wickeln. "Danke, aber ich suche nach Dolwin und den anderen Verteidigern."


    Cherax und Mauli sahen mich einen Moment schweigend an. "Du wirst nichts finden, das dir gut tut", sagte der Troll sanft. "Tu dir das nicht an."


    "Wer soll sie bestatten?", fragte ich. "Sollen meine Freunde von wilden Tieren gefressen werden, weil ich mich selbst schonen wollte? Das wird nicht geschehen, Cherax." Ich klopfte meine vollendete Ausrüstung. "Danke für das Angebot und für eure Hilfe, aber unsere Wege trennen sich hier. Alles Gute für euch, Jungs."


    Cherax drückte mich fest an sich. Mauli, der immer noch auf dem Eimer hockte, gab ich die Hand. Dann ging ich die Treppe herunter, an der Warteschlange vorbei. Draußen standen schon die ersten Söldner und Zivilisten, die für den Abmarsch fertig waren. Auch Garlyn war darunter. Ich sagte ihm Bescheid, damit er die Familien der Räuber über meinen Verbleib informieren konnte, falls jemand fragte.


    "Wenn du dir das wirklich antun willst, halte ich dich nicht auf", sagte Garlyn, "aber ich halte es für Dummheit. Die Lebenden können dich sicher besser gebrauchen als die Toten. Dass wir hier in Sicherheit sind, wurde von deinen und meinen Leuten mit ihrem Blut bezahlt. Vergiss das nicht."


    "Wie könnte ich das je vergessen", sagte ich leise. "Leb wohl."


    Damit verließ ich die Söldner und die überlebenden Räuber samt ihren Familien und kehrte zurück in den nächtlichen Wald. Diesmal rannte ich nicht, denn es gab keinen Grund. Besser war es, unentdeckt zu bleiben. In der Ferne sah ich Lichter. Als Menschen konnten sie sich bei Nacht im Wald ohne künstliche Beleuchtung nicht effektiv bewegen, da sie nichts sahen, doch sie bereiteten sich auf den ersten Lichtstrahl des Tages vor, um auf den Turm zu marschieren. Welche Ratte war nur für all das verantwortlich? Und warum?!


    'Geld', sagte ich mir in Gedanken, denn darum ging es seit jeher.


    Es roch nach Blut, Schweiß, Urin und Fäkalien. Der Geruch war so scharf, dass ich genau sagen konnte, wo ein Toter oder Schwerverletzter gelegen hatte. Das Laub war aufgewühlt, das Unterholz vollständig niedergetrampelt, die Moospolster abgerissen, Steine von ihrem alten Platz fortgerollt. Die Baumstämme, die unsere Leute von oben heruntergestoßen hatten, hatten Schneisen der Verwüstung geschlagen und junge Bäume abgeknickt, umgebogen oder entwurzelt. Hier und da lagen Gegenstände, die verloren worden waren.


    Da ich mich gut auskannte, wusste ich eine Stelle, wo die Mauer so verwittert war, dass ich sie mithilfe eines dort aus dem Gestein wuchernden Baumes erklimmen konnte. Leise kletterte ich auf den Wehrgang. Die Radhora hatte hier oben nur sehr wenige Wachen, da sie nicht vorhatten, lange zu bleiben und auch nicht mit einem Angriff rechneten. Die meisten Wachen hatten beim Tor ihren Posten bezogen, so dass ich mich wie ein Schatten auf den oberen Ebenen der Ruine bewegen konnte. Ich musste nur wenigen Soldaten ausweichen und das fiel mir nicht schwer. Sie fühlten sich sicher und schliefen oder unterhielten sich. Doch ihre Gespräche brachten nichts Interessantes zu Tage.


    Auf einem Dach bezog ich meinen Posten und beobachtete den Innenhof. Und da sah ich Dolwin, der gut bewacht in Ketten auf dem Boden lag. Er war schwer angeschlagen, aber er lebte!

  • Kein Held


    Wie ungleiche Augen glotzten die Monde gleichgültig auf uns Sterbliche hinab: weiß und groß Oril, und daneben, tiefer hängend, klein und rötlich wie ein Himmelsgeschwür, Daibos. Reglos lag ich auf dem Dach, lautlos zitternd. Ein kaltes Rosa kroch vom Osten über den Horizont, als die Soldaten unseren Karren aus den Stallungen holten, gezogen von unseren beiden gutmütigen Ochsen. Nun bemerkte ich, dass die Schlafenden am Fuße der Mauer in Wahrheit Tote waren, die man dort niedergelegt hatte. Auf einer Seite, sorgsam gebettet, die gefallenen Soldaten. Auf der anderen Seite, achtlos hingeworfen und zum Teil übereinander liegend, die besiegten Räuber. Jene in ihrem Blute zu sehen, mit denen ich einen Tag vorher noch gegessen und getrunken hatte, erfüllte mich mit einem Gefühl tiefer Sinnlosigkeit.


    Der Tau glitzerte auf den Mauern der Ruine. Kurz döste ich weg, trotz Kälte und Grauen, und sah im Halbschlaf die Gesichter meiner Leute. Die Überlebenden mussten auf ihrem Marsch unter Garlyns Kommando schon ein gutes Stück hinter sich gebracht haben. Jetzt, da es wärmer wurde, legten sie wahrscheinlich eine Rast ein. Ihr Leben ging weiter. Das der anderen nicht. Alles, wofür ich jetzt noch hier weilte, war Dolwin, der mir einst geholfen hatte, als alle Welt wegsah, der mir eine Heimat geschenkt hatte und auch eine Ahnung dessen, was es gehießen hätte, von den eigenen Eltern erwünscht zu sein.


    Als sie an ihn herantraten, öffnete ich die Augen. Die Soldaten traten ihm in die Seite, damit er aufstand. Meine Hand ballte sich zur Faust. Mühsam kämpfte er sich auf die Beine. Jetzt, da er stand, sah ich das Ausmaß seiner Verletzungen. Seine Kleidung hing in dunkelroten Fetzen von seinem Körper. Erde und Blut verklebten die Haut. So gingen Orks mit ihren Gefangenen um, aber doch keine Menschen! Und doch geschah es. Das war sie also, die Zivilisation, die Begriffe wie "Humanität" und "Menschlichkeit" geprägt hatte.


    Der leuchtende Saum von Alvashek erhob sich über den Wald. Die Zinnen warfen lange Schatten, doch die Außenmauer leuchtete warm im Morgenlicht. Langsam kehrte das Gefühl in meine Finger zurück, doch nicht in mein Herz. Einige Soldaten aßen etwas, während andere sich bereits marschfertig machten, dann wurde getauscht. Sie gingen ihrem Dienstalltag nach, während Dolwins Leben an einem Faden hing. Bald bewegte die Armee sich durch das zerstörte Tor nach draußen in den Wald, der Dolwins Familie gehörte und den sie heute mit seinem eigenen Blut besudelt hatten.


    Ich wartete, bis sie außer Hörweite waren, ehe ich mich an die Verfolgung machte. Zügig setzte ich die Schritte, mied den gepflasterten Grund und folgte den Wurzelwegen und Wildpfaden, die sich parallel zur Straße durch den Wald wanden. Ich konnte ausreichend Abstand lassen, um mich nicht in Gefahr zu bringen, denn ich kannte hier jeden Winkel. Die Hauptstreitmacht der Radhora wanderte nach Osten in Richtung Turm, so wie Garlyn es geahnt hatte. Eine kleine Abordnung samt des Karrens mit den Toten und ihren berühmten Gefangenen im Schlepptau wandte sich nach Westen. Dieser folgte ich. Ihr Ziel war vorhersehbar und bestätigte sich im Verlauf des Marsches: Vellingrad.


    Hätte es etwas genutzt, die marschierende Armee mit Nadelstichen zu stören und zu traktieren? Konnte ein einzelner Mann eine professionelle Militäreinheit aufhalten, wenn sein Herz nur tapfer genug war? Falls ja, so war ich dieser Mann nicht.


    Als ich die Stadt erreichte, war später Vormittag und die Soldaten freuten sich auf das wartende Mittagessen. Ihre Toten würden in einer Zeremonie bestattet werden, in denen der die Magistrate der Stadt ihnen für ihren Dienst dankten. Die Angehörigen würden ihr Beileid und ihre Abfindung erhalten. Was aber auf Dolwin wartete, stand in den Sternen.


    Bevor ich Velingrad betrat, vergrub ich meine Waffen und die Rüstung in einem Obsthain unter einem knorrigen Apfelbaum. Alles militärische nahm ich ab. Natürlich sah man mir trotzdem an, dass ich gekämpft hatte, doch unbewaffnet und ungerüstet würde niemand Anstoß daran nehmen. So lange ich nicht an die Radhora geriet, spielte mein Äußeres keine Rolle. Der kleine Mann hatte andere Sorgen, als sich mit einem verdreckten Landstreicher anzulegen, der den Gestank des Todes auf dem Leib trug. Ich strich durch die Straßen, doch da die Truppe sich geteilt hatte, verlor ich Dolwins Spur. Ob sie ihn in die Kaserne brachten oder ins Rathaus, wo auch das Stadtgefängnis sich befand, wusste ich nicht. Und ich konnte schlecht jemanden fragen.


    Fürs Erste war Dolwin verschwunden. Ich würde warten. So bezog ich den verwilderten Apfelhain, wo ich mich von vergessenem Fallobst ernährte, das war vorerst genug. Schlaf fand ich nur tagsüber, wenn die Temperaturen es erlaubten. Kannte ich diese Situation nicht bereits? Der Kreis begann sich unaufhaltsam zu schließen. Im Gegensatz zu damals spürte ich eine gewisse Abgestumpftheit, konzentrierte mich nur auf die nächste Handlung und dachte möglichst wenig nach.


    Drei Tage später kündigten die Herolde Dolwins anstehende Hinrichtung an.

  • Dolwins Ende


    Die Raben umkreisten den Richtplatz. Ihr tiefes Krächzen, das an das Knarren von Bäumen erinnerte, klang durch den Herbstnebel. Die Menge drängte nach vorn. Ich bewegte mich schweigend unter den Menschen, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und einen Schal über Nase und Mund. Ich hörte, wie sie sich über die zerschlagene Räuberbande unterhielten, aber auch über geradezu grotesk banale, alltägliche Dinge, wie das spätere Mittagessen. Die großen Pflastersteine waren glitschig vom Morgentau, man musste langsam gehen. Als wir den Richtplatz erreichten, der von der Radhora gesichert wurde, drängte ich mich nach vorn. Die Menge stand so dicht, dass ich zeitweise ziemlich brutal dabei vorgehen musste. Bis in die erste Reihe schaffte ich es nicht, doch ich fand einen Platz, von dem aus ich das Geschehen im Auge behalten konnte.


    Mit verbundenen Augen und auf den Rücken gefesselten Händen stieg Dolwin von Niederau auf das Blutgerüst. Vier Folterknechte halfen dem Henker bei der Verrichtung seiner Arbeit. Man legte dem Räuberhauptmann ein Hanfseil um den Hals. Ein schweres Kaltblut wartete hinter dem Blutgerüst, lackschwarz glänzend wie die kreisenden Raben.


    Der Hinrichtungsort von Vellingrad war erhoben wie eine Bühne, gezimmert aus massiven Balken und sauber verplankt. In jeder Ecke stand eine Säule des mehrstöckigen Galgens. Ganze Räuberbanden konnten hier zeitgleich gehängt werden. Mit einem derart imposanten Galgen konnte Vellingrad überzeugend die örtliche Blutsgerichtbarkeit demonstrieren, also die Fähigkeit, Strafen gewaltsam zu vollstrecken. Darum befand sich der Richtplatz samt seinem Blutgerüst auch weit sichtbar auf einer Erhöhung, genau dort, wo die Handelsstraße in die Stadt hinein führte. Was auf dem Blutgerüst geschah, war eine Machdemonstration, aber auch eine Abschreckung, es dem Delinquenten gleichzutun.


    Inmitten dieses Blutgerüsts stand Dolwin von Niederau.


    Mein Herz raste, ich hörte das Pumpen dumpf in meinen Ohren. Der Henker drehte den Knoten nach hinten, zu Dolwins Nackenwirbelsäule, und drückte das Seil vorn in die weiche Halsmulde unterhalb des Adamsapfels. Er zog es händisch fest, damit es nicht verrutschte, wenn der Zeitpunkt gekommen war. Kalter Schweiß brannte in meinen Augen. Zwei alte Frauen geiferten, dass ihnen der Speichel aus den zahnlosen Mündern spritzte. Die Menschen um mich herum stanken nach dem Getreidebrei ihres Frühstücks, nach Lampenfett und altem Schweiß.


    Das Erhängen zählt im naridischen Grenzgebiet zu den häufigsten Tötungsmethoden. Ich will ehrlich sein: Auch wir Räuber hatten uns die Hände am Blut unserer Opfer schmutzig gemacht. Über das Erhängen wusste ich Bescheid. Bäume wachsen überall und ein Seil ist schnell gefunden. Im Wort 'Galgenbaum' ist die eigentliche Herkunft des Tötungsinstruments noch zu hören. Selbst das Eichenholz, das dafür als Baumaterial dient, hat seinen Ursprung in der Praxis, jemanden an Thayar, dem heiligen Eichbaum, zu erhängen. Der Galgen ist bekannt für seinen raschen und sicheren Tod. Darum war er beliebt. In der Praxis starben die meisten Delinquenten langsam unter Todesqualen.


    Ein kalter Wind trieb raschelndes Laub über den Richtplatz. Hinter mir hustete jemand, rechts und links applaudierten die Menschen, als der Henker seinem Gehilfen das Signal gab. Das Seil um Dolwins Hals zog sich straff, als der Folterknecht das Kaltblut antrieb.


    Dolwin stand einen Moment auf den Zehenspitzen, dann lösten seine Schuhe sich vom Grund. Das langsame Hinaufziehen verhinderte, dass seine Halswirbel brachen und zögerte den Eintritt des Todes hinaus. Ich wusste, dass die tiefe Lage des Seils ihm den Adamsapfel in den Hals drückte, der ihm die Luftröhre verschloss. Man erzählte sich, dass es extrem schmerzhaft sei, aber nicht lange dauern würde. Langsam zog das Seil ihn hinauf in den grauen Morgenhimmel. Und dort hing er. Die Menge schrie, die Raben krächzten. Ich schwieg, mein Hals fühlte sich genau so zugezogen an wie der des Mannes, der bis zum höchsten Punkt des Galgens gezerrt wurde, dem Platz für die schlimmsten Verbrecher.


    Es würde von einem schwachen Charakter zeugen, nun das Unrecht der Welt zu beklagen. Wir waren Räuber und kannten die Strafe. Aber Trauer ist erlaubt. Und so klagte ich nicht und klage auch heute nicht darüber, aber ich trauerte mit allem mir gegebenen Recht. Das Tuch, das ich über Nase und Mund trug, schmeckte nass und salzig. Vom Himmel fielen schwere Tropfen, klatschten laut auf das Pflaster.


    Wie lange es dauerte, bis das Leben aus ihm gewichen war, vermochte ich nicht zu sagen. Nach einer gefühlten Ewigkeit standen wir immer noch um den Galgen, an dem Dolwin von Niederau starb oder schon gestorben war.


    Das Erhängen war eine unehrliche Strafe, die ein Begräbnis ausschloss. Die einzeln herabfallenden Glieder warf man in die Knochengrube unter dem Blutgerüst. Man würde sich nicht die Mühe machen, die Fixierung nach dem Eintritt des Todes zu lösen. Selbst im Tode würden Dolwins Hände gefesselt sein. Falls man ein altes Skelett fand, das ansonsten keinerlei Hinweise mehr auf seine Todesursache bot, waren überkreuzte Hände immer ein Hinweis auf den Tod durch Erhängen.


    Die Raben sprangen, flatterten, pickten bereits an seinen Augen. Ich blieb stehen, bis die Menge sich zu zerstreuen begann. Eine Stunde? Eine halbe? Zwei? Der Letzte durfte ich nicht sein vor den Augen der Radhora.


    Ich kehrte nicht zurück in die Stadt, meine Füße trugen mich fort von Vellingrad, zurück nach Osten. Im Spätherbst war ich hier eingetroffen und im Spätherbst verließ ich diese Station meines Lebens. Dolwin hatte mir ein Leben geschenkt und seines endete hier.


    Im Obsthain grub ich die Schwerter aus, meines und das von Dolwin. Da zwei Klingen unbequem um die Hüfte lagen, schlang ich mir die Waffengurte um den Oberkörper, einen über der rechten und den anderen über der linken Schulter. Schwer lagen die beiden Schwerter über Kreuz auf meinem Rücken, während ich in gleichmäßigem Ausdauerlauf der regennassen Straße folgte. Ich würde noch einmal an der Räuberburg vorbeikommen, die schweigend im Wald stand und endgültig zur Ruine verkam, am verlassenen Grenzturm vorbei und dann würde ich der Straße nach Norden folgen.


    Kaisho war der Weg, der mir bestimmt war. Ich gedachte, der Einladung von Cherax und Mauli zu folgen und als Söldner anzuheuern. Dolwin hatte seine Zeit nicht an mich verschwendet. Ich war erwachsen und ich war ein Kämpfer. Für meinen eigenen Tod war in meinem Herzen kein Platz mehr.


    Es galt, mein Versprechen an ihn einzulösen: Aufzugeben war keine Option.


    Ende



    Serak erreichte die Söldner und schloss sich ihnen an.

    Er diente mehrer Jahre unter Garlyns Banner, bis die Truppe zerschlagen wurde.

    Danach machte er als Reliktjäger unter dem Künstlernamen "Sodo Mio" von sich reden.