Kriegerherz - ​Baxis NaNoWriMo 2023

  • Kriegerherz

    halbork.jpgVorwort


    Ich bin mehr als nur ein Halbork. Ich bin Serak - und ich werde meinen Platz in dieser Welt behaupten.


    Geboren wurde ich in den Bruthöhlen von Shakorz, doch zu Hause bin ich dort nicht. Von den Orks werde ich kaum besser als ein Sklave behandelt, obwohl ich ein tüchtiger Jäger bin und mir längst die Narben verdient habe, die mich zum Mitglied der Rotte machen. Als sie mir auch noch die Schuld für den Tod des Häuptlings in die Fußlappen schieben, lasse ich alles zurück,und fliehe hinaus in die Welt, die ich nur aus Erzählungen kenne.


    Mir ist eines klar: Wenn ich von den Orks respektiert werden will, muss ich das Undenkbare wagen und trotz meiner Abstammung ein Krieger werden.


    Meine Reise führt mich von der Tundra von Shakorz über die Menschenstadt Vellingrad bis zu den Wilden Wiesen von Alkena. Mir begegnen die blutrünstigen Orks aus Darazgord, eine menschliche Räuberbande mit einem Schicksal noch schwerer als mein eigenes, ein Troll, der abscheuliche Rezepte kennt und ein Tiefling mit einem merkwürdigen zusätzlichen Körperteil. Ich finde Feinde und Freunde, Vertrauen und Tod. Ich kämpfe gegen den Nachtmantel, gegen verräterische Söldner, für einen abtrünnigen Ritter und für das Recht einer eigenen Identität.


    Doch werde ich jemals den Respekt erlangen, den ich verdiene? Werde ich den Mut finden, nach Shakorz zurückzukehren und mich meinen alten Widersachern zu stellen? Oder werde ich mir selbst für immer ein Fremder bleiben?


    Tauche ein in die Welt von Asamura und begleite mich auf meiner abenteuerlichen Reise im Kampf um Anerkennung!

  • Nachtmantel

    Ich atmete tief durch die Nase ein, als ich in den uralten Wald eindrang. Die Nase ist bei der Jagd mein zuverlässigstes Sinnesorgan. Der Duft von Tannenharz und feuchter Erde vermischte sich mit dem würzigen Aroma von Rotkappen und Schwefelporlingen, doch ich war nicht zum Pilzesammeln hier. Mein Ziel war eine gewaltige Portion Fleisch für das geplante Festessen. Diese Jagd würde der Höhepunkt meines jungen Lebens werden. Zur Beute hatte ich nicht irgendein beliebiges Tier auserkoren, sondern den ungekrönten König des Waldes. Sein Herz würde ich dem Häuptling zu Füßen legen und mich in seinen nachtschwarzen Pelz kleiden, damit nie wieder jemand Anlass fand, auf mich hinabzusehen.


    Ich wanderte zwischen den uralten Bäumen entlang, bis Alvashek den Horizont berührte. Dann weckte eine scharf riechende Kuhle inmitten einer Lichtung mein Interesse. Die Grasnabe war bis tief ins Erdreich hinein aufgerissen. Obwohl es nicht geregnet hatte, glänzte die Erde feucht. Diese Spuren waren frisch. Der Keiler konnte nicht weit sein.


    Ich entledigte mich meiner Fellkleidung und rieb meine olivgrüne Haut von Kopf bis Fuß mit der Erde ein, die stark nach Wildschwein roch. Die Nasen dieser Tiere sind äußerst fein, doch man kann sie täuschen, wenn man geschickt vorgeht. Eine dünne Schicht auf dem Körper genügte, um meinen Schweißgeruch zu verschleiern.


    Danach zog ich meinen Lendenschurz aus Waschbärfell und das dazu passende Oberteil wieder an und hielt witternd die Nase in den Wind. Es war schwierig, mit meiner neuen Duftnote der Geruchsspur des Keilers zu folgen, und so richtete ich stattdessen den Blick auf den Waldboden. Mit zügigen, aber lautlosen Schritten folgte ich der Spur. Dank meiner Fußlappen, welche die Fersen und Zehen frei ließen, ging ich auch in höherem Tempo leise. Dabei trat ich mit den bekrallten Zehen zuerst auf, die sich kraftvoll in den Waldboden gruben, so dass ich trotz der Feuchtigkeit nicht ausrutschte.


    Alles war ruhig, bis ich auf einmal das Knacken kleiner Äste vernahm. Meine Finger schlossen sich fest um den Speer, den sogenannten Sauzahn. Die Wildschweinjagd war normalerweise eine Angelegenheit für Jagdtrupps mit der Unterstützung von abgerichteten Wölfen. Ich aber hatte nicht vor, mit irgendjemandem den Ruhm zu teilen, den diese Trophäe mir einbringen würde. Nicht weniger als meine Zukunft hing davon ab. In meinen jungen Jahren hatte ich bereits den höchstmöglichen Posten erreicht, der für einen Halbork möglich war, indem ich die Bruthöhlen als Jäger mit Fleisch versorgen durfte. Trotzdem wurde ich behandelt wie Dreck. Das konnte nicht alles sein, was das Leben zu bieten hatte. Doch da nützte kein Jammern. Ich wusste, dass man für Anerkennung kämpfen muss, und das tat ich.


    Das Rascheln wurde lauter und dann sah ich ihn – einen riesigen Keiler mit scharfen Hauern und schwarzem Fell. Ein klobiger Kopf hob sich in die Abenddämmerung, der feuchte Schweinerüssel bewegte sich schnaufend. Das war unzweifelhaft Rishakdirakal, der Nachtmantel. Seine Geschichte ist so alt wie die meine. So lange, wie meine Erinnerung zurückreicht, hatte ihn kein Speer zur Strecke bringen können. Zahlreiche Legenden rankten sich um den König des Waldes. Sein Tod durch die Hand unserer Rotte würde mein Geschenk an Häuptling Gory werden. Und vielleicht – nur vielleicht – würde der grimmige alte Ork dann seine Sicht auf Halborks überdenken. Wenn mein Plan aufging, würde er fortan einsehen, dass ich es zwar nicht in Sachen Körperkraft mit einem Ork aufnehmen konnte, doch dass ich diese Schwäche mit einem scharfen Verstand wettmachte. Überlegene Gegner zur Strecke zu bringen, war eine Frage der Strategie.


    Das Wildschwein senkte den mächtigen Schädel und durchwühlte mit seiner Nase das Laub. Ich trat langsam hinter den breiten Stamm eines alten Baumes, damit das Tier mich nicht zu früh sah. Den Sauzahn legte ich auf dem Boden ab. Stattdessen griff ich über meine Schulter, um den vergifteten Wurfspeer hervorzuziehen. Das korrekte Gift zu ermitteln und zu organisieren, war ein längeres Abenteuer gewesen, denn es sollte eines sein, dass sich beim Erhitzen vollständig zersetzte. Nur so war sichergestellt, dass das Fleisch nach der Vergiftung überhaupt noch genießbar war. An solche Informationen kommt man nicht so einfach und an ein geeignetes Gift noch viel schwerer.


    Ich spähte aus meinem Versteck und sah die breite Flanke des Keilers. Die Gelegenheit könnte nicht günstiger sein. Ich hob den Speer über die Schulter, trat hinter dem Stamm hervor und schleuderte ihn kraftvoll auf das Tier.


    Mit einem heiseren Quieken bäumte das Wildschwein sich auf. In seiner Flanke steckte der Schaft. Es begann zu toben, buckelte und und schüttelte sich. Der Keiler geriet außer Rand und Band. In diesem Zustand sind Wildschweine für jeden Jäger eine tödliche Gefahr, auch für einen Ork. Die Verletzungen, die sie mit ihren Hauern reißen können, gleichen Messerwunden. Sie sind tief und bluten stark. Die Wahrscheinlichkeit, daran zu sterben, ist hoch.


    Ich spürte meinen Herzschlag überdeutlich und zitterte vor Anspannung, doch ich musste warten. Das Gift wirkte nur langsam. Die Wirkung verhinderte in erster Linie, dass das Tier in seiner Panik auf Nimmerwiedersehen davonlaufen und sich in einem unzugänglichen Dickicht verstecken würde. Doch es tötete dieses massige Tier nicht. Dazu genügte die Dosis nicht und es bedurfte des Sauzahns.


    Ich packte den Schaft der Lanze fest mit beiden Händen und hielt sie auf Hüfthöhe. Kaum dass ich in seinem Blickfeld auftauchte, stürzte der Keiler sich auf mich mit einem Schrei, der fast wie der eines Orks klang. Ich rammte das hintere Ende der Lanze in die Erde und spannte alle Muskeln an, während ich auf den Einschlag wartete. Als das Tier versuchte, mich zu beißen, stürzte es sich mit seinem gesamten Gewicht auf die schwarze Feuersteinspitze. Ein Ruck ging durch den Sauzahn, meine Füße versanken ein Stück im Waldboden. Steine rollten unter den Hufen des Nachtmantels, Äste brachen knackend. Ich musste alle Kraft aufwenden, um dem Druck standzuhalten. Die messerscharfen Hauer sausten nur fingerbreit an meinem Gesicht vorbei, als das Wildschwein mit dem Kopf hin und her schlug. Mir blieb nicht viel Spielraum, um auszuweichen. Aber wenn ich jetzt nachgab, wäre es das Ende meines Traums. Unser Kampf zog sich gefühlt endlos in die Länge. Diese Tiere sind unwahrscheinlich zäh und kampfstark, selbst bei schweren Verletzungen. Ich änderte unter Aufbietung meiner ganzen Kraft den Winkel des Sauzahns und schob weiter. Langsam drang die Spitze weiter in Richtung des Herzens vor, Stück für Stück.


    Dann war es so weit. Ein letztes Beben ging durch den König des Waldes, ein Zittern, ein Zucken und dann brach er zusammen. Erleichtert löste ich den Griff um den Schaft der Lanze. Ich zog ich mein Jagdmesser, eine Eisenklinge, die fast das Ausmaß eines Kurzschwertes hatte. Es war mein wertvollster Besitz. Mit einem letzten Stich von einer anderen Seite, der ebenfalls auf das Herz zielte, setzte ich dem Leben des riesigen Nachtmantels endgültig ein Ende.


    Stille senkte sich auf den Wald. Sogar die Vögel schwiegen, als ob sie den Tod des Königs mit Fassungslosigkeit betrachteten. Der letzte Saum der Sonne versank hinter den Wipfeln der Tannen. Die blaue Zeit des Zwielichts brach an.


    Entkräftet sank ich neben dem Keiler auf den Waldboden. Meine Arme und Beine zitterten, das Herz schlug mir bis zum Hals. Erst jetzt bemerkte ich die ganzen Schürfwunden an meinen Zehen, Ellbogen und Händen, in denen die dreckige Erde klebte. Aber es würde keinen Sinn machen, sie vor der Heimkehr zu reinigen. Für einige Atemzüge ruhte ich mit geschlossenen Augen. Doch lange konnte ich nicht verweilen. Nicht um diese Zeit.


    Als ich mich halbwegs erholt hatte, suchte ich einige schlanke Baumstämme. Daraus improvisierte ich einen Schlitten. Um einen ausgewachsenen Keiler zu schleppen, genügte nicht einmal die Kraft eines Vollblutorks, geschweige denn meine. Die Stangen verband ich mit stabilen Pflanzen.


    Gerade, als den Schlitten vollendet hatte, drang ein Geruch in meine Nase, den ich gar nicht mochte. Meine Nase zuckte und ich wandte mich um. Ein hämisches Lachen schlug mir entgegen.


    «Eindrucksvolle Beute», schnarrte Kaudruk. Er war braungrün wie ein moosiger Fels, untersetzt und fett.


    «Oh ja», pflichtete ihm Skelix bei, der mit seiner athletischen Erscheinung in ein paar Jahren vermutlich der Traum aller Orkfrauen sein würde. Seine Haut war heller als die seines Kumpanen und eher graugrün.


    Beide trugen Jagdkleidung. Sie waren im gleichen Alter wie ich. Wir drei würden bald die Grenze zum Mannesalter überschreiten. Mit dem Unterschied, dass sie mit wehenden Bannern ins Lager der Krieger ziehen würden und ich zum Verrotten in den Bruthöhlen verdammt war.


    «Verzieht euch», knurrte ich und baute mich schützend vor meiner Beute auf. Doch meine Arme und Beine zitterten noch immer. Wie ein Kampf enden würde, war klar. Das sahen auch die beiden Fieslinge.


    Kaudruk stapfte einfach um mich herum und betrachtete fachkundig den Kadaver. Mit einem Mal weiteten sich seine Augen. «Ist das...»


    «Nein», sagte ich fest. «Der sieht ihm nur ähnlich.»


    Zweifelnd verzog Kaudruk die kahlen Brauenwülste. In seinem Hirn arbeitete es. Er sah dumm aus mit seinem fetten Gesicht, aber er war es leider nicht. Er war sogar ziemlich gerissen. Bei seinem Kumpan verhielt es sich genau umgekehrt. «Wenn das nicht der alte Nachtmantel ist, bin ich eine Brutmutter», brummte Kaudruk. «Komm, Skelix. Wir haben zu tun. Ich die eine Seite, du die andere.»


    Damit packte jeder eine Zugstange. Ohne mich weiter zu beachten, zerrten sie meine Beute in Richtung der Bruthöhlen.


    «Das könnt ihr nicht machen», brüllte ich außer mir. «Ich habe mich wochenlang auf diese Jagd vorbereitet, habe Rishakdirakal beobachtet, seine Gewohnheiten und seine Bewegungsmuster analysiert und eine Jagdstrategie erarbeitet. Kein anderes Rottenmittglied hat je allein ein Wildschwein erlegt und ich habe das bei so einem Brocken geschafft. Diese Trophäe ist meine Hoffnung auf ein besseres Leben.»


    «Ich hab da so ein Pfeifen im Ohr», meinte Skelix, ohne sich umzudrehen.


    «Eben. Hör auf zu heulen, Halbmensch», maulte Kaudruk gelangweilt.


    Worte halfen hier nicht. Beherzt schlug ich Kaudruk mit der Faust ins Gesicht. Er ließ die Stange fallen und drosch mit einem gewaltigen Schwinger zurück, doch ich riss schützend meinen Unterarm vor das Gesicht. Ich verpasste Kaudruk einen weiteren Boxhieb, der ihn mitten auf den Mund traf. Dort war kein Fleisch, dass ihn polstern könnte. Sein Kopf ruckte beim Einschlag nach hinten. Ehe ich ihm zum krönenden Abschluss einen Kinnhaken verpassen konnte, schickte mich ein Tritt in die Leber zu Boden.


    Und da lag ich nun, der Bezwinger des Nachtmantels, von zwei Halunken überrumpelt und gedemütigt. Nach Luft ringend wälzte ich mich auf dem Waldboden. In dem Moment, als ich zu Skelix hinauf schaute, landete sein Speichel mitten in meinem Gesicht. Wahrscheinlich hätte er es nicht dabei gelassen sondern mich nach allen Regeln der Kunst weiter gequält, würde Kaudruk nicht seit meinem Treffer verstummt sein. So wandte er sich diesem besorgt zu. Der Dicke saß da mit zusammengekniffenen Augen, die Hand auf den Mund gepresst. Zwischen seinen Fingern tropfte Blut hervor.


    «Wird es gehen?», fragte Skelix besorgt.


    «Klar.»


    «Lass mal sehen, sind die Zähne noch drin?»


    «Ich habe mir nur auf die Zunge gebissen. Jetzt hilf mir mal hier mit der Beute.»


    Kaudruk lockerte seine Muskeln, rappelte sich auf und griff erneut mit beiden Händen die Zugstange. Zum Abschied warf er mir einen hasserfüllten Blick zu. «Du wirst deine Abreibung bekommen, Halbblut. Aber nicht jetzt. Das Fest beginnt bereits um Mitternacht. Bis dahin müssen wir zurück sein.» Beim Reden waren seine Zähne rot. Er spuckte ebenfalls in meine Richtung. Dann drehte er sich um und die beiden zogen samt meiner Beute von dannen.


    Ich wollte ihnen hinterher eilen, um sie davon abzuhalten, meine Trophäe zu stehlen, meine Hoffnung auf Anerkennung, doch es gelang mir kaum, auch nur zu sitzen. Ein Tritt in die Leber ist kein Zuckerschlecken, besonders nicht, wenn ein Ork der Urheber ist. Es fühlte sich an, als würde der Sauzahn in meiner Leber stecken.


    Ich richtete den Blick in den Himmel, um die Tageszeit abzuschätzen. Oril, der größere der beiden Monde, leuchtete als weiße Sichel. Aber Daibos, unter dessen rotem Schein ich geboren worden war, prangte voll und rund über mir wie ein entzündetes Wundmal. Sein Licht hatte mir noch nie Glück gebracht. Mühsam stemmte ich mich auf die Füße. Ich musste hier fort, ehe der Blutgeruch die Wölfe anlockte. Beim Gehen nutzte ich den Sauzahn als Krücke, um mich durch die beginnende Nacht zu den Bruthöhlen zu schleppen.

  • Die Bruthöhlen

    Bevor ich in Sichtweite der Bruthöhlen kam, straffte ich die Haltung und schluckte den Schmerz hinunter. Mein Gesicht erstarrte zu einer Maske der Unerschütterlichkeit. Niemand sollte sehen, wie es in mir brannte. Aufrecht trat ich durch den Eingang, der in die Tiefe des Hügels führte. Der Vorhang aus Fluchplättchen strich leise klingelnd über meinen Körper. Die warme Luft, die aus dem Inneren wehte, roch vertraut, sie trug den Duft von feuchter Erde und süßem Räucherwerk hinauf, nach frisch geschlagenen Holzplanken und herb riechendem Teer.


    Die Aromen der Bruthöhlen weckten ein Gefühl von Vertrautheit. Hier lebte ich seit meiner Geburt, hier ruhte und schlief ich. Aber es war auch der Geruch des Ortes, an dem ich, so lange ich denken kann, unter dem ständigen Druck stand, mich beweisen zu müssen.


    Der in den Hügel hineingetriebene Gang wurde in regelmäßigen Abständen von Balken gestürzt. Von ihnen hingen Knochen, Töpfe, Seile und anderes Material, für das man keinen besseren Stauraum wusste. Die Bruthöhlen waren eine eher unordentliche Angelegenheit, doch für Orks bedeutet Unordnung Behaglichkeit, denn sie zeigt, dass hier jemand wohnt und werkelt. Ich kam an unregelmäßig geformten Lagerkammern vorbei. Beim Bau folgte man der Natur des Erdreiches und grub, wo es weich war. Wo es hart war, ließ man es. So ergab sich eine organische, ziemlich chaotische Architektur.


    Als ich in einen Seitengang bog, strich erneut ein Vorhang klingelnder Metallplättchen über meinen Körper. Die eingravierten Fluchzeichen richteten sich gegen unbefugte Eindringlinge und mies gelaunte Götter. Jeder Eingang war auf diese Weise gesichert.


    Ein Trupp Kinder rannte auf mich zu. Sie durften fast alles, ohne dabei Pflichten zu haben, und ich beneidete sie um ihre Freiheit. Ich hatte schon mit anpacken müssen, kaum dass ich laufen konnte. Wie eine grüne Flut quollen sie um mich herum, quetschten sich zwischen mir und der Höhlenwand vorbei und verschwanden johlend in der Dämmerung des ewigen Fackelscheins. Nun würden auch sie nach Wildschwein stinken, so wie alles, was ich berührte. Alle einzelnen Gerüche in den Bruthöhlen vermischten sich zu einem Ganzen, das an jedem Bewohner haften blieb, so dass ein Rottengeruch entstand. Jede Rotte roch anders.


    Der Gang nahm hier an Höhe zu. Rechts und Links führten Trittstufen in Wohnhöhlen. Aus deren Eingängen quollen alle möglichen Kunstwerke: Schrumpfköpfe von Tieren – meist über die Mutterlinien weitergereichte Erbstücke, die über die Jahrzehnte immer mehr wurden – Pelze aller Altersstufen, von frisch und glänzend bis zu zottelig und zerfallend, und manchmal auch die Füße schlafender Orks. Ein Gewirr von Wäscheleinen, von denen weitere Pelze und Windspiele aus Knochen baumelten, verwandelten den Wohnbereich der Mütter und ihrer Kinder in einen Dschungel. Mitten darin sah ich immer wieder arbeitende Halborks, die etwas reparierten, neu bauten oder von hier nach da trugen. Ich duckte mich unter einem Wall allzu tief hängender Fußlappen und Lendenschurze hindurch, stolperte über einen Stapel Schüsseln, der sich im Gang verteilte und kam an eine weitere Kreuzung. Die Gänge führten von hier aus in alle Richtungen, damit meine ich nicht nur rechts und links, sondern auch oben und unten.


    Ich bog durch den klimpernden Fluchvorhang nach links unten in einen schmalen, kühlen Gang ein. Ich näherte mich dem engen Trakt für die Halborks. Wir hatten ihn selbst gegraben und ausgebaut und hätten ihn gern großzügiger dimensioniert, doch das Erdreich war hier dermaßen hart und von Grundgestein durchzogen, dass wir froh waren, überhaupt vorangekommen zu sein. Immerhin besaßen wir nun einen eigenen Bereich, an den wir uns zurückziehen konnten und wo man uns meist in Ruhe ließ. Besonders während der Schlafenszeiten war das wichtig, denn ständig herumkommandiert zu werden, weil man zufällig in Blickweite war, machte auf Dauer sehr müde.


    Mein Weg führte mich tiefer. In den allgegenwärtigen Fluchketten, die im kalten Wind klimperten, hingen verstaubte Spinnweben. Zwischenzeitlich musste ich mich durch vollständige Finsternis tasten, weil die Fackeln nicht aufgefüllt worden waren. Hauchzarte Schleier strichen durch mein Gesicht. Etwas Kaltes zappelte unter meinen Fingern, ehe es fortglitt. Schritte nahten von vorn und für einen Moment wurde es für uns beide sehr eng. Hier passten kaum zwei Mann aneinander vorbei. Ich presste mich mit dem Rücken an die Holzverkleidung, die diesem Bereich den Charme eines verwinkelten Bergwerks verlieh, identifizierte den Geruch eines Bekannten namens Znorla und grüßte ihn kurz, ehe es weiterging. Fackellicht markierte das Ende des langen Ganges und die Ankunft im Trakt. Hier gab es keine Kinder. Kein einziges.


    Ich ging auf den Lichtkegel einer rußenden und stinkenden Fackel aus Fischfett zu. Leib um Leib presste sich grüßend an mir vorbei. Jeder einzelne duftete fortan nach Wildschweinurin. Es gab im Vergleich zu anderen Rotten viele Halborks hier, die meisten waren in meinem Alter. Doch nur wenige trugen die Narben, die sie als vollwertige Stammesmitglieder kennzeichneten. Das befreite uns nicht von unserem Joch, gab uns jedoch ein paar Privilegien, wie meine Arbeit als Jäger und das Recht, vor niemandem das Haupt senken zu müssen, nicht einmal vor dem Häuptling.


    Ich kletterte eine Holzleiter hinauf und wuchtete mich unter dem Geklimper der Fluchketten ins Dunkel meiner Wohnhöhle hinein. Unelegant walzte ich durch die unförmige, mit Fell gepolsterte Öffnung in den Hohlraum, wo mein Milchbruder halb vergraben inmitten unserer Habseligkeiten schlummerte.


    Das melodische Klingeln der Fluchketten entlockte Katax ein Schnaufen. Ich ließ mich neben ihn in die Felle sinken, schmutzig, wie ich war. Nach dem Trocknen konnte man den Dreck einfach abklopfen. Gewaschen wurde hier nichts. Die Wände, der Boden und die Decke unserer gemeinsamen Schlafhöhle waren mit dichten Winterfellen verkleidet. Die Spinnennetze und achtbeinigen Mitbewohner störten nicht die Behaglichkeit, die ich empfand.


    Der kurze schwarze Haarschopf von Katax schob sich langsam unter einem Fell hervor, dann setzte er sich auf. Als er sein Gesicht rieb, verstrubbelte er seine Brauen. Viele Jahre hatte er sie sich mit Bimsstein vollständig heruntergerubbelt, um orkischer zu wirken, doch weil ich das mit meinen eigenen Brauen auch nicht tat, hatte er sein Aussehen schließlich akzeptiert. Am Ende war es ihm sowieso nicht möglich, seinen Blutstatus zu verbergen, ob mit oder ohne Brauen. Die längliche Form unserer Nasen, die fehlende Klobigkeit von Hals und Schultern und unser kleinerer Wuchs waren nicht zu leugnen.


    Zur Begrüßung drückte er lächelnd seine Stirn gegen meine, wie es üblich war unter Vertrauten. «Na, dann erzähl mal», sagte er. Seine Stimme klang leise und sanft. Wie ich hatte er bereits den Stimmbruch hinter sich. «Du riechst nach Wildschwein», fuhr er fort. «Kann ich davon ausgehen, dass die Jagd erfolgreich verlief? Ich habe in der Zwischenzeit schon alles für die zwei Halsketten vorbereitet, eine wird mit Eisensplittern dekoriert und eine mit Knochenperlen. Du als Jäger darfst dir natürlich aussuchen, welche du überreichen willst.»


    Er stellte zwei Tonschalen zwischen uns, in denen alle Materialien sortiert lagen, die man für das Basteln der Ketten benötigte. Leider würde es dazu nicht kommen.


    «Die Strategie war gut und das Gift hat so gewirkt, wie geplant. Ich habe den Nachtmantel bezwungen», sagte ich. Bevor Katax mich mit dem wohlverdienten Lob überschütten konnte, fügte ich düster hinzu: «Aber er wurde mir abgenommen.»


    «Was?», rief Katax entsetzt. «Von wem denn? Wie konnte das passieren, du warst doch bewaffnet?!»


    «Indem sie zu zweit waren und ich allein. Und ich kann nicht einfach jemanden abstechen, auch nicht, wenn er Kaudruk oder Skelix heißt.» Ich gab mir keine Mühe, die Bitterkeit in meiner Stimme zu verbergen, denn wäre mein Milchbruder dabei gewesen, wären die Chancen ausgewogener gewesen. Eine unangenehme Pause entstand, die ich trotzig aufrecht erhielt, damit Katax sich gebührend schämte.


    «Bist du verletzt?», fragte er schließlich leise.


    «Blöde Frage», fuhr ich ihn an. «Denkst du, ich hätte ihnen meine Beute kampflos überlassen? Bin ich ein Sklave? Ich trage die Narben der Rotte!» Seine Aussage machte mich wütend. Wie kam er auf die Idee, ich sei genau so verweichlicht wie er? Um unsere Verschiedenheit zu betonen, setzte ich nach: «Und jetzt gib mir was zu trinken, ich verdurste.»


    Meine Handbewegung war die Gleiche, mit der ein Ork uns Halbblüter heranzuwinken pflegte. Da ich ausgesprochen schlechte Laune hatte, nahm ich mir das heraus. Mit verdrossenem Gesicht wühlte Katax nach einem vollen Trinkschlauch. Ich trank das lauwarme Haferbier in einem Zug und wischte mir mit dem Handrücken über den Mund. Dann suchte ich nach einem frischen Lendenschurz.


    «Willst du allein baden gehen?», fragte Katax kleinlaut. Dass er sich das Gegenteil wünschte, war klar. Es sollte ein Versöhnungsangebot sein.


    Mich nervte seine Art heute extrem. Warum kam er nicht einfach mit, oder gab wenigstens einen kernigen Spruch zum Besten, um mir gegenüber sein Gesicht zu wahren, nachdem ich ihm eine Breitseite verpasst hatte? Weil er eben Katax war, keine Narben trug und kein Jäger oder Wächter war, darum. Mein verweichlichter Milchbruder, der nichts konnte, außer Atemluft zu verbrauchen, unsere Höhle auszupolstern und zu basteln, während ich für zwei auf die Jagd ging.


    Ich merkte, dass ich ungerecht wurde und mich in meinen Zorn hineinzusteigern begann, an dem er ursächlich keine Schuld trug. Schuld waren Kaudruk und Skelix.


    So riss ich mich zusammen. «Du kommst natürlich mit. Machen wir es uns im Wasser gemütlich und reden ein bisschen.»

    Ich hängte meine schlammtriefenden Klamotten und Fußlappen über eine Wäscheleine seitlich unseres Höhleneingangs. Dann griff ich mir einen trockenen Lendenschurz und nahm ihn mit auf meinem Weg die Leiter hinab. Man darf sich unter diesem Kleidungsstück kein schmales Lederläppchen vorstellen. Der orkische Lendenschurz besteht aus zwei knielangen Fellen, welche die ganze Hüfte umschlingen, eins von hinten und eins von vorn. Oft baumeln Schwänze von Wölfen oder anderen Tieren zum Schmuck und als Trophäe daran, manchmal auch Zähne, Krallen und Knochen. Frauen und Mädchen tragen zusätzlich ein Oberteil, das ebenfalls aus Fell besteht, für Männer und Jungs genügt der Lendenschurz, wenn die Witterung es erlaubt. In den Bruthöhlen gehen alle Bewohner barfuß, draußen umschlingen Lederstreifen die Füße.


    Der Lendenschurz, den ich wählte, bestand aus den Fellen eines Wolfspaares, das einen unserer Jäger getötet und der Rotte lange Zeit große Sorgen bereitet hatte. Wie viele weitere Tote wir betrauern müssten, würden diese Tiere noch leben, weiß niemand. Aber ich weiß, dass ich dieses Leid verhindert habe. Vielleicht waren es ausgerechnet Kaudruk und Skelix, die mir ihr Leben verdankten. Ein breiter Ledergürtel hielt den Lendenschurz an Ort und Stelle. Eine Kette aus ihren Krallen, eine aus ihren Zähnen und etliche weitere Trophäenketten gehörten ebenfalls zu diesem Erscheinungsbild. Ich nannte es «mein Jägergewand». Diesen Schurz trug ich nur zu besonderen Anlässen oder an dunklen Tagen, an denen ich mich selbst daran erinnern musste, dass die Beschimpfungen nicht der Wahrheit entsprachen, dass ich Erniedrigungen nicht verdient hatte und ein tüchtiger Jäger war. Aber ich möchte ehrlich sein - es gab Zeiten, da glaubte ich den Orks jedes Wort und versank in einem Dunkel, das nichts und niemand zu erhellen vermochte.


    Missmutig stapfte ich voraus, mein Jägergewand samt Schmuck über dem Unterarm. Auf dem Weg in die Grotte mussten wir am pompösen Eingang der Erzhöhle vorbei, einem Festsaal mit schwarzen Wänden. Das eingeschlossene Eisenerz darin schimmerte wie Sterne im Schein des Kamins, der direkt in den Stein gehauen worden war. Es war der prächtigste Raum der Bruthöhlen.


    «Aus dem Weg!» Ein Halbork, voll beladen mit Speisen, drängelte sich an mir vorbei. Ein Weiterer warf Holz in die Feuerstelle, die in der Wand eingelassen war und den Rauch in Richtung Himmel entließ. Ein dritter fegte mit einem Besen die Spinnweben von den schillernden Wänden, da sie alt waren und nicht mehr schön aussahen. Ihre Bewohner krabbelten unbeachtet in alle Richtungen davon. Da Spinnen die Bruthöhlen von Ungeziefer freihielten, waren sie erwünschte Mitbewohner. Vor dem Feuer bereitete man die kreisrunde Sitzecke, die aus ausgebreiteten Pelzen und strohgefüllten Fellkissen bestand. In der Mitte arrangierte man die ersten Häppchen auf Scheiben von Baumstämmen, damit die Gäste nach dem Eintreffen sofort zugreifen konnten. Zwei Halborks diskutierten darüber, wo sie einen Kistenstapel als Raumtrenner aufbauen sollten, um mehr Intimität zu schaffen, und ob man sie mit Fellen behängen sollte.


    «Ein paar zusätzliche Fluchketten mit einigen Spezialzeichen würde ich empfehlen», flüsterte ich Katax mit einem verschlagenen Grinsen zu.


    «Einmal im Leben so speisen», schmachtete er.


    «Dann beteilige dich am Dienst», sagte ein weiterer Halbork laut. Dabei warf er uns einen strengen Blick zu: Znorla Bruchzahn, der sich stets besonders emsig um das leibliche Wohl von Häuptling Gory mühte. Natürlich, wer auch sonst. «Wenn du gut arbeitest, sieht man darüber hinweg, wenn ab und zu genascht wird.»


    «Genascht», wiederholte ich verächtlich. «Ich habe den Braten erjagt, den sie heute fressen werden!» Dabei schlug ich mit der Faust auf meine Brust.


    «Das ist ja auch deine Aufgabe, oder?», entgegnete Znorla unbeeindruckt. «Wenn ich mich recht entsinne, warst du früher ganz wild darauf, Jäger zu werden. Jetzt bist du es, und ein Jäger jagt.» Demonstrativ widmete er sich einem ansprechenden Arrangement der Wildgänseeier. Dabei fasste er sie bemerkenswert liebevoll an. Mir lag eine böse Analogie zu Gorys Gemächt auf der Zunge.


    Doch Katax, der mich besser kannte als jeder andere, legte seine Hand auf meine Schulter. «Komm, Bruder», sagte er sanft. «Das ist nicht unser Fest.»


    Für noch mehr Streit mit ihm fehlte mir die Kraft. Letzten Endes hatte mein Milchbruder keinen Zorn verdient. Er war zwar ein ziemlicher Lappen, aber wenigstens biederte er sich den Orks nicht so ekelerregend an wie Znorla Bruchzahn.

    Widerstandslos ließ ich mich von Katax hinab zu den Grotten führen.

  • Grottengespräch

    Die Badegrotte war aufgrund der Vorbereitungen für das Fest heute frei von Besuchern. Katax und ich hatten sie ganz für uns. Wir spazierten gemütlich durch die unterirdischen Kavernen mit ihren ausgewaschenen Gängen und Hohlräumen, bis wir unseren Stammplatz erreichten. Dort legten wir unsere Kleider an einer trockenen Stelle nieder. Nebeneinander ließen uns in das warme Wasser sinken, das von einer heißen Quelle gespeist wurde. Über Umwege beheizte sie die gesamten Bruthöhlen. Ich tauchte komplett unter, rieb mir Kopf und Gesicht sauber, dann den Rest meines Körpers. Der Wildscheingestank wurde langsam von Wasser und Wind davongetragen. Nachdem ich mich gereinigt hatte, schwamm ich ein wenig durch die verzweigten Höhlen. Das Fackellicht spiegelte sich auf dem glasklaren Wasser. Ich genoss die Wärme und die einsame Stille. Die Reinigung erstreckte sich nicht nur meinen Körper, sondern auch meinen Geist.


    Erfrischt und wieder besser gelaunt kehrte ich zu Katax zurück. Er döste am Beckenrand und genoss das warme Bad. Ich gesellte mich zu ihm und so ruhten wir schweigend, während ich aus halb geschlossenen Augen den Dampf beobachtete, der über die spiegelglatte Wasseroberfläche kroch.


    Ich bemerkte, dass die Wahrnehmung von Katax wie so oft in die Ferne driftete. Da er – genau wie ich – zu düsteren Fantasien neigte, zog ich ihn wieder aus seinen Gedanken: «Katax?»


    «Hm?»


    «Wovon träumst du gerade?»


    «Von nichts Schlimmen. Ich versuche mich an einem Gedicht.»


    Ich verschluckte etwas von dem Badewasser und musste husten. «Was zum Abgrund...?!»


    «Du musst das nicht verstehen.» Er lächelte.


    «Tu ich auch nicht», sagte ich entschlossen. Gleich darauf tat es mir leid, dass ich heute nur an ihm herumnörgelte, obwohl er nichts für meine Laune konnte. Im Versuch, noch etwas Freundliches von mir zu geben, fragte ich: «Und, äh, worum geht es darin?» Hoffentlich war es nicht auch noch ein Liebesgedicht! Nicht von ungefähr trug er den vollständigen Namen «Katax der Träumer».


    «Mein Gedicht handelt von der fernen Welt, die hinter der Tundra von Shakorz beginnt», sinnierte er. «Von all den wunderbaren Dingen, welche die Krieger von ihren Raubzügen berichten. Von den weißen Gletschern Arashimas und den goldenen Weizenfeldern Almaniens. Ich versuche, die Beschreibungen in Reime zu gießen. Aber was reimt sich auf Tundra?»


    «Nichts! Zum Henker, Katax! Nimm mir das, was ich jetzt sagen werde, nicht übel, aber du bist mein Bruder und ich kann nicht schweigen, wenn du drauf und dran bist, eine Dummheit zu begehen. Man wird dich auslachen und für völlig durchgeknallt halten! Orks dichten nicht!»


    «Aber ich sehe die fremden Länder so klar vor mir, als wäre ich selbst dort gewesen. Ich möchte dieser Vorstellung irgendwie Ausdruck verleihen. Ein würdiges Gewand geben, damit ich diese Bilder niemals vergesse.»


    «Du könntest die Landschaften auch in Knochen schnitzen», schlug ich vor, «oder auf Wände malen. Auch Krieger schnitzen und malen. Aber dichten? Willst du noch mehr ins Abseits rutschen, als du es ohnehin schon bist?»


    «Ich bin kein Krieger und werde nie einer sein. Ob ich dichte oder nicht, sie werden mich immer als einen Halbmenschen sehen. Da mache ich mir nichts vor.» In seinen Worten lag keine Bitterkeit, nur ruhige Erkenntnis. In Momenten wie diesen bewunderte ich ihn für seine Geduld mit den zumeist äußerst garstigen Orks und auch mit sich selbst, vor allem aber für seine Geduld mit mir, denn ich war kein einfacher Zeitgenosse. Auch nicht für ihn, den einzigen, den ich Bruder nannte.


    Umso größer war meine Sorge um ihn. «Es gibt so viele orkische Kunstformen. Gerade unsere Rotte ist für ihr Kunsthandwerk berühmt, für ihre Schrumpfköpfe und Windspiele, für ihre Trinkgefäße und Ketten. Muss es denn ausgerechnet ein Gedicht sein?»


    «Muss es nicht», sagte Katax. «Aber weder Malerei noch Schnitzerei kann das wiedergeben, was ich vor mir sehe, wenn ich die Augen schließe und von der Fremde träume. So gut kann ich weder schnitzen noch malen. Ein Gedicht würde meine Vorstellung am besten konservieren. Vielleicht kannst du dieses Bedürfnis nicht verstehen, weil du die Narben unserer Rotte unter dem rechten Ohr trägst. Du durchstreifst als Jäger die Tundra und die Ausläufer des Kargetas, du hast die Flüsse und Seen mit eigenen Augen gesehen und sogar einmal die Salzstraße betreten, die in das geheimnisvolle Land der Menschen führt. Du kennst die Welt, den Wind und die Weite. Mir bleibt nur die Arbeit als Sklave und die ewige Enge der Bruthöhlen.»


    «Gar nichts kenne ich. Die Welt muss so gigantisch sein, dass Shakorz nur ein winziger Flecken Land ist. Als ich durch Zufall auf die Salzsstraße stieß, war ich bereits mehrere Tage auf der Jagd unterwegs. Die Welt hat nirgendwo ein Ende, zumindest war keines in Sicht. Ich war noch nicht mal bei den Menschen angelangt.»


    «Die Krieger sagen, dass die Salzstraße von Händlern bereist wird und von bewaffneten Salzreitern. Hast du Menschen gesehen?»


    «Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, weder damals noch zu einem anderen Zeitpunkt. Aber ich bin der Salzstraße eine Weile gefolgt. Ich dachte ...» Ich tat, als müsse ich meine Nase reiben, da mir das Thema näher ging, als ich zugeben mochte. «Ich dachte, wenn wir Halborks doch so menschlich sind, wie man uns immer einredet, vielleicht würden wir bei den Menschen eher willkommen sein als hier? Vielleicht sind wir ihnen derart ähnlich, dass sie uns nicht mal als Halborks erkennen würden?»


    Jetzt war es an Katax, große Augen zu machen. «Vergiss es. Ich habe mal einen menschlichen Schrumpfkopf untersucht. Sie sind ... fleischfarben. Wir sind grün.»


    Ich dachte eine Weile nach. «Womöglich war der Schrumpfkopf gebleicht. Man kann sie alchemistisch behandeln. Außerdem gibt es unter Orks verschiedene Hautfarben. Kaudruk ist ja auch eher bräunlich und Skelix fast grau. Warum soll das nicht auch unter Menschen so sein? Das war vielleicht der Kopf eines Exoten.»


    «Ausschließen kann ich das nicht, Serak. Aber seine Ohren waren auch rund wie die eines Wiesels. Ich denke, so viel Mensch, dass sie uns mit einem der ihren verwechseln könnten, steckt nicht in uns.»


    Ich blieb skeptisch. «Abgesehen von den äußeren Unterschieden mag es trotzdem sein, dass Halborks bei ihnen willkommen sind. Was spricht dagegen? Unsere Väter waren schließlich Menschen, sie gehörten zu ihnen. Das muss man denen einfach verklickern. Sicher gibt es unter den Menschen auch welche, deren Väter Orks waren. Halborks eben, nur von der Vaterlinie her orkisch, statt wie wir hier allesamt über die Mutterlinie.»


    «Serak, hör auf damit. Jetzt bist du es, der Unsinn träumt, und das weißt du. Menschen sind Futter und Spielzeug. Sie sind anders als wir und taugen nicht als Ersatzrotte. Wahrscheinlich werden sie dich sogar töten, weil sie nicht gegessen werden wollen.»


    «Ich habe noch nie einen Menschen gegessen.»


    «Wissen sie das? Sie zu verzehren ist nichts Ungewöhnliches für unsereins, das musst du zugeben. Schlag dir diese blöde Idee aus dem Kopf. Du weißt nicht, was für Gefahren außerhalb von Shakorz auf dich zukommen.»


    «Eben», beharrte ich, «das kann niemand wissen, bevor er es nicht mit eigenen Augen gesehen hat. Noch schlimmer als das hier kann es doch kaum sein, oder?»


    Katax plätscherte mit seinen Füßen. «Was ist an deinem Leben denn so schlimm? Wir liegen in einer heißen Quelle und genießen ein entspanntes Gespräch. Später wird es warmen Fleischbrei für uns geben.»


    «Reste.»


    «Sollen die vielleicht weggeworfen werden? Wir sind davon groß geworden und offensichtlich gesund, der Brei kann also nicht schlecht sein. Und weil du die Narben trägst, musst du weniger schuften als andere und kannst dich frei in der Wildnis bewegen. Sicher, manches könnte besser laufen, aber im Großen und Ganzen haben wir es doch gar nicht so schlecht. Denk an Darazgord. Diese Rotte wirft Halbblüter nach der Geburt in eine unendlich tiefe Felsspalte, um sie loszuwerden. Wir leben immerhin als Sklaven und manche von uns sind sogar Jäger oder Wächter der Bruthöhlen.»


    Natürlich versuchte er um jeden Preis, mir meine gelegentlichen mehrtägigen Streifzüge auszureden. Er hatte Angst, dass ich ihn eines Tages endgültig zurücklassen würde, denn begleiten konnte er mich nicht. So sehr mir Katax auch am Herzen lag, er war mit seiner Sonnenangst für mich auch eine lebende Fußfessel und das wusste er. Mich frustrierte, dass er bislang kein einziges Mal versucht hatte, seine Sonnenangst zu überwinden. Mit dem Status Quo war er anscheinend recht zufrieden. Was mich betraf ...


    «Ist ja auch nicht so wichtig», murrte ich resigniert. Ich rutschte tiefer ins warme Wasser. «Vergiss, was ich sagte. Und was dein Gedicht betrifft: Versuche es doch mal damit, die Worte umzustellen, so dass Tundra nicht mehr am Ende vorkommt, sondern irgendwo in der Mitte.»


    Das Schweigen, dass nun folgte, war friedlich und einträchtig. Alles war wieder wie immer. Nur unser gelegentliches Plätschern war für geraume Zeit zu hören.


    «Es tut mir leid», sagte Katax schließlich. Seine Stimme hallte in der Stille, obwohl er nicht laut sprach.


    Ich grinste. «Dass du dichtest? Dann lass es.»


    «Davon rede ich nicht. Es tut mir leid, dass du niedergeschlagen wurdest und deine mühsam vorbereitete Jagd am Ende vergebens war. Ich wünschte, ich wäre bei dir gewesen, wie ein Bruder es in solchen Situationen sein sollte. Sag mir, was ich tun kann, um das wieder gutzumachen.»


    Aber ich winkte ab. «Schwamm drüber. Mit deiner Sonnenangst wärst du mir da draußen keine Hilfe gewesen, weil ich während der Jagd meist in der Dämmerung unterwegs bin. Hättest du gefragt, ob du mich begleiten kannst, hätte ich abgelehnt. Und, hm, meinerseits ist wohl auch eine Entschuldigung fällig. Mein Zorn gilt eigentlich Kaudruk und Skelix ... und ...» Es fiel mir schwer, es auszusprechen, doch ihm gegenüber musste es raus: «Vor allem mir selbst. Ich hatte gehofft, dass Häuptling Gory mich vor versammelter Mannschaft lobt, wenn ich ihm den Nachtpelz präsentiere, damit keiner mehr wagt, mich wie einen Sklaven zu behandeln. Diese Hoffnung wurde zunichte gemacht. Du hast meinen Frust leider abbekommen. Das hättest du nicht verdient gehabt. Wir sind also quitt.»


    Und außerdem gab es keinen anderen Weg, als ihm alles zu vergeben und zu vergessen, denn er würde auch bei der nächsten Jagd und der nächsten Auseinandersetzung nicht dabei sein. Sollte ich denn jedes Mal mit ihm streiten? Dafür lag er mir zu sehr am Herzen.


    Er legte den Kopf in den Nacken und blickte zu den Tropfsteinen hinauf. «Dann ist alles wieder gut zwischen uns?»


    Ich lächelte. «Es ist alles ist wieder gut.»


    «Skelix und Kaudruk sind wir bald los, Serak. Sie werden älter. Vielleicht nimmt Häuptling Gory sie diesmal schon mit zu den Kriegern? Es ist bewundernswert, dass du dich ihnen gestellt hast, um für deinen Traum zu kämpfen, auch wenn es vergebens war. Du hast mehr Orkblut abbekommen als ich.»


    «Unsinn», sagte ich.


    Nach kurzem Nachdenken schüttelte er den Kopf. «Die Wahrheit. Wir sind zur Hälfte Menschen, das kann man nicht wegdiskutieren. Das beschert uns nicht nur Haare an unmöglichen Stellen, sondern macht uns auch schwach.»


    «Katax.»


    Ich schwieg, bis er mir endlich das Gesicht zuwandte. «Ja?»


    Ich sah ihm fest in die Augen. «Sag mir noch einmal, dass ich schwach bin, und ich ziehe dir die Haare samt der Haut an den unmöglichen Stellen über die Ohren. Deine Sonnenangst hast du garantiert nicht von deinem Vater geerbt. Seit wann fürchten Menschen die Sonne? Nein, Katax, dass du dich schwach fühlst, liegt nicht an deinem verdünnten Blut, sondern nur an dir selbst. Du träumst von vielen Dingen, aber tust nichts, um sie zu erreichen, weil du ein Sklave bist - der Sklave deiner Angst. Aber jetzt ist Schluss mit diesem dunklen Thema. Wir hatten uns gerade wieder versöhnt. Genießen wir das Bad.»


    Er lächelte und ich versetzte ihm einen freundschaftlichen Knuff mit der Stirn. Unsere Welt war wieder heil, und ich fühlte mich besser. Den unabänderlichen Rest musste ich einfach ertragen und verdrängen.


    «Falls du mir tatsächlich was Gutes tun willst, um deine Schuld zu tilgen», fügte ich hinzu, «dann fang doch morgen an, dich deiner Angst zu stellen, damit wir eines Tages gemeinsam auf die Jagd gehen können. Du und ich, Seite an Seite, ich den Speer und du den Bogen. Ist das ein Traum, den zu verwirklichen sich lohnt?»


    Sein Lächeln verrutschte. Allein der Gedanke an das blendend helle Licht von Alvashek war dazu geeignet, ihn außer Fassung zu bringen.


    «Du musst ja nicht gleich in der Mittagssonne den Kargetas umrunden», ergänzte ich. «Jeden Tag einen Schritt mehr. Das klingt doch machbar, oder? Du verdienst die Narben eines Stammesmitgliedes genau so sehr wie ich.»


    «Also gut. Einverstanden», sagte er mit unüberhörbarem Widerwillen und wir gaben uns fest die Hand. Bevor ich allzu sehr darüber nachdenken konnte, dass allein die Entscheidung etliche Jahre benötigt hatte und ich am Ende noch in Versuchung käme hochzurechnen, in wie vielen Jahrhunderten wir endlich gemeinsam auf die Jagd gehen konnten, stieß ich mich ab und schwamm noch eine Runde.


    Wir blieben lange in der Grotte, weil ich zwischendurch am Wasserrand einschlief, den Kopf auf den warmen Stein gebettet. Als ich von der Musik der Trommeln und Hörner erwachte, wurde ich endgültig munter.


    Der Häuptling war da.

  • Gory Gierschlund

    Mein Magen knurrte hörbar und ich konnte kaum noch die Lider offenhalten. Es wurde Zeit, in unser Quartier zurückzukehren. Doch dazu mussten wir erneut an der Erzhöhle vorbei. Gerechter Zorn und Müdigkeit fochten um die Herrschaft in meinem Inneren. Auch meine Leber machte nun wieder verstärkt auf sich aufmerksam. Ich lenkte mich ab, indem ich die Stufen zählte, während ich mit Katax auf den Weg hinauf ging.


    Die Holzverkleidungen der Gänge vibrierten von den Trommelschlägen. Der Besuch von Häuptling Gory und einiger handverlesener Krieger wurde nicht nur in der Erzhöhle gefeiert, sondern überall. Der gesamte Bruthöhlenkomplex war außer Rand und Band. In der Luft stand der Geruch von warmem Haferbier und frisch aufgebrühtem Hafari. Dazu den berauschenden Rauch von Cogumelo, das man aus unterirdisch wachsenden Pilzen gewann. Junge Orks grölten ein Lied, dessen Text ihr Alter bestens widerspiegelte.


    Eine berauschte Truppe Halbstarker torkelte auf uns zu.


    «Biegen wir hier ab», raunte Katax.


    «Wegen den Spinnern gehe ich keinen Umweg.»


    «Die sind auf Ärger aus, das bringt doch nichts.»


    «Können sie haben!» In Wahrheit war ich todmüde und wollte nichts weniger, als mich zu streiten, doch ich konnte einfach nicht ertragen, wie man mit uns umsprang und war nicht bereit, ihnen einen Fingerbreit auszuweichen. Es wäre eine Niederlage vor mir selbst. Und eine Niederlage vor Katax, von dem ich hartnäckig hoffte, dass er sich eines Tages ein Beispiel an mir nehmen würde, denn zu zweit wären wir stärker.


    Wir mussten uns einige fiese Sprüche von den Halbstarken anhören, die ich genau so bissig erwiderte, aber da sie auf dem Weg in die Badegrotte waren, blieb es dabei. Nach der Auseinandersetzung fühlte ich mich nicht siegreich, obwohl ich meine Grenzen behauptet und meinen Milchbruder beschützt hatte, sondern noch müder als zuvor. Ich war es einfach nur leid.


    Wir kamen genau zu jener Zeit zur Erzhöhle, als ein intensiver Geruch nach Wildschweinblut daraus hervorquoll. Meine Beute wurde dem Häuptling präsentiert. Ich hörte das Staunen und die Rufe der Anerkennung. Ich ballte die Faust derart fest, dass meine Fingergelenke knackten.


    «Serak», sagte Katax besorgt, «das ist es nicht wert. Komm, lass uns weitergehen. Der Raum ist voller Krieger.»


    Ich drehte mich zu ihm um. «Und ich bin Jäger!»


    «Ja, und sie sind Krieger! Das ist ein anderes Kaliber als Kaudruk und Skelix. Jeder einzelne von denen ist einen halben oder ganzen Kopf größer als du und wiegt die Hälfte mehr oder sogar das Doppelte.»


    «Meinst du, ich hätte ihr Aussehen vergessen?» Ich schlug auf meinen Lendenschurz. «Aber ich habe den Geist und die Dunkelheit besiegt. Unter meiner Waffe ist heute der König des Waldes gefallen. Und diese kleinen Scheißer erdreisten sich ...»


    «Katax! Kaaa-tax! Bist du taub?» Eine Gruppe sehr miesgelaunter Orkfrauen guckte aus einem Gang. «Pack hier mal mit an! Aber zack-zack!»


    Er warf mir einen missmutigen Blick zu. «Ich komme dann später nach. Mach uns nicht unglücklich, ja?»


    Zur Antwort knurrte ich.


    «KATAX!»


    Ein letzter Blick. «Wir sehen uns später, Bruder.» Damit verschwand mein letzer Grund, mich zu beherrschen, in dem muffigen Gang, um irgendeiner banalen Aufgabe nachzugehen. Mein letztes Fädchen Geduld riss wie eine Spinnwebe im aufziehenden Sturm.


    Ich marschierte in die Erzhöhle ein wie ein Kriegsherr, der sein Schlachtfeld betrat. Auf meinem Weg nach ganz hinten kam ich an etlichen Orks vorbei, Männer wie Frauen, die in Fellnestern lungerten und sich von Halborks mit Speis und Trank bedienen ließen. Die Frauen wählten im Verlaufe des Festes den Vater ihres künftigen Kindes, entsprechend versuchte jeder Orkmann, sich besonders wirkungsvoll zu präsentieren. Sie waren mit Unmengen von Trophäen und Schmuck behängt, viele trugen frische Ziernarben. Allerdings wurden auch die Krieger ihrerseits umworben, denn nur ein Bruchteil von ihnen durfte heute hier sein, was sie zur heißbegehrten Mangelware machte.


    Ein Nebel von süßem Räucherwerk verwandelte die Gestalten in geisterhafte Erscheinungen. Bald würde mir der betörende Rauch zu Kopf steigen, doch meine Laune war schlecht genug, um die Wirkung zunächst zu unterdrücken. Am Rande meines Blickfeldes bemerkte ich eng umschlungene Leiber.


    Mir aber war das alles egal, die Männer wie die Frauen, mein Ziel war der Knochenthron ganz am Ende. Mit verkniffenem Mund marschierte ich durch den Rauch, der aussah, als würde sich in der Erzhöhle ein Gewitter zusammenbrauen.


    Der Knochenthron war jedoch bereits leer. Häuptling Gory, mit vollem Namen Gory Gierschlund, lümmelte in einem der Fellnester und wirkte nicht sonderlich nüchtern. An jede Seite hatte sich eine Frau geschmiegt. Sie redeten irgendwelchen Unsinn, während sie schmachtend den Körper des Dicken befühlten. Eine der beiden war meine Mutter Skugga, die seit jeher einen Narren an Gory gefressen hatte. Allerdings hatte er sich während der letzten Jahre bislang nicht von ihr erweichen lassen. Ihre Gegenwart trug nicht zur Verbesserung meiner Stimmung bei. Ich versuchte, sie nicht zu beachten.


    Znorla Bruchzahn zu ignorieren, der Gorys zerlatschte Füße massierte und die Wunden mit Speichel behandelte, fiel mir ungleich schwerer.


    Aber über Kaudruk und Skelix hinwegzusehen, die soeben dem Häuptling ein blutiges Wildschweinherz in einer Schüssel servierten, war unmöglich!


    «Wir übrreichen dir das Herz des Nachtmantels», verkündete Kaudruk. «Möge seine Kraft auf dich übergehen, Häuptling Gory!»


    «Wir hoffen, dass es dir schmeckt», ergänzte Skelix beflissen. «Den Rest der Beute haben wir einen Raum weiter aufgebahrt, damit dich der Wildschweingeruch nicht belästigt. Bevor es zerlegt wird, sollst du Gelegenheit erhalten, das Tier im Ganzen zu sehen.»


    Gory gab ein anerkennendes Geräusch von sich, in das die Umliegenden einstimmten.


    Meine beiden Kontrahenten waren inzwischen ebenfalls gewaschen und trugen ihre besten Felle. Dem Häuptling trat man nicht als wandelnde Schlammkruste gegenüber. Wie sie da so standen, fiel mir die Ähnlichkei zwischen Gory und Kaudruk auf. Es war nicht allein die üppige Figur, sondern auch die Gesichtszüge. Die meisten Orks kannten ihren Vater nicht, weil fast immer mehrere Männer in Frage kamen, doch in diesem Fall bestand wohl kein Zweifel.


    Das war vielleicht einer der Gründe für das wohlwollende, fast gütige Nicken von Gory. Er winkte Kaudruk gönnerhaft zu sich heran, um das im Blut schwimmende Herz zu inspizieren. Traditionell wurde zuerst das Herz vom ranghöchsten Anwesenden verspeist. Dann gab dieser das Festmahl für die Übrigen frei. Mit beiden Händen hob Gory das Herz über sich in die Luft. Die Frauen und Männer jubelten, während das Blut an seinen fleischigen, aber muskulösen Arme hinunter lief.


    «Ihr habt euch als wahre Jäger erwiesen», lobte er Kaudruk und Skelix. «Ich denke, es ist für euch beide nun an der Zeit, mich in das Lager der Krieger zu begleiten.»


    In dem Moment, als er das Herz an seinen aufgerissenen Mund führte, um den ersten Bissen zu nehmen, drängelte ich mich zwischen Kaudruk und Skelix nach vorn. «Häuptling, du wirst betrogen», sagte ich. «Die zwei hier haben den König des Waldes nicht erbeutet. Der wahre Bezwinger des Nachtpelzes steht jetzt vor dir, Häuptling Gory!»


    Er ließ das Herz sinken und musterte mich aus zusammengekniffenen Augen von Kopf bis Fuß. Anscheinend wusste er nicht, was er von meinem Auftritt halten sollte. Die Orks, die in seiner Nähe in den Nestern lümmelten, dachten nicht daran, jetzt still zu sein, um seine Antwort abzuwarten. Sie schimpften auf mich und versuchten, mich zum Gehen zu bewegen. Ich aber hielt dem Blick des Häuptlings stand und blieb, wo ich war. «So», brummte Gory schließlich. «Dann kannst du sicher auch erklären, wie das Wildschwein in den Besitz von Kaudruk und Skelix kommt ... Serak, den man Serak der Lügner nennt.»


    Dass er meinen Beinamen so betonte, gefiel mir nicht, doch er hatte mir das Wort erteilt, was hieß, dass er mich zumindest anhören wollte. «Natürlich kann ich das», sagte ich. «Sie haben mir meine Beute geraubt.» Grimmig starrte ich die beiden an. «Meine Verletzungen sprechen für sich, ich wurde niedergeschlagen.»


    Als Gory in Richtung von Kaudruk schaute, schüttelte dieser nachsichtig seinen Kopf. «Halbblüter haben immer irgendwelche kleinen Wunden. Serak wollte sich bei diesem Fest so gern vor dir beweisen, Häuptling. Wer will es ihm verdenken? Ein Halbblut bringt nun mal nichts anderes als Waschbären und Kaninchen nach Hause.»


    «Das stimmt nicht», fuhr ich ihn an. «Ich trage die Pelze zweier der gefährlichsten Wölfe am Leib, die Shakorz in den letzten Jahrzehnten erlebt hat! Hier, schau! Die Zähne und die Krallen! Sieht das aus wie Waschbär oder Kaninchen?»


    Kaudruk lächelte mild. «Auf natürlichem Wege verendete Tiere, geplündertes Aas. Ich wollte das nicht so deutlich sagen, aber wenn du dem Häuptling derart ins Gesicht lügst ...»


    «Das ist nicht wahr! Ich habe den Nachtpelz erbeutet, ich allein!»


    Kaudruk lachte leise. «Seit wann geht man allein und ohne Wolfsmeute auf Wildschweinjagd? Gibt es Zeugen für deine Geschichte?»


    «Euch», zeterte ich, «ihr verlogenen Aasgeier!»


    «Serak», brummte Häuptling Gory. «Ich heiße deinen Ehrgeiz gut, auch wenn viele meinen, dass er einem Halbblut nicht gut zu Gesicht steht. Aber sich auf Kosten anderer wichtig zu machen, das ist ein unwürdiges Verhalten.»


    Während er sprach, verschmierte meine Mutter mit dem Zeigefinger zärtlich das Blut auf seiner nackten Brust. «Kann mal jemand diesen Störfaktor entfernen», murrte sie. «Du kommst so selten zu uns, Gory. Willst du unsere Zeit wirklich damit vergeuden, dich mit einem nörgelnden Halbmenschen zu befassen?»


    «Richtig», pflichtete ihre Freundin bei, die auf der anderen Seite lag und nun zärtlich Gorys Ohr mit den Zähnen langzog.


    «Verbleiben wir so», brummte Gory mit sichtlichem Wohlgefallen. «In Anbetracht des feierlichen Anlasses sehe ich diesmal von einer Bestrafung ab, Serak. Aber dass mir so etwas kein zweites Mal zu Ohren kommt.»


    «Dein Urteil ist nicht gnädig, sondern ungerecht», fuhr ich den Häuptling an.


    Nun verfinsterte sich sein Blick. «Wie redest du mit deinem Häuptling? Verschwinde», grollte er. «Und für nächstes Jahr nimm dir ein Beispiel an Znorla Bruchzahn. Dann bin ich vielleicht bereit, dir mehr Zeit in meiner Gegenwart einzuräumen.»


    «Ich bin Jäger, kein Sklave», brauste ich auf. Dass dies ein Tanz auf Messers Schneide war, war mir bewusst, aber ich hatte nur diese eine Gelegenheit, die Dinge richtig zu stellen, bevor Gory für ein weiteres Jahr verschwand. «Ich trage die Zeichen der Rotte!»


    «Genug», schnauzte Gory. «Wer bist du, dass du dir anmaßt, zu beurteilen, was Recht und was Unrecht ist? Recht ist, was ich als dein Häuptling sage! Recht ist, was Kaudruk und Skelix als vollwertige Orks sagen! Dein Wort aber, Halbblut, ist nichts als vergeudete Luft, ein störendes Geräusch und verschwendete Zeit. Verschwinde aus der Erzhöhle! Sonst lasse ich dich hinausprügeln!»


    Ohne mir Zeit zu geben, seinen Befehl zu befolgen, griff er nach einer Tonflasche und schleuderte sie in Richtung meines Gesichts. Der Einschlag riss mich von den Füßen und weißes Licht explodierte vor meinen Augen.

  • Als die Welt kopf stand

    Als ich wieder zu mir kam, bestand die Welt für einige Momente nur aus meinem schmerzenden Schädel. Noch besorgniserregender war jedoch die merkwürdige Perspektive und das, was ich aus ihr heraus sehen musste.


    Langsam kehrte der Rest meiner Wahrnehmung zurück, weil einige Scherben zwischen meinem Rücken und dem Boden entlanggerissen wurden. Ich hob den Kopf und erblickte nebeneinander die fleischige Kehrseite von Kaudruk und die oft beneidete V-Form von Skelix, während sie mich an den Füßen über den Boden schliffen. An Kaudruks Hüfte hing ein klobiges Jagdmesser, das mir bekannt vorkam. Er musste ein Halbblut damit beauftragt haben, es aus unserer Schlafhöhle zu entwenden. Vermutlich Znorla Bruchzahn. Für Gegenwehr oder auch nur einen frechen Spruch war ich nicht mehr geistesgegenwärtig genug. Vielleicht war Gory es nun endgültig gelungen, meinen Willen zu brechen. Von meinem Kampfgeist war in diesem unglückseligen Moment meines Daseins nichts mehr zu spüren. Ich schwieg und ertrug, während ich einem ungewissen Schicksal entgegen schliff.


    «Schade, dass sich Gory niemals überzeugen ließ, Sitten wie in von Darazgord einzuführen», beschwerte sich Skelix. «Den Drecksack jetzt auf Nimmerwiedersehen in eine Felsspalte zu werfen, wäre genial. Gory ist zu weich.»


    «Er ist nicht zu weich, er ist der Meinung, dass wir Sklaven brauchen und jemanden, der die Frauen während der Abwesenheit der Krieger bewacht und bespaßt.»


    «Aber warum müssen es Halbmenschen sein? Warum dürfen wir nicht für immer hier bleiben?»


    Mir war zu schlecht, um mich zu amüsieren. Die meisten Halborks würden liebend gern ihre Arbeit in den Bruthöhlen für das Leben im Lager der Krieger eintauschen. Es war nicht so, dass die Frauen mit uns genau so zärtlich umsprangen wie mit Gory und seinem Gefolge.


    «Das muss so sein, weil sie von den Halbblütern nicht schwanger werden», antwortete Kaudruk. «Es ist also egal, ob die Frauen sich an denen abreagieren. Wir aber müssen die Bruthöhlen verlassen, wenn wir alt genug dafür sind, damit die Blutlinien nur durch die Stärksten fortgeführt werden. Außerdem scheitert dein Plan am Fehlen einer solchen Felsspalte, wie man sie in Darazgord hat. Aber wir haben was anderes.»


    Sie hoben mich hoch, jeder an einem Bein. Für einen Augenblick baumelte ich in ihrem Griff. Das schwarze Loch, das unterhalb meines Kopfes gähnte, bereitete mir ein gewisses Unbehagen. Von dieser Sorte gab es mehrere. Die meisten waren kleiner, damit kein Kind versehentlich hineinpurzelte, doch das hier war augenscheinlich der Beseitigung größerer Probleme gewidmet.


    «Auf drei», schnaufte Kaudruk.


    «Auf drei», bestätigte Skelix.


    «Eins – zwei – drei!»


    Gleichzeitig ließen sie meine Beine los. Wie einen nasser Sack rauschte ich in das Abfallloch. Kopfüber schlitterte ich durch Fäkalien und Essensreste, bis mein Sturz in einer ekelhaft weichen Sickergrube sein Ende fand. Langsam hob ich den Kopf, spuckte mehrmals aus und zog meine Arme aus der scharf riechenden Masse. Nur mühsam kam ich auf die Beine. Schwindel überfiel mich und beinahe wäre ich wieder gestürzt. Es kostete mich viel Kraft, meine Sinne zusammenzunehmen und nach der Öffnung zu tasten, durch die ich gestürzt war. Nach einer kurzen Untersuchung stellte ich fest, dass die Wände zu glitschig waren, um wieder hinaufzuklettern. Zudem war das Loch zwar groß genug, als dass ich hindurch gepasst hatte, aber zu eng, um sich für einen Aufstieg mit Armen und Beinen zu verkeilen. Ich war gefangen.


    Ich hatte derart schlimme Kopfschmerzen, dass ich nichts fühlte, keinen Zorn, keine Scham und keine Angst. Nur Schmerz und unendliche Resignation.


    Irgendwo gab es vielleicht einen zweiten Ausgang, denn diese Sickergrube war eine der zahllosen natürlichen Höhlen, die sich im Herz des Hügels wie Adern verzweigten. Viele Wege führten hinaus und hinein. Ich versuchte mich zu orientieren. Das Abfallloch war nicht weit vom Erzsaal entfernt. Dieser befand sich im Sockel des Hügels, recht weit westlich ...


    Das Lachen der Feiernden hallte bis zu mir herunter, das innige Grunzen und lustvolle Knurren. Wo mein Platz war, ob Jäger oder nicht, hatte man mir gezeigt.


    In die Geräuschkulisse mischte sich auf einmal eine weitere, gänzlich andere Stimmlage. Schrill, beinahe hysterisch. Das war meine Mutter, sie schrie Gorys Namen, dann plärrte sie nach dem Schamanen. Wenn ich es richtig verstand, lag der Häuptling gerade zuckend und krampfend am Boden und Schaum trat vor seinen Mund.


    «Vergiftet», heulte sie auf.


    Fast hätte ich aufgelacht. Das Gift, mit dem ich den Nachtmantel erbeutet hatte, entfaltete seine Wirkung. Hätte man mir Gelegenheit gegeben, alles so vorzubereiten, wie angedacht, wäre das Unglück nicht passiert. Auf Orks wirkte die Mixtur anscheinend fataler als auf ein Wildschwein. Kaudruk und Skelix hatten nicht gewusst, dass das Fleisch vor dem Verzehr hätte erhitzt werden müssen, um die Wirkung zu neutralisieren.


    «Das war der verdammte Halbmensch», rief Kaudruk.


    «Wie denn?!», brüllte ein anderer Ork, den ich nicht kannte, und der vermutlich zu Gorys Gefolge gehörte.


    Nun gab Kaudruk widerwillig zu, dass er gelogen hatte und dass meine Version der Ereignisse der Wahrheit entsprach. Er erklärte, dass ich der Bezwinger des Nachtmantels war. Allerdings war er es nun, dem man nicht glauben wollte.


    «Das sagst du doch nur, um deine Haut zu retten», grollte jemand.


    «Unsinn, warum sollte ich Gory vergiften wollen?! Ich verstehe mich gut mit ihm, er ist mein Vater! Das muss eine Falle gewesen sein», rief Kaudruk. «Serak hat das Fleisch aus Rache vergiftet, nachdem ich ihm die Beute abgenommen hatte, damit ihr mich für einen Mörder haltet!»


    Jetzt ergriff meine Mutter Skugga die Initiative. «Dann hol den Dreckskerl zurück», schrie sie. «Ein Folterer wird für Klarheit sorgen! Dann werden wir ja sehen, ob dein Kopf rollt oder seiner. Jemand wird hierfür zur Verantwortung gezogen! Und mir ist es völlig egal, wer von euch beiden das ist!»


    Im Hintergrund hörte ich das erstickte Röcheln von Gory und das Wimmern der Freundin meiner Mutter. Jemand brummelte, dass zufällig ein Folterer unter den Anwesenden sei. Es wurde Zeit, dass ich verschwand.


    Zwei Orks trampelten durch die Höhlen. Am Abfallloch schnaufte und rappelte es. Ich beeilte mich auf meiner Suche nach einem Ausgang. Während ich die Wände abtastete, schmatzten meine Füße bei jedem Schritt. Es musste doch einen Weg geben! Ich besann mich meines stärksten Sinnes und hielt die Nase in die ekelerregende Luft. Und da war er: der Hauch der Freiheit, der sich wie ein süßes Band durch den Gestank wand.


    «Ich gehe runter», schnaufte Kaudruk.


    «Das ist doch alles Wahnsinn», keuchte Skelix. «Wie kommst du dann wieder raus?»


    «Mit deiner Hilfe. Es gibt keine andere Möglichkeit, als ihn zu holen, wenn wir nicht selber beim Folterer landen wollen!»


    «Hast du wenigstens das Messer?»


    «Klar! Schau, ich winde das Seil jetzt hier um meine Hüfte. So, Knoten, alles sicher. Binde das andere Ende da drüben an dem Balken fest.»


    Es raschelte. Mir lief die Zeit davon. Ich löste meine Hände von der Wand und stapfte quer durch die Sickergrube, um den rettenden Ausgang zu erreichen, aus dem der frische Hauch wehte. Doch jeder Schritt fiel mir schwerer als der vorherige, weil der Matsch immer tiefer wurde. Ich sank bis zu den Schienbeinen ein, hoffend, dass ich nicht stecken bleiben würde. Im Abfallloch ertönte indes ein Schleifen, ein Flutschen - und dann ein entsetztes Ächzen. Das Klatschen jedoch, das bei der Landung im Matsch hätte ertönen müssen, blieb aus.


    Meine Mundwinkel zogen sich zu einem bösen Grinsen auseinander. Ich änderte die Richtung und ging zurück zu dem Rohr. Dort ertastete ich Kaudruk, der in der Öffnung feststeckte. Kopf und Schultern schauten aus dem Loch, die Arme klemmten im Rohr.


    «Kaudruk?», rief es von oben.


    Er wagte nicht, zu antworten, als meine Finger sein fleischiges Genick ertasteten. Dann stellte ich fest, dass er gar nicht sprechen konnte, denn zwischen seinen Zähnen klemmte mein Jagdmesser. Ich zog es ihm aus dem Mund. Langsam drückte ich ihm die kalte Klinge an den Hals. Ich ging vor ihm in die Knie und brachte meinen Mund an sein Ohr.


    «Na, du harter Hund? Wie geht es dir?», säuselte ich in falscher Freundlichkeit.


    Er schwieg. Sein Puls übertrug sich über das Jagdmesser, so dass ich seinen Herzschlag in der Hand spürte.


    Ganz leise fragte ich: «Verhandeln?»


    «Ja», kam kaum hörbar zurück.


    «Ich helfe dir jetzt aus diesem Loch. Du wirst mich nicht angreifen, sonst steche ich dich ab. Wir veranstalten anschließend ein wenig Lärm und inszenieren meinen Tod. Du wirst oben erzählen, ich hätte dich angegriffen und darum würden meine Gebeine jetzt in der Sickergrube verrotten. Hier unten wird ja wohl keiner nach meinen Überresten wühlen wollen. Außerdem wissen wir beide, dass es nur darum geht, jemanden für den Tod des Häuptlings zu bestrafen. Und dieser Jemand muss ich sein. Wenn ich tot bin, ist für die Rotte alles gut.»


    «Aber was geschieht danach mit dir?», flüsterte er.


    «Oh, nur keine falsche Sorge. Wenn du wieder oben bist, werde ich längst über alle Berge sein. Diesmal wird niemand erfahren, dass du gelogen hast, weil der einzige Zeuge nicht mehr zurückkehren wird.»


    «He», rief Skelix panisch. «Kaudruk? Was ist los?»


    «Ich hab ihn gepackt», brüllte Kaudruk zurück. Na also. Er spielte seine Rolle, wir waren im Geschäft. Ich schob das Messer in meinen Gürtel, packte seinen fleischigen Kopf und zog langsam und gleichmäßig an ihm. Kaudruk flutschte mit einem obszönen Geräusch aus dem Rohr und landete bäuchlings an der gleichen Stelle wie ich zuvor. Er hielt Wort und griff mich nicht an. Mein Messer genügte wohl als Argument. Wir knurrten und lärmten, klatschten mit den Händen gegen die Wand und stampften in den Matsch, bis ich meine Stimme nach und nach verstummen ließ.


    Stille senkte sich über die Sickergrube. Weder mir noch meinem Kontrahenten war ein Haar gekrümmt worden.


    «Kaudruk?», wimmerte Skelix.


    «Zieh mich hoch», rief der ins Loch. «Ich bin hier unten fertig.»


    «Warte», zischte ich kaum hörbar. «Wo muss ich lang?»


    «Woher soll ich das wissen?! Ich krieche normalerweise nicht in Sickergruben herum!» Damit verschwand Kaudruk auf dem gleichen Weg, durch den er gekommen war. Skelix rackerte sich ächzend damit ab, ihn wieder nach oben zu ziehen. Wäre er klug, würde er wissen, dass das nicht funktionieren konnte, weil er leichter als Kaudruk war. Er benötigte entweder Hilfe oder einen Flaschenzug. Mir war die Zeitverzögerung, bis er das herausfand, nur recht.


    Ich hob die Nase in die Luft, witterte und folgte dem süßen Duft der Freiheit.

  • Auf der Flucht

    Alles, was ich kannte, lag hinter mir. Ich war frei, hatte mein Joch abgestreift und niemand würde mich mehr erniedrigen oder herumkommandieren! Etliche Male hatte ich zurückgeblickt aus Angst, Kaudruk könnte sein Wort doch noch gebrochen haben, doch da war niemand. Ich rannte wie der Sturm, der über die Tundra fegt. Mein Herz schlug wie die trommelnden Hufe eines Hirsches und mein Atem war wie heißer Sommerwind. Noch nie hatte mein Körper so viel Energie mobilisiert, die sich anfühlte, als würde ich bis zum Ende der Welt laufen können. Frei, frei, frei! Über mir zogen die Wolken auseinander, als würde sich ein Vorhang öffnen.


    Ich verlangsamte meine Schritte und wanderte nun. Unter meinen Füßen knisterte das Gras, länger und weicher als im Revier meiner ehemaligen Rotte, doch gelb. Alvasheks Glut hatte die endlosen Wiesen verdorrt. Noch einmal wandte ich mich um, doch der Sommerwind wehte über verwaiste Hügel. Hier war niemand, weder Ork noch Tier. Alle Möglichkeiten standen mir offen und die Entscheidung über meine Zukunft lag ganz allein bei mir. Ich ging weiter nach Westen, bis die Nacht hereinbrach.


    In meinem Schlaflager aus Blättern und Reisig umfing mich das Zirpen der Grillen. Gelegentlich rief ein Nachtvogel. Sonst herrschte Stille. Obwohl ich nicht zum ersten Mal unter freiem Himmel übernachtete, hielt der Gedanke an Katax mich wach, sobald ich die Augen schloss. Wie mein Milchbruder wohl auf die Nachricht meines Todes reagiert haben mochte? Mein Gewissen begann sich zu regen, denn ich ahnte, dass es ihm ohne meinen Schutz schlecht ergehen würde. Der Gedanke nagte an mir wie ein Wolf an einem Knochen. Doch umzukehren, nur um gefoltert und hingerichtet zu werden, würde Katax nicht helfen. Nein, er musste lernen, allein klarzukommen, so wie auch ich das musste.


    Am Morgen meldete sich mein knurrender Magen, aber ich trug weder Proviant noch eine Jagdausrüstung bei mir, mit Ausnahme des Messers. Geplünderte Vogelnester, Wildobst und Beeren mussten vorerst genügen. Der Sommer bot ein reiches Festmahl, man musste nur suchen und zugreifen. Ich ließ es mir schmecken. Tag um Tag ging ich weiter in Richtung der untergehenden Sonne.


    Mein Ziel war Naridien, das Land der Menschen. Sie besaßen noch andere Länder, wie Almanien oder Arashima, aber mein Vater war Naridier gewesen und darum zog es mich dort hin. Man sagte, es sei ein reiches Land. Sicher würde auch für mich ein Platz zum Schlafen und etwas zu Essen übrig sein. Dass man mich als vermeintlichen Menschenfresser jagen würde, glaubte ich nicht. Und falls doch, würde ich weiter wandern.


    Sieben Mal ging Alvashek auf und wieder unter, bis ich endlich festen Schlaf fand. Mit einem Lächeln schlief ich ein, träumte von reichen Speisen und rundohrigen Menschen, die mich wie einen verlorenen Sohn willkommen hießen.


    Am achten Tag erwachte ich von dem Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Der Geruch und die Geräusche meiner Umgebung hatten sich verändert. Ich schlug die Augen auf. Da saß jemand im Gras. Als ich mich umsah, fand ich mich inmitten einer Gruppe fremder Orkkrieger wieder. Sie trugen die blutroten Bemalungen von Darazgord.


    Rasch legte ich zwei Finger unterhalb meines Ohres an den Hals und stellte mich vor: «Znorla Bruchzahn, unterwegs als Späher der Rotte der Skunks.» Ich hoffte, dieser Name und die Rottenzugehörigkeit würde sie überzeugen, mir nichts anzutun.


    «Als Späher? Du?», brummte ein kahlköpfiger Darazgord, der eine Sammlung von Schrumpfköpfen am Gürtel trug. Er musterte mich, als wäre ich ein widerliches Insekt. «Das wird kein gutes Ende nehmen mit den Skunks.»


    «Znorla Bruchzahn ...», sinnierte ein anderer. Er trug einen dünnen Knochen quer durch seine Nase. «Der Name sagt mir was. Du bist doch so was wie ein Diener vom Häuptling, oder?»


    Ich nickte und begann mein Schauspiel: «Gory Gierschlund erwartet meine Heimkehr voll Sehnsucht, damit ich ihm abends, bevor er sich ins Nest legt, die Füße sauber lecken kann. Er zählt die Tage bis zu meiner Heimkehr. Sollte ich zu spät kommen, wird er einen Suchtrupp losschicken.»


    Der Ork zog ein angewidertes Gesicht, sagte aber nichts mehr dazu. Meine Geschichte schien ihn überzeugt zu haben, mir besser nichts anzutun, um diplomatische Verwicklungen zu vermeiden. Trotz ihrer Abneigung gegen Halborks blieben sie um mich herum sitzen, um eine Weile zu rasten. Fünf Mann waren es insgesamt. Wahrscheinlich waren sie auf Neuigkeiten aus. Andernfalls würden sie sich kaum mit mir abgeben.


    «Und wer seid ihr?», fragte ich, um das Gespräch nicht abreißen zu lassen.


    «Ich bin Garok von der Rotte der Darazgord», stellte der Kahlkopf mit der Schrumpfkopfsammlung sich vor. Er schien der Anführer zu sein, zumindest trug er die meisten Trophäen. «Den Namen solltest du dir merken, denn er ist wichtig.» Die Erklärung, warum das so war, blieb er mir schuldig. «Die Namen der anderen spielen keine Rolle. Was suchen die Skunks im Westen, Znorla Bruchzahn?», wollte er wissen.


    Ich hatte also recht mit meiner Vermutung, dass sie mich aushorchen wollten. «Dies und das», sagte ich. «Aber ich gehe davon aus, dass Darazgord eigene Späher hat, um sich über die Ereignisse im Westen zu informieren - weitaus fähiger, als ich es je sein könnte.»


    Garok gab etwas Unverständliches von sich. Der Ork mit dem Knochen reichte mir etwas zu Essen. Das fand ich überraschend freundlich, bedankte mich, wünschte ihm die Kraft aller möglichen Mächte und schlang das Trockenfleisch gierig herunter. Sie schenkten mir sogar eine Flasche Haferbier, das mir einen angenehmen Energieschub verlieh. Der Schmerz in meinen Füßen verflog und die Müdigkeit in meinen Beinen ebenfalls. Meine Lügengeschichte musste hervorragend gewesen sein. Außerdem bescherte es mir ein Gefühl von Genugtuung, Znorlas Name durch den Schlamm zu ziehen und ihn vor den Darazgord lächerlich zu machen.


    Als die Darazgord sich schlafen legten, schloss auch ich noch einmal die Augen. Nichts tat mir weh, die Vögel sangen und es war angenehm warm. Vielleicht würden sie mir nach dem Erwachen eine weitere Mahlzeit spendieren oder noch einen Schluck Haferbier. Da ich satt und zufrieden war, träumte ich diesmal überhaupt nichts, sondern schlief so ruhig und zufrieden wie ein Säugling. Diesmal erwachte ich, weil sich an meinem Hals etwas befremdlich anfühlte. Sofort sprang ich auf die Füße, doch da zogen sich die zwei Schlingen schon zu. Zwei Seile lagen um meinen Hals und an jeder zerrte ein Ork, so dass ich hilflos in der Mitte stand. Ich hatte keine Chance, einen von ihnen zu erreichen. So griff ich nach meinem Jagdmesser, um die Seile zu durchtrennen, doch meine Finger fassten ins Leere.


    Garok grinste mich an. Er legte die Finger unter mein Kinn und zwang mich, ihn anzusehen. «Mal sehen, wie viel dem alten Gory deine Heimkehr wert ist, Znorla Bruchzahn. Du bist unser Gefangener. Verhalte dich kooperativ, dann wirst du vielleicht in einem Stück zu deinem Häuptling zurückkehren.»


    Gedanklich verfluchte ich mich für meine Naivität. Wie hatte ich nur annehmen können, dass die Darazgord es ausnahmsweise gut mit einem Halbblut meinen könnten? «Wo bringt ihr mich jetzt hin?», fragte ich argwöhnisch. Hoffentlich nicht in ihre Heimat! Die lag mitten im Kargetas und wenn man den Erzählungen der Krieger Glauben schenken durfte, war es ein einziger riesiger Kerker- und Folterkomplex.


    «Zu einem Bekannten, der sich um dich kümmern wird. Dort bleibst du, bis Gory die Auslöse zahlt. Und falls er die nicht zahlt ... nun, wir werden sehen. Komm jetzt, es wird ein langer Fußmarsch.»


    Was blieb mir anderes übrig, als den Darazgord zu folgen? Es war vielleicht eine Ironie des Schicksals, dass ihr Weg sie nach Westen führte. Wir folgten den Pfaden am Fuße der Berge, denen auch ich hatte folgen wollen. Meine Häscher brachten mich genau dorthin, wo ich auch ohne ihr Zutun hingegangen wäre. Während wir wanderten, überlegte ich fieberhaft, wie ich mich aus dieser Situation herausreden könnte, beschloss aber, dass es im Moment besser war, zu warten. Die Darazgord waren guter Stimmung und hatten mich nicht mehr als nötig gequält. Sie scherzten und freuten sich auf eine reiche Auslösung. Die Gefangenschaft hatte sogar etwas Gutes, denn die Darazgord schützten mich vor Wölfen und gaben mir ausreichend Nahrung und Wasser, gelegentlich sogar einen Schluck Haferbier, wenn meine Kräfte nachließen. Darüber hinaus krümmten sie mir kein Haar, weil sie mich für Gorys persönliches Lieblings-Halbblut hielten.


    Und diese Rolle spielte ich mit Inbrunst. Wenn das hier durchgestanden war, würde der echte Znorla sich nie wieder vor einem Darazgord blicken lassen können.


    Nach einer weiteren Woche Fußmarsch trafen wir die ersten Menschen. Zwei Männer. Beide waren leicht bewaffnet und schienen zu patroullieren. Sie hielten inne und verlangten, dass die Darazgord sich vorstellten. Allerdings schienen Orks in dieser Gegend nichts Ungewöhnliches zu sein. Ich hatte den sogar Eindruck, man kannte die Rotte der Darazgord recht gut. Es fiel mir schwer, die beiden Menschen nicht die ganze Zeit anzustarren. Sie waren etwa so groß wie ich, und die Beschreibung von Katax hätte nicht treffender sein können. Ihre runden Ohren glichen denen von Wieseln, aber ihre Zähne waren vollkommen stumpf, so dass ich mich fragte, ob sie ihr Gebiss vielleicht rituell glätteten. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass man damit irgendwelches Fleisch abbeißen und durchkauen konnte. Oder aßen sie am Ende nur Beeren und Obst?


    «Wir suchen Tjark Tinsky», informierte Garok, nachdem er sich als Anführer stellvertretend für seine gesamte Gruppe vorgestellt hat.


    «Der ist gerade im Feld unterwegs», sagte einer der Menschen. «Er muss Söldner jagen, es ist Erntezeit. Die grünen Kader bereiten den Bauern mal wieder Ärger, sie plündern das geerntete Korn und rauben das Vieh. Da muss Tjark für Ordnung sorgen.» Mich erstaunte, dass der Mensch Asami sprach, doch sein Dialekt klang noch fremder als jener der Darazgord. Sein Kamerad ging einige Meter abseits, um Ausschau zu halten und die Umgebung zu sichern.


    Garok grunzte ungehalten. «Das ist ungünstig. Wann kommt Tjark denn wieder? Ich habe ein Geschäft mit ihm abzuwickeln.»


    «Was für ein Geschäft?»


    Garok zog an meiner Leine, so dass ich einen Schritt nach vorn stolperte. «Es geht um einen Tauschhandel. Für dieses Halbblut hier wird Tjark von den Skunks alles Mögliche erhalten. Frag mich nicht wieso, aber der Bursche ist unwahrscheinlich wertvoll.»


    «Aha», sagte der Mensch. «Und warum tauschst du ihn nicht selbst bei den Skunks ein?»


    «Weil ich Geld brauche», sagte Gorok. «Bei Orks ist kein Geld zu holen. Ich brauche aber welches. Tjark hat als Kommandant der Radhora Trux genügend Zaster. Er wird mir das Halbblut abkaufen und tauscht es anschließend bei den Skunks gegen alles, was ihm beliebt.»


    Der Mensch war noch immer skeptisch. «Und was haben die Skunks zu bieten, dass Tjark es nicht auch von anderswo erhalten könnte?»


    «Du denkst zu materiell, aber das ist bei allen Naridiern ein Problem. Ich würde Tjark zum Beispiel empfehlen, eine strategische Gegenleistung für die Auslieferung zu verlangen. Er könnte bei Häuptling Gory durchsetzen, dass die Skunks dieses Jahr nicht ebenfalls noch die Bauern überfallen. Sonst würde er sich nicht nur plündernden Söldnern, sondern auch noch mordlüsternen Orks gegenübersehen. Mit diesem Burschen hier hat er bald ganz bequem eine Sorge weniger.»


    Wovon sprach der Kerl?! Die Skunks überfielen keine Menschen, dafür lag unser Revier zu abgelegen. Sie überfielen nicht mal andere Orks. Alles, was die Rotte benötigte, jagte, baute oder tauschte sie sich ein. Die Krieger dienten nur der Abschreckung und Verteidigung. Was spielten die Darazgord hier für ein Spiel? Oder ging es nur darum, mich zu verkaufen? Ich beschloss, zu schweigen. Erstens wollte ich so schnell wie möglich der Gegenwart von Garok entrinnen. Wer konnte wissen, ob seine gute Laune anhielt, wenn er mich nicht verkauft bekam und begann, mich als Ballast zu sehen? Und zweitens mahnte ich mich, dass ich nicht länger Teil der Skunks war. Ich durfte mich nicht einmischen, denn sonst würde man über kurz oder lang bemerken, dass ich noch unter den Lebenden weilte. Je weniger ich auf mich aufmerksam machte, umso besser.


    «Tjark wird erst in ein paar Tagen heimkehren. Wollt ihr so lange auf ihn warten?», schlug der Mensch vor. «Wir haben in Trux ein schönes Gasthaus.»


    «Ich habe kein Geld», grollte Garok. «Das ist ja das Problem. Wenn Tjark unterwegs ist, wirst du es eben sein, der mich für den Burschen hier bezahlt, oder ich nehme ihn mit und werfe ihn in die nächste Felsspalte. Dann darfst du dem Kommandanten erklären, weshalb die grünen Kader neuerdings Unterstützung von den Skunks erhalten! Ich werde dafür sorgen, dass Tjark Tinsky erfährt, wem er ihren Zorn zu verdanken hat, verlass dich drauf.»


    Garok war ein harter Verhandlungspartner, aber so leicht wollte der Menschenmann nicht klein bei geben. «Ich habe überhaupt keine Erfahrung mit Halborks», maulte er. «Wie soll ich allein mit dem fertig werden?»


    «Du musst nicht mit ihm fertig werden. Das sind die gebornenen Sklaven. Gib ihm einen Befehl und er wird gehorchen, so einfach ist das. Und unser Znorla Bruchzahn ist besonders handzahm», erklärte Garok, «und er leckt gern Füße. Das kannst du ihm vielleicht als Belohnung anbieten.»


    Es wurde eine zähe Verhandlung über meinen Preis, doch am Ende kam es zu einer Einigung und ich wechselte meinen Besitzer. Mein Jagdmesser wurde als Geschenk obendrauf gelegt. Dann drückte Garok dem Menschen feierlich das Seil in die Hand. Nach einem kurzen Abschiedswort verschwanden die fünf Orks auf dem Weg, auf dem wir gekommen waren. Der zweite Mensch begleitete sie noch ein Stück, weil er ihnen zeigen wollte, wo der Weg durch die Berge entlang verlief.


    Ich blieb mit dem anderen Menschenmann allein. Die ersten Meter trottete ich brav vor ihm her, damit die Darazgord sich außer Hörweite entfernten, dann blieb ich stehen und drehte mich zu ihm um. «Lässt du mich freiwillig gehen oder muss ich ungemütlich werden?»


    «W...was? Ich habe dich gekauft!»


    «Für einen Spottpreis», behauptete ich. Natürlich hatte ich keine Ahnung, mit wie viel Geld man einen Sklaven aufwog, aber da ich mir selbst sehr viel wert war, war ohnehin jeder Preis zu gering.


    «Er hat zugestimmt, oder?», trumpfte der Mensch auf. «Wenn Garok einen gesunden Sklaven für den Gegenwert einer Flasche Wein eintauscht, ist das sein Problem. Du bist doch gesund, oder?» Sein Blick huschte über meinen Körper.


    Ich nahm die Schlinge von meinem Hals. Darüber war er dermaßen entsetzt, dass er einen Schritt zurück wich. Ich zog mein Messer aus seinem Gürtel. «Das gehört mir.»


    «Aber du kannst nicht ... das war ein rechtmäßiges Geschäft!»


    «Du wirst dir von jemand anderem die Füße lecken lassen müssen. Leb wohl ... Herr.» Ich grinste und tippte mir zum Abschied an die Schläfe. Dann folgte ich der Straße weiter nach Westen, wo sich dicke Rauchsäulen in den Himmel wanden.

  • Über die Berge

    Trux war die erste Menschenstadt, die ich aus der Ferne zu sehen bekam. Der Rauch stieg aus baumhohen Schloten. Warum man so viele derart stark brennende Feuerstellen benötigte, konnte ich mir nicht erklären, noch weniger, woher all das Holz kommen sollte. Bemerkenswert fand ich die künstlichen Höhlen, die von den Menschen aus Steinen errichtet waren. Das war eine bemerkenswerte Idee, um sich vom Untergrund unabhängig irgendwo niederlassen zu können. Natürliche Höhlen schienen überhaupt nicht in Gebrauch zu sein. Allerdings fragte ich mich, ob das im Winter nicht zu kalt werden würde. Wir hatten immerhin schon Spätsommer. Doch ich sah keinerlei Vorbereitungen auf eine Abreise, so dass ich davon ausging, dass diese Menschen nicht nomadisch lebten, sondern das ganze Jahr über in Trux zu bleiben gedachten.


    Es gab an diesem Ort unwahrscheinlich viele Krieger, die in einem eigenen befestigten Lager lebten, doch beobachtete ich einen regen Austausch zwischen ihnen und den zivilen Familien. Sie handelten und als es dunkel wurde, kehrten sie gemeinsam in ein Haus ein, aus dem es köstlich nach Braten duftete. Das musste das erwähnte Gasthaus sein. Eine strikte Trennung, wie in Shakorz, konnte ich nicht erkennen.


    Zu gern hätte ich Trux besucht und mir all die Dinge aus der Nähe angesehen, doch da ich als flüchtiger Sklave galt, hielt ich es für klüger, im Schutz der Dunkelheit der Straße nach Westen zu folgen. In meinem Unwissen nahm ich an, die nächste Menschenstadt wäre sicher nur zwei oder drei Tagesreisen entfernt. Ich ahnte nicht, dass Trux der östlichste Außenposten von Naridien war, ein einsamer Vorposten der Zivilisation inmitten der Berge.


    Tag um Tag folgte ich der Straße. Sie bestand aus ebenmäßigen Quadern, die sich lückenlos ineinanderfügten und ein scheinbar endloses steinernes Band bildeten. Aufgrund ihrer Breite vermutete ich, es sei die berühmte Salzstraße. Doch warum nahm sie kein Ende? Müsste sie nicht die Städte und Dörfer der Menschen miteinander verbinden?


    Immer bergiger wurde das Land und immer mühseliger meine Reise. Schroffe Gipfel versperrten in alle Richtungen die Sicht. Während der Dämmerungszeiten organisierte ich mir Nahrung in den Bergen, doch zum Rasten zum Mittag und zur Mitternacht kehrte ich stets zur Straße zurück. Da ich nichts von Handel und Logistik verstand, begriff ich nicht, warum man eine so aufwändige Straße baute, wenn es hier außer Trux überhaupt keine Ortschaften gab.


    Meine Freude über die Freiheit wich jeden Tag mehr einem wachsenden Unbehagen. In der endlosen Fremde fehlte mir jeder Anker. Ich wünschte, ich hätte ein festes Ziel und wüsste, wie weit der Weg dorthin noch wäre!


    Das Wetter in dieser Gegend war unberechenbar. Erst schien die Sonne und urplötzlich riss ein starker Wind an meiner Kleidung, der nur wenig später Regen brachte oder sogar Hagel. Meist blieb mir nicht einmal genügend Zeit, um einen Unterschlupf zu suchen.


    Ich schätze, so ging es einen ganzen Mond, ehe mir endlich eine Wagenkolonne entgegenkam.


    «He», grüßte ich froh und hob die Hand. Damit ahmte ich den Gruß nach, mit dem Garok die Menschen begrüßt hatte. «Wie weit ist es bis zur nächsten Stadt?»


    Der Mann, dessen Wagen am weitesten vorn war, brachte sein Zugtier zum Halten. Ich kannte solche Tiere nicht. Es erinnerte am ehesten an ein Bergschaf, war jedoch weitaus größer und massiger. Außerdem hatte es keine Spalthufe, sondern besaß an jedem Bein nur einen einzigen runden Huf. Das kurze Fell war schwarz und weiß gescheckt, auf dem Hals stand eine Mähne empor.


    «Die Salzstraße führt als nächstes nach Vellingrad», informierte der Mann, der eine kreisrunde Fellmütze trug. Auf jeder Seite war innen ein Waschbärschwanz befestigt, der wärmend über die Ohren hing. «Ich möchte nicht unhöflich sein, aber was sucht jemand wie du denn dort?»


    Hinter ihm kamen die anderen Wagen zum stehen. Jeder wurde von ein oder zwei solchen Tieren gezogen.


    «Ich suche einen Ort, an dem ich bleiben kann.»


    «Wenn du Arbeit suchst, kann ich dich mit nach Trux nehmen», bot er an. «In der Erzmine brauchen sie immer Leute, die zupacken können. Oder vielleicht ist der Kohlebau eher was für dich?»


    Ich grinste gequält, denn er hatte den Kern meiner Frage nicht verstanden. Ich suchte keine Arbeit, ich suchte ein zu Hause.. «Trux ist nicht der Ort meiner Wahl, aber danke. Wie weit ist es nach Vellingrad?»


    «Du bist genau in der Mitte dazwischen.»


    «Oh.» Bei dieser Nachricht hätte ich mich fast auf den Hintern gesetzt. Ich hatte gerade einmal die Hälfte der Reise hinter mich gebracht. Aber immerhin wusste ich nun, wohin ich wollte und wie lange ich dafür noch wandern musste. «Besser, ich verliere keine Zeit, wenn ich noch vor Wintereinbruch dort ankommen will. Danke für deine Auskunft und gute Reise.»


    «Dir auch. Leb wohl.» Er schnalzte mit den langen Lederbändern, mit denen er sein Tier lenkte, und es setzte sich wieder in Bewegung. Die ganze schwer beladene Kolonne zog an mir vorbei. Planen bedeckten die Waren, aber ich roch vor allem Nahrung. Irgendwelche Körner, und das in rauen Mengen, dazu geräuchertes Fleisch und Fässer voll eingelegtem Fisch.


    Mein Magen knurrte, doch da ich nichts zum Tauschen besaß und der Mann mir nichts angeboten hatte, zogen die Reichtümer an mir vorbei.

  • Ankunft in Vellingrad

    Nebel hing feucht und kalt in den Bergen. Der See vor meinen Füßen ruhte still und schwarz, ein Gegenstück des lichtlosen Alldunkels zwischen den Sternen. Ein gelbes Blatt fiel auf die glatte Oberfläche und zeichnete Kreise, ehe die Reglosigkeit zurückkehrte. In dem schwarzen Spiegel des Wassers, von dem ich getrunken hatte, sah ich mein Antlitz. Ein junger Halbork blickte mir entgegen, dem gerade die ersten Barthaare neben den Mundwinkeln sprossen. Ein olivgrünes Gesicht mit unverkennbar menschlichen Zügen, die Brauen vor Anspannung verzogen. Die Spitzen meiner Ohren zitterten. Die Flucht hatte mich im Laufe des letzten Mondes durch die Tundra und über die Berge geführt. Da ich meine Nahrung unterwegs organisieren musste, hatte ich ein Vielfaches der eigentlichen Wegstrecke zurückgelegt. Von meinen Fußlappen war nicht mehr viel übrig, doch nun war ich fast am Ziel.


    Ich spuckte mir selbst ins Gesicht und zog weiter nach Westen, die steinige Straße entlang. In der klammen Kälte nahm ich den scharfen Geruch von Feuer wahr.


    Während der letzten Tage und Nächten hatte es gewittert und die Erde war vom Regen matschig, das lange Gras lag flachgedrückt. Nun aber herrschte Stille, kein Vogel sang und kein Wind wehte. Ich sah die Stadt im feuchten Dunst. Die Gebäude, die sich innerhalb der Stadtmauer aneinanderdrängten, wirkten bei diesem Wetter grau. Wie viele Menschen wohl dort leben, hunderte? Tausende? Sicher viele, doch war ich allein auf der Straße. Niemanden zog es bei diesem Wetter außerhalb der Stadt, zumindest nicht auf die Salzstraße.


    Erschöpft schleppte ich mich durch die klamme Kälte. Auf den nassen Ländereien weidete das Vieh und die abgeernteten Felder ruhten. Dahinter lagen winzige Holzhütten. Ich betrachtete einen schiefen, moosigen Zaun. War das die vielgerühmte Zivilisation, auf welche die Naridier so stolzt waren? Ich wusste es nicht, denn es war das erste Mal, dass ich eine menschliche Stadt betrat.


    Die Fellstreifen, die mir als Fußlappen dienten, umschlangen meine Füße als nasse Klumpen. Das Leben in Freiheit hatte im Sommer so gut begonnen, mit frischen Beeren und jungen Hasen, Mäusen und Ratten, was man mit bloßen Händen eben fangen oder ausgraben konnte. Einmal war es mir sogar gelungen, eine verletzte Bergziege zu erbeuten. Nun aber hielt der Herbst das Land in seinen Klauen. Es gab es nirgends trockenes Brennholz, meine Kleidung war viel zu sommerlich und ich fror erbärmlich. Die Flüsse und Bäche, aus denen ich getrunken hatte, führten schlammig braunes Wasser. Die kleinen Tiere, die ich gejagt hatte, hielten nun Winterschlaf oder waren in bessere Gebiete abgewandert.


    In den letzten Tagen hatte ich erlebt, was Hunger und Kälte bedeuteten, wenn man keine Höhle hatte, in die man zurückkehren konnte, um sich aufzuwärmen. Dabei hatte der Herbst gerade erst begonnen! Wie ich den Winter überleben sollte, wusste ich noch nicht. Die Menschen waren, das war mir bewusst, meine einzige Hoffnung. Vielleicht konnte mein menschliches Erbe mir das erste Mal in meinem Leben helfen. Mein Haupt war voll trüber Gedanken, doch am Ende der Straße flimmerten die Lichter von Vellingrad. Ich war am Ziel meiner Reise. Bei jedem Schritt wogen meine Füße so schwer, als würden sie in Eisenstiefeln stecken.


    Dass die Stadtwachen am Tor mich nicht durchlassen würden, war mir bewusst, so dass ich keine Zeit mit einem Versuch verschwendete. Stattdessen wartete ich auf den nächsten vollbeladenen Wagen. Ganze zwei Tage musste ich zittern und frieren, bis sich die Gelegenheit ergab, unbemerkt hinten auf zu springen und sich zwischen den Fässern zu verstecken. Auf diese Weise gelangte ich ins Innere der Stadt. In einer ruhigen Gasse sprang ich lautlos ab.


    Kunstvoll geschmiedete Laternen erhellten den Abend. Wohngebäude säumten die Straße, ziemlich hoch und eng. Sich seine Höhle selbst zu bauen, schien unter Menschen etwas Alltägliches zu sein. Ich blickte hinauf, Etage um Etage, bis hoch zu den Spitzgiebeln. Ich hatte nicht gewusst, dass man Steine derart hoch stapeln konnte, ohne dass sie zusammenbrachen.


    Ich stellte mir vor, wie mein Vater durch diese Straßen gegangen war. Hier würde ich ihn nicht finden, nirgends würde ich das, denn meine Mutter hatte ihm keine Gnade gewährt. Doch ich stellte mir vor, dass die Leute, die hier wohnten, ihn in mir erkannten, mich als Mensch wahrnahmen und ein Erbarmen hatten. Das erste Mal in meinem Leben stellte ich mich diesem Teil meines Erbes.


    Mein Ziel war ein Gasthaus, denn mir war in Erinnerung geblieben, dass Garok dort Unterkunft angeboten worden war. Wenn ein Darazgord dort übernachten durfte, warum nicht auch ein ehemaliger Skunk?


    Viele Menschen waren um diese Zeit noch auf der Straße. Das verwunderte mich, da ich gehört hatte, dass Menschen nur am Tage unterwegs seien und in der Dunkelheit schliefen. Vielleicht gab es Unterschiede, wer wusste das schon? All diese Dinge würde ich lernen, um mich in ihre Gesellschaft einzufügen. Wenn meinem Vater das gelungen war, dann würde mir das auch gelingen.


    Allerdings sprach nicht jeder hier Asami. Es dauerte also eine Weile, bis ich jemanden gefunden hatte, der mich verstand und mir beschreiben konnte, wo das Gasthaus zu finden war.


    Und so begann ich meinen Irrweg durch die nächtlichen Straßen von Vellingrad.

  • Das Gasthaus

    Die große, eichene Tür des Gasthauses kratzte laut auf dem unebenen Boden, als ich eintrat. Die Wärme eines Feuers umfing mich. Meine Hände stießen die schwere Türe zur Seite, und ich betrat den belebten Raum. Der Geruch von frischem Gebäck und deftigen Braten hing verführerisch in der Luft. Der Duft von warmen Getränken tanzte durch meine Nase und weckte meine Sinne. Zahlreiche Stimmen redeten angeregt durcheinander, Krüge klirrten und Stühle schabten über den Boden. An den Wänden hingen abgenutzte Schilde und zerbrochene Speere als stumme Zeugen der Vergangenheit. Zahlreiche Kerzen tauchten den Raum in ein sanftes, tanzendes Licht.


    Die Gäste saßen an massiven Eichentischen und tauschten Geschichten bei einem Krug Bier aus. Da sie verschiedene Kleidung trugen, von einfachen Fellkleidern bis hin zum Strickpullover, schienen sie unterschiedlicher Herkunft zu sein. Das nahm mir viel von meiner Sorge, denn ich sah wirklich zerlumpt aus und meine nassen Kleider stanken zum Himmel, doch manche der Gäste wirkten kaum gepflegter. Ich vernahm verschiedene Dialekte von Asami, aber auch Sprachen, die ich noch nie gehört hatte. Das laute Gelächter und die dröhnenden Stimmen füllten den Raum, während die Kellner hin und her eilten, um die hungrigen Mägen zu füllen. Auch meiner machte sich mit lautem Knurren bemerkbar.


    Ich steuerte mit festem Schritt auf den Tresen zu. Die raue Oberfläche des Holzes fühlte sich warm unter meinen Fingern an, als ich mich abstützte. Der Wirt, ein älterer Mann mit vernarbtem Gesicht, begrüßte mich mit einem Nicken.


    «Ich bin weit gereist und habe Hunger», informierte ich ihn.


    «Ihr seht müde aus», sagte er. «Ein Becher unserer besten Feuersuppe wird euch wieder auf die Beine bringen.»


    Ein Lächeln huschte über mein Gesicht, als ich den Duft des scharfen Eintopfs roch. Ich wagte nicht, ihm zu sagen, dass ich kein Geld besaß. Dass Menschen ihr Hab und Gut nicht teilten, ohne dass man ihnen klingende Münzen in die Hände legte, hatte ich während meiner Reise gelernt. «Ich nehme einen Krug des kräftigsten Getränks und eine große Schüssel eurer Feuersuppe», antwortete ich selbstbewusst.


    «Hausbackenes Brot dazu?»


    «Ja, das auch!» Brot kannte ich nicht, doch ich würde alles essen, was er mir vorsetzte!


    Nachdem ich meine Bestellung aufgegeben hatte, suchte ich mir einen Tisch in der Ecke, wo ich mich mit dem Rücken zur Wand hin setzte. Den Rücken geschützt zu haben, gab mir ein Gefühl von Sicherheit. Langsam kehrte die Wärme in meine eiskalten Hände und Füße zurück. Während ich wartete, betrachtete ich die Menschen um mich herum. Gepflegt wirkende Naridier, Reisende aus aller Herren Länder und müde Vagabunden scharten sich hier gleichermaßen und teilten ihre Erlebnisse. Dieser Ort war mehr als nur ein Gasthaus, wo man übernachtete und aß. Es war für die Menschen ein Ort des Rückzugs, an dem jeder etwas Neues erfahren konnte. Für einen Moment ließ ich die Melodie der klingenden Krüge und die übrigen Geräusche des Gasthauses auf mich wirken.


    Ein junger Kellner, der erstaunlich sicher auf zwei Holzbeinen stakste, brachte mir einen Korb mit dunklem Gebäck. Das musste das Brot sein. Ich biss in die weiche Scheibe und stellte fest, dass sie ofenwarm war und herrlich würzig schmeckte. Kurz darauf stellte mir der Kellner die blutrote Feuersuppe voller Wurstscheiben und einen schweren Tonkrug auf den Tisch.


    «Wünsche einen guten Appetit», sagte er auf Asami.


    «Danke! Ah, äh ... wie heißt du überhaupt?» Mir war es unangenehm, von jemandem bedient zu werden, dessen Name ich nicht einmal kannte. Es erschien mir als eine herzlose Reduktion dieses Burschen auf seine Funktion.


    Er starrte mich irritiert an. Die Frage schien nicht angemessen gewesen zu sein.


    So winkte ich ab. «Vergiss es. Unter Orks ist es üblich, einander beim Namen zu nennen. Augenscheinlich bist du kein Ork, also war die Frage blöd. Ich bin das erste Mal in einer Menschenstadt.»


    «Nein, nein! Kein Problem», sagte er rasch. Ein Blick zum Wirt verriet seine Sorge. Wahrscheinlich fürchtete er Schelte oder Schläge, wenn er einen Gast verärgerte, und sei er noch so zerlumpt. «Mein Name ist kein Geheimnis. Ich heiße Kalmiros.»


    «Angenehm.» Ich überlegte, ob ich ihm meinen waren Namen sagen sollte. Warum eigentlich nicht? Vellingrad sollte meine neue Heimat werden. Sollte ich ewig mit dem gestohlenen Namen von Znorla Bruchzahn herumlaufen? «Serak der Lügner», stellte ich mich vor und grinste.


    Er fand meinen Namen anscheinend lustig oder hielt ihn für einen Scherz, denn er lachte und entschuldigte sich dann, weil an einem anderen Tisch nach ihm verlangt wurde.


    Der Feuertopf war so scharf, dass ich ihn kaum essen konnte. Meine Augen tränten, mir lief Rotz aus der Nase und ich musste husten. Aber ich spürte auch, wie die Suppe mein inneres Feuer entzündete. Die Kälte verflog und wohlige Wärme breitete sich in mir aus. Als ich anschließend das Getränk genoss, das nach süßem Alkohol schmeckte und Met hieß, wurde aus dem Feuer ein Lodern. Schweiß trat mir auf die Stirn und wahrscheinlich hatte ich nun ziemlich rote Wangen. Ich fühlte mich gut und auch ein wenig beschwippst.


    Während ich meinen Durst stillte, wusste ich tief in meinem Innern, dass dieser Moment nicht ewig währte und meine nächste Herausforderung bereits auf mich wartete. Aber für den Moment genoss ich die warme Atmosphäre und das erfüllende Essen, das mich Stück für Stück erneuerte. Ich war voller Zuversicht. Mein Verlangen nach einem neuen Leben, mein Streben nach Anerkennung – all das würde sich erfüllen.


    Die Umgangsformen der Menschen gefielen mir. Obwohl viele der Gäste einander fremd waren, saßen sie beieinander und redeten wie alte Bekannte. An meinem Tisch gab es drei weitere Stühle, doch sie blieben leer, was ich auf meine heruntergekommene Erscheinung schob. Mir ordentliche Kleidung zu organisieren würde zu meinen ersten Aufgaben gehören müssen. In Anbetracht der zunehmenden Kälte war das auch sinnvoll.


    Da fiel mir ein Mann auf, der in der gegenüberliegenden Ecke im Dunkeln saß. Die Kerzen auf seinem Tisch waren allesamt erloschen, obwohl sie noch nicht heruntergebrannt waren. Auch er trank und aß allein an seinem Tisch. Als er meinen Blick bemerkte, lehnte er sich noch weiter zurück in die Schatten. Dass meine Augen mühelos jeden dämmrigen Winkel des Gasthauses durchdrangen, ahnte er wahrscheinlich nicht. Ich sah ihn deutlich vor mir.


    Sein Gesicht war von Wind und Wetter gegerbt. Er mochte etwa vierzig Sommer und Winter erlebt haben. Das kurze Haar und der gepflegte Bart waren graubraun, die Augen leuchteten blau. Mit seinem Kettenhemd und dem Wappenrock wirkte er wie ein almanischer Ritter aus den Erzählungen der Krieger. Doch er roch nicht so, wie ich es erwartet hätte, nach teuren Ölen und Seifen, sondern nach Erde und Moos, nach Harz und Tannennadeln. Er roch nicht nach den Privilegien des almanischen Adels, wie man sie mir beschrieben hatte, sondern nach Wildnis. Aussehen und Geruch stimmten in keiner Weise überein.


    Irgendetwas stimmte nicht mit dem Mann. Hatte er sich nur als Ritter verkleidet?


    Die schwere Eichentür öffnete sich. Kalter Wind fuhr in den Schankraum, Laub raschelte über den Steinboden. Eine Truppe fröhlicher Menschen kam hineingetobt, die stark nach Alkohol rochen. Sie veranstalteten dermaßen viel Lärm, dass ich nicht wusste, ob das Gefahr verhieß. Alte Ängste regten sich und es kostete mich viel Überwindung, nicht die Hand auf den Messergriff zu legen, sondern ruhig weiter zu trinken. Nachdem sie sich umständlich um einen der größeren Tische sortiert hatten, blickte ich wieder in die gegenüberliegende Ecke. Der Mann war verschwunden. Nur ein Häuflein Geld lag auf dem Tisch. Es glitzerte verführerisch im Kerzenlicht. Verstohlen schaute ich mich um. Jeder beobachtete die Lärmende Truppe, die der Kellner vergebens versuchte, platzsparend unterzubringen. Es waren etliche große Männer dabei und sie versperrten einen der Gänge.


    Ohne unnötige Hast – sie hätte nur die Blicke auf mich gelenkt – ging ich zu dem anderen Tisch. Als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, legte ich die Hand auf die Münzen und zog sie zu mir heran. Niemand beachtete mich. Als ich wieder auf meinem Platz saß, untersuchte ich das Geld. Es handelte sich um Metallscheiben unterschiedlicher Zusammensetzung. Einige waren rötlich, andere gräulich. Bevor jemand meine Neugier auffallen konnte, schob ich sie in eine Tasche meines Lendenschurzes.


    Mein Magen war so gut gefüllt, wie lange nicht mehr. Noch nie hatte ich etwas derart Köstliches gegessen. Aus Shakorz kannte ich nur Fleischbrei und das, was man sich nebenbei abzweigen konnte. Die Suppe und der Alkohol hatten mich durchgewärmt.


    Ich hatte beobachtet, dass die Gäste die Hand hoben und mit den Fingern schnippten, wenn sie bezahlen wollten. Also lockte auch ich den Kellner Kalmiros auf diese Weise an. Leider kannte ich micht mit Geld nicht aus. So breitete ich alles auf dem Tisch aus. «Äh, ich hoffe, das wird reichen?» Nun wurde ich doch wieder nervös.


    Mit flinken Fingern pickte Kalmiros sich einige der Münzen heraus. «Guter Herr Serak, das würde drei Mal reichen! Ich hoffe, es hat geschmeckt?»


    «Es war das Beste, was ich je gegessen habe. Und nimm dir ruhig noch etwas mehr von den Münzen. So viele benötige ich nicht.»


    Er mopste sich noch einige der rötlichen Münzen, wobei er sich ein weiteres Mal bedankte.


    «Ja, ja», wehrte ich ab, da ich fürchtete, einen noch röteren Kopf zu bekommen, wenn er so unterwürfig weiter machte.


    Dann fiel sein Blick auf den leeren Tisch gegenüber. Sein frohes Gesicht verfinsterte sich. «Ist der Gast da gegangen oder ist er nur mal kurz im Hinterhof?»


    Ich hob langsam die Schultern und ließ sie wieder fallen. «Gegangen, fürchte ich.»


    «Diese Zechpreller werden immer unverschämter», schimpfte der Kellner. «Wir sollten es wie andere Gasthäuser handhaben und keine Almanen einlassen. Dabei wirkte er wie ein Mann aus gutem Hause!»


    «Tja», sagte ich in bedauerndem Ton, «so kann man sich in jemandem täuschen, nicht wahr? Ich sehe aus wie ein Bandit und bezahle all meine Schulden. Und der Bursche da sah aus wie ein Ritter und geizt mit jedem, äh ...»


    «Kupferling», half Kalmiros mir aus.


    «Genau! Dabei schläft er vermutlich in einem Bett aus purem Gold und pflastert seine Burg mit Diamanten.»


    «Zum Glück wurde der Adel in Naridien abgeschafft», murrte Kalmiros.


    Das Eis war gebrochen. Endlich redete Kalmiros ganz normal mit mir und stakste nicht gleich wieder davon. So wagte ich, ihm eine Frage zu stellen: «Du, sag mal, die Nächte sind mittlerweile ziemlich kalt. Weißt du, wo ich kostengünstig ein Oberteil und neue Fußlappen herbekomme?»


    «Da kann ich helfen. Einen Moment!» Er verschwand und kam kurz darauf mit einem Fellpullover zurück, der auch eine Kapuze besaß. «Der gehört meinem Vater.» Dabei wies er ohne hinzusehen in Richtung des Tresens, wo der Wirt ein paar Krüge polierte. «Aber er trägt ihn schon lange nicht mehr.»


    «Das ist äußerst großzügig!» Vor lauter Dankbarkeit verspürte ich einen Stich meines Gewissens, weil ich diesen freundlichen Kellner belogen hatte. Doch jetzt konnte ich keinen Rückzieher machen, wo endlich alles wie geschmiert lief. Ich zog den Pullover über, der mir wie angegossen passte. «Perfekt, vielen Dank. Jetzt muss ich aber los.»


    Nicht, dass der Gast, den ich bestohlen hatte, doch nur im Hinterhof war und plötzlich zurückkehrte. Das Sprichwort besagte, dass man sich immer zwei Mal im Leben traf. Mir war es lieber, wenn bis dahin ausreichend Zeit verstrichen war. Gestärkt und leicht betrunken kehrte ich zurück in die Nacht.

  • Flammen und Klingen

    Die Nacht war angebrochen. Als ich über das regenfeuchte Pflaster des Markts schritt, durchflutete mich ein berauschendes Gefühl. Ich war voller Energie. Ich folgte ich dem Gedränge bis zu den ersten Ständen, wo süße Gerüche von Backwaren meine Nase kitzelten. Fasziniert betrachtete ich die bunt geschmückten Wagen der fahrenden Händler. Ich ließ meine Hände über den Stoff der kostbaren Gewänder gleiten, die an den Ständen feilgeboten wurden. Dank der Rufe erfuhr ich die Namen vieler Dinge, die ich heute zum ersten Mal sah. Ich witterte die Kuchen und Kekse, die gebrannten Mandeln, das kandierte Obst und den Ochsen, der über dem Feuer briet.


    Nun war mir klar, warum so viele Menschen während der Nacht auf den Beinen waren: Heute fand ein Fest statt.

    Für mich aber war es ein Fest der Sinne, das sich vor mir entfaltete. Die bunten Wimpel flatterten im Wind, als ob sie die Geschichten vergangener Zeiten erzählten. Akrobaten verzauberten die Schaulustigen, während dunkelhäutige Tänzer sich in atemberaubenden Bewegungen beim Klingentanz wanden. Die Flammen der Fackeln warfen tanzende Schatten auf die Steinmauern, deren Geschichte sich tief in die Seelen der hier wohnenden Menschen brannte.


    Während ich meine Finger über das kühle Metall frisch geschmiedeter Rüstungen gleiten ließ, dachte ich nach. Ich hatte mich aus der Bedeutungslosigkeit herausgearbeitet, mir die Narben der Rotte verdient und war Jäger geworden. Nichts hatte sich geändert. Doch was wäre, wenn ich Krieger werden würde? Allein der Gedanke war unerhört. Halborks durften keine Kriegswaffen führen, bestenfalls Jagdwaffen. Man würde vor Wut kochen, wenn ich gezeichnet von den Narben zahlloser Schlachten heimkehren würde, einen Schild auf dem Rücken und ein Schwert am Gürtel. Sie würden mich niemals lieben, ganz gleich, was ich tat. Doch ich konnte sie das Fürchten lehren. Und wer auch immer an diesem Tag Häuptling war – diesen Mann würde ich zum Duell herausfordern und ihn vor aller Augen besiegen. Ich, ein Halbork, würde das Undenkbare wagen.


    Ich löste mich und ging weiter. Die Geräusche um mich herum wurden wilder und aufreizender. Das Lachen der Menschen hallte durch die Straßen, während der Klang von Musik meinen Puls beschleunigte. Ich spürte die Schwingung der Trommeln tief in meiner Brust und ließ mich von ihrem Rhythmus mitreißen. Jeder Schritt, den ich tat, wurde zu einer Choreografie. Ich wollte tanzen, doch ich riss mich zusammen und ging lediglich im Rhythmus.


    Meine Blicke wanderten über die schillernden Schätze, die auf den Marktständen ausgestellt waren. Da lagen kunstvoll verzierte Amulette, deren glitzernde Kristalle das Licht der Fackeln reflektierten. Weiter hinten entdeckte ich kunstvoll gearbeitete Gürteltaschen aus Leder, verziert mit farbigen Stickereien. Der Duft des geölten Leders stieg mir in die Nase, es war der Geruch ferner Reisen und Abenteuer. Diese Gürteltaschen waren sicherlich praktisch. Sollte ich meine restlichen Münzen für eine davon ausgeben, um in Zukunft mein Geld und anderen Kleinkram ordentlich bei mir tragen zu können? Allerdings waren sie ziemlich teuer und auch die kulinarischen Verlockungen ließen mein Herz höher schlagen. Im Moment war ich satt, doch morgen musste ich auch noch etwas essen. Mit jedem Atemzug zog ich den aromatische Duft von frischgebackenem Brot und würzigem Käse tief in meine Lungen. Bei einem Gewürzhändler wurde meine Nase von all den verschiedenen Gerüchen ein wenig überfordert, derart erfüllt war die Luft von exotischen Aromen. Ich fragte und man nannte mir die Namen: Zimt, Vanille, Kardamom, Nelken und Anis.


    Danach führten meine Schritte mich auf einen Stand mit handgefertigten Kerzen. Ihre warme, flackernde Flamme und der sanfte Hauch ihres Duftes schufen eine besondere Atmosphäre. Hier konnte man zwischen Kerzen in allen erdenklichen Farben und Formen wählen, von zarten Pastelltönen bis hin zu kräftigen, leuchtenden Farben. Nicht nur ich, sondern auch andere Skunks würden ihre helle Freude an so viel Kunstfertigkeit finden, wie sie auf dem nächtlichen Markt von Vellingrad anzutreffen war.


    Ich bemerkte, dass die Menschen hinauf in den Nachthimmel sahen. So legte auch ich den Kopf in den Nacken. Hoch über uns balancierte ein Seiltänzer zwischen den Dächern. Bedächtig setzte er einen Schritt nach dem anderen. Sein Gehilfe ging herum und hielt den Leuten eine Kappe hin. Mit einem Mal sprang der Seiltänzer mit beiden Füßen gleichzeitig in die Luft. Ich hielt ich den Atem an, er drehte sich im Sprung um seine eigene Achse und landete sicher wieder auf den Füßen. Das Seil wippte, doch er stürzte nicht. Nun lief er in die andere Richtung. Für dieses Kunststück warfen sie Münzen in die Kappe. Für dieses Geld riskierte er sein Leben, das war jedem hier klar. Dafür applaudierte man ihm. Falls er stürzte, würde er sich alle Knochen brechen und nie wieder aufstehen. Bezahlten sie ihn aus Mitleid oder aus Bewunderung für seine Todesverachtung?


    Ich begann zu erahnen, wie die Gesellschaft der Menschen funktionierte.


    Nachdenklich ging ich weiter, folgte dem Klang der Trommeln und Instrumente, die wie fremdartige Flöten klangen und von denen ich später erfuhr, dass sie Schalmeien hießen. Es war das erste Mal, dass ich Menschenmusik hörte. Schnell und fröhlich klang sie in meinen Ohren, leicht wie Vogelgesang. In Shakorz gab es kaum etwas anderes als Kriegs- und Spottgesänge. Ich befand, dass ich noch mehr Met benötigte. Die Münzen wären darin gut investiert. Der süße Honigwein wärmte und machte mich froh. Also kehrte ich noch einmal zurück zu dem Gasthaus.


    Erneut öffnete ich die schwere Eichentür. Für einen Moment erstarrte ich. Mitten im Schankraum standen Kalmiros und der Fremde sich gegenüber, in ein bitteres Streitgespräch verwickelt.


    «Dann hättet ihr eben am Tresen zahlen sollen», verteidigte sich der Kellner gerade. «Wenn almanische Münzen dazu neigen, sich in Luft aufzulösen. Dann hätten wir sie wenigstens mal gesehen!»


    «In Almanien gibt es auch ein Sprichwort», sagte der Fremde. «Jeder bekommt das, was er verdient. Da die Bezahlung in guter Münze offenbar nicht genehm war ...»


    «Hier waren keine Münzen!»


    «Beziehungsweise, da hier versucht wird, doppelt abzurechnen, wird man euch den Gierschlund anderweitig stopfen müssen.»


    «Ist das eine Drohung?», rief Kalmiros. «Ich rufe die Staatskonstabler!»


    «Das wird nicht nötig sein. Ich gehe von selbst. Erinnere dich meines Wappens!» Damit schob er sich an mir vorbei. Plötzlich blieb er stehen. Es war mehr als nur ein flüchtiger Blick, als wir uns ansahen, sondern brannte sich tief in mein Inneres. «Du», sagte er leise.


    Ich schenkte ihm ein falsches Lächeln. Dann aber rannte ich davon. Anstatt zu diskutieren und meinen Bonus bei Kalmiros vielleicht zu verspielen, verließ mich lieber darauf, dem Konflikt als armes unschuldiges Opfer auszuweichen. Der Mann trug ein Schwert und ich nur ein Messer. Ich floh zurück ins Treiben des nächtlichen Fests, stieß die Schaulustigen zur Seite und drängelte mich durch die dichtesten Volksansammlungen.


    Dort würde er mich nicht finden, wenn ich nur schnell genug lief ...

  • Die Gesetze einer anderen Welt

    Arbeit zu finden erwies sich in den folgenden Tagen viel als schwieriger, als gedacht. Wen ich auch fragte, niemand konnte mich gebrauchen. Manchmal stellten sie Rückfragen, zum Beispiel wurde ich mehrmals gefragt, ob ich schmieden könne und einmal wollte ein Händler wissen, ob ich mehrere Sprachen beherrschte. Leider musste ich alles verneinen. Ich war ein guter Jäger, doch niemand benötigte einen. Damit endete die Liste meiner Fähigkeiten.


    Die Tage zogen ins Land und der Hunger wurde unerträglich. Ich war keinen Schritt weiter. Obwohl Naridien als das reichste Land der Welt galt, war ich so arm, dass ich vor Hunger keinen Schlaf fand.


    Ich ahmte die Bettler nach und hockte mich an belebten Plätzen nieder. Vor mir lag eine aus dem Müll gefischte Scherbe, in die man mir Münzen legen konnte. Trotz des Reichtums, den auch der ärmste Bürger im Vergleich zu mir oder den anderen Vagabunden besaß, hörte ich nur selten das Klimpern von Kupferlingen. Als ich sie abends zusammenkratzte und versuchte, mir davon eine Bratwurst zu kaufen, musste ich feststellen, dass sie nicht genügten, weder für die Bratwurst noch für ein gefülltes Brot, geschweige denn für die dringend benötigten Fußlappen. Meine Füße waren blass und steif, ich spürte sie seit Tagen nicht mehr und ging wie auf leblosen Holzklötzen.


    Wenn die Sonne aufging und ein wenig Wärme durch meine Kleider kroch, rollte ich mich vor Hauseingängen oder am Brunnen zusammen. Zitternd schloss ich die Augen, doch an Schlaf war kaum zu denken. Immer wieder wachte ich vor Kälte auf oder weil mich jemand verjagte. Bei den Göttern, ich tat doch alles, um niemanden zu stören, und ich störte trotzdem.


    Als ich den Hunger nicht länger ertragen konnte, versuchte ich es mit Stehlen. Doch ein guter Jäger zu sein machte nicht automatisch einen guten Dieb aus mir. Die Gesetze der Großstadt sind andere als die des Waldes. Überall wachten uniformierte Männer mit langen Stöcken über Recht und Ordnung. Doch auch die Verkäufer sahen mir meine Not schon von weitem an und wachten misstrauisch über ihr Hab und Gut. Da ich kein erfahrener Dieb war und mich wohl äußerst ungeschickt anstellte, blieben meine wenigen Versuche erfolglos. Nachdem ich zwei Mal erwischt worden war, wagte ich keinen dritten Versuch, da ich Angst hatte, von den Uniformierten aus der Stadt geprügelt zu werden. Wohin sollte ich dann gehen?


    In meiner Not beschloss ich, mich an Kalmiros zu wenden. Er war trotz meines zerlumpten Äußeren freundlich zu mir gewesen und hatte mir einen alten Pullover geschenkt, ohne den ich sicher längst erfroren wäre. Vielleicht würde er mir auch dieses Mal helfen. So machte ich mich noch einmal auf den Weg zum Gasthaus, auch wenn das gestohlene Geld längst aufgebraucht war. Diesmal wollte ich ehrlich sein, denn ich durfte nicht damit rechnen, dass mir das Schicksal ein zweites Mal derart hold war wie an dem Abend, als es mir ein Häuflein Münzen schenkte.


    Das Schaben der schweren Eichentür über den Steinboden hieß mich willkommen. Ich genoss die kurze Zeit der Wärme, die mir gegeben war, doch der Geruch des Essens stürzte mich in tiefe innere Verzweiflung. Es erforderte viel Selbstbeherrschung, am Tresen eine gelassene Körperhaltung zu wahren und Zuversicht in meinen Blick zu legen. Zum Glück war ich es gewohnt, eine Maske zu tragen.


    Während ich darauf wartete, dass Kalmiros oder sein Vater für mich Zeit fanden, fiel mir eine Vorrichtung an der Wand auf. Ich hatte sie bislang nicht beachtet, doch weil gerade ein Mann in Uniform mit dem Hammer auf ihr herumklopfte, trat ich näher, um mir die Konstruktion genauer anzusehen. Es handelte sich um eine einzelne Holzplanke, breit genug, als dass man sie als Brücke über einen Bach hätte verwenden können. Ihre Oberfläche schimmerte tiefschwarz von Farbe oder Teer. Verschiedene Papiere unterschiedlicher Form und Größe waren darauf festgenagelt, teilweise mehrere Schichten übereinandre. Leider konnte ich nicht lesen. Doch auf dem Zettel, den der Uniformierte soeben angebracht hatte, prangte ein vertrautes Gesicht.


    Auch Kalmiros kam näher, um es sich anzusehen. «Da hatte ich doch einen guten Riecher», verkündete er. «Dieser Bursche war neulich bei uns zu Gast und hat die Zeche geprellt!»


    «Der hat noch ganz andere Dinge auf dem Kerbholz», murrte der Unifomierte, dessen Stab neben ihm an der Wand lehnte. «Die Sicherheitskommision hat jetzt ein Kopfgeld auf ihn ausgeschrieben. Wir Staatskonstabler verteilen die Steckbriefe in der gesamten Stadt und natürlich auch im Umland, damit er nicht entkommt. Morgen kennt jeder das Gesicht dieses Schurken.» Der Mann trat zurück, so dass Kalmiros sich das Papier genauer ansehen konnte.


    Der Kellner stieß einen Pfiff aus. «Fünfzig Dukaten für seinen Kopf und hundert dafür, wenn Dolwin noch lebt! Dafür muss mein Vater drei Monde arbeiten. Und ein Tagelöhner drei Jahre! Schade, dass meine Zeit des Kampfes vorbei ist.»


    «Wie ist das denn passiert, wenn die Frage nicht zu persönlich ist?», erkundigte der Staatskonstabler sich vorsichtig.


    «Ich war, wie mein Vater, bei der Radhora Trux. Er ist aus Altersgründen ausgeschieden und ich ... nun ja. Ich bin Garlyn dem Fuchs etwas zu nah gekommen.» Er klopfte vielsagend mit einem seiner Holzbeine.


    Der Staatskonstabler spuckte aus. «Verdammte Söldner. Das werden immer mehr. Wenn wir die Radhora nicht hätten, wäre der Grüne Kader längst in Vellingrad. Im Namen des Volkes und des Rates, danke für deinen Dienst, auch wenn er für dich nicht gut geendet ist.»


    Kalmiros lächelte. «Ich kannte das Risiko und habe eine gute Abfindung erhalten. So war es uns möglich, dieses Gasthaus zu eröffnen. Das ist auch nicht schlecht, es sind oft alte Kameraden zu Gast. Vielleicht finden sich ja einige Veteranen, um Dolwin von Niederau zu jagen. Bei so einem stattlichen Sümmchen würde sogar ich in Versuchung kommen, wäre das noch möglich.»


    «Es ist das höchste Kopfgeld seit Zosimo dem Frevler. Dem Burschen wird nicht einfach beizukommen sein, aber vielleicht findet sich ein Trupp, der sich an ihn ranwagt. Einer Einzelperson würde ich das nicht raten.»


    Damit verabschiedete sich der Staatskonstabler und verließ das Gasthaus.


    Nun war endlich ich an der Reihe. Ich trat neben Kalmiros. «Leider kann ich nicht lesen», murmelte ich, «aber ich finde die Art, über diese Planke zu kommunizieren, faszinierend. Wie nennt man dieses System?»


    «Das ist ein Schwarzes Brett», erklärte Kalmiros geistesabwesend. «So eins gibt es an vielen öffentlichen Orten.» Er schien mich kaum wahrzunehmen.


    «Erstaunlich», stellte ich fest. «Und viel praktischer, als etliche Boten zu entsenden. Obendrein können die Nachrichten über lange Zeiträume gelesen werden und nicht nur in dem Moment, wenn der Bote zufällig gerade da ist. Ich bewundere den Einfallsreichtum der Menschen. Kannst du mir sagen, was auf dem Papier mit der Zeichnung steht?»


    «Nicht viel, nur der Name, das Kopfgeld und der Hinweis, dass der Mann bewaffnet ist. Bringt man ihn lebend vor die SiKo, erhält man doppelten Lohn.»


    «Wer ist das? Und, äh, was heißt SiKo?»


    «Das ist die Abkürzung für Sicherheitskomission. Es ist die Behörde, für welche die Staatskonstabler arbeiten. Die Staatskonstabler wiederum nennt man kurz auch StaKo. Sie sorgen im Auftrag der Freien Naridischen Republik für Ordnung.»


    «Ich finde das sehr interessant», sagte ich. «Weil ich ebenfalls Krieger werden will! Ich bin jung und gesund. Ich möchte bei der ... bei der SiKo als StaKo anfangen.» Ein bisschen kompliziert waren die ganzen Abkürzungen für mich, doch man gewöhnte sich schließlich an vieles. «An wen muss man sich dafür wenden?»


    Kalmiros schüttelte den Kopf. «An niemanden. Du bist kein naridischer Bürger, sonst wüsstest du diese Dinge. Und für den Dienst unter Waffen muss man das Bürgerrecht innehaben.»


    Vor Enttäuschung sanken meine Schultern ein Stück nach unten. «Und warum? Auch ohne, dass ich naridischer Bürger bin, kann ich das Kriegshandwerk lernen. Ich bin ein Halbork, ich bin sozusagen dafür geboren!»


    «So ist das Gesetz, vergeude deine Zeit nicht. Du könntest aber in Trux bei der Erzmine anfragen. Reich wird man damit nicht, aber immerhin hat man ein Dach über dem Kopf und bekommt täglich eine Schüssel heißen Getreidebrei. Dir wird man keine Waffen anvertrauen. Auch die Waffen des almanischen Adels, der hier manchmal anzutreffen ist, werden nur geduldet. Ein unseliges Überbleibsel aus der Zeit, da Naridien selbst noch vom Adel regiert wurde.»


    Schuften für das Leben in einer Höhle und für Nahrungsbrei? Da hätte ich auch in Shakorz bleiben können. «Was ist mit meinem Messer? Das scheint ja auch nicht verboten zu sein?», fragte ich in einem Anflug von Trotz.


    Kalmiros winkte ab. «Das gilt als Werkzeug. Man kann den Leuten ja nicht verbieten, ihr Gemüse zu schnippeln. Aber reden wir lieber von dir. Dein Bedürfnis als Gast geht vor. Möchtest du etwas essen oder trinken?»


    «Ich, äh, ich habe leider kein Geld mehr», sagte ich kleinlaut und hoffte, dass er mir trotzdem etwas geben würde.


    Kalmiros zuckte mit den Schultern, das übliche Kellnerlächeln auf den Lippen. «Was nicht ist, kann ja noch werden, nicht wahr? Vielleicht ist die Kopfgeldjagd was für dich. Der Gesuchte heißt mit vollem Namen Dolwin von Niederau, und ich für meinen Teil wäre froh, ihn am Galgen zu sehen. Er stammt nicht von hier, sondern aus Almanien. Keiner weiß, warum er hier sein Unwesen treibt, doch augenscheinlich hat der Stadtrat die Nase voll. Einstweilen wünsche ich dir noch einen schönen Abend. Bis bald.»


    Noch deutlicher konnte man jemanden nicht herausschmeißen.


    Meine Hoffnung, dass er mir vielleicht ein paar angefressene Essensreste schenken würde, die sonst sowieso im Schweinetrog gelandet wären, zerstob im kalten Nachtwind. Als ich zum nächtlichen Markt zurückkehrte, setzten sich die ersten Schneeflocken auf meiner Kleidung nieder. Das erste Mal seit langer Zeit kämpfte ich mit den Tränen. All meine Hoffnung, dass es mir in Naridien besser ergehen würde als in den Bruthöhlen, lagen in Scherben. Niemand benötigte mich und ein Krieger durfte ich auch nicht werden. Weder hier noch in Shakorz besaß ich eine Zukunft, die mit Begriffen wie Würde und Selbstachtung in Einklang zu bringen war.


    In dem Versuch, tief durchzuatmen, legte ich den Kopf in den Nacken und blickte hinauf in den nächtlichen Himmel.


    Dort sah ich erneut den Seiltänzer, der von Mal zu Mal höher strebte, als wolle er die Sterne vom Himmel holen. Wer etwas Besonderes konnte, der vermochte es hier in Vellingrad zu klingender Münze zu machen. Da fiel mir ein, dass ich jongieren konnte. War dies eine Gelegenheit, mein Schicksal zu wenden? Warum nicht einen Versuch wagen, um auf diese Weise etwas Geld zu verdienen, anstatt nur auf Spenden zu warten?


    Ich zog meine nassen Fußlappen aus und knotete sie zu vier tropfenden Bällen. Das Jonglieren gelang mir auf Anhieb, denn es war in den Bruthöhlen ein üblicher Zeitvertreib unter Kindern. Vier klatschnasse Bälle wirbelten durch die Dunkelheit und versprühten dreckige Tröpfchen. Bei jedem Griff meiner Hände machten sie ein saugendes Geräusch. Die Menschen zogen vorbei, niemand würdigte meine Halbork-Kunst eines Blickes. Doch ich war noch nicht gewillt, aufzugeben. Ich dachte an den Seiltänzer, der jeden Tag sein Leben riskierte, um den Menschen etwas Geld zu entlocken, oder an die dunkelhäutigen Klingentänzer. Jonglieren war zu banal, es musste etwas sein, dass das Blut der Zuschauer in Wallung brachte.


    So zog ich mein Jagdmesser. Ich trat ins Licht einer Laterne und warf die schwere Waffe so hoch über mich in die Luft, dass sie das Dach erreichte. Sie erreichte ihren Zenit, schien einen Moment zu schweben und sauste dann, die Spitze voran, in meine Richtung hinab. Ich trat einen Schritt zurück, streckte die Hand aus - entsetztes Keuchen meiner Zuschauer - und fing die Klinge zwischen Daumen und Zeigefinger. Allumfassende Erleichterung.


    Grinsend ließ ich das Messer um meine Finger wirbeln, bis man es kaum noch sah, wechselte die Hand. Dann das Ganze hinter meinem Rücken und wieder nach vorn, hinauf und hinunter. Dann ein erneuter Wurf, angespornt von der Aufmerksamkeit, noch höher als der Erste. Doch das war zu viel Schwung gewesen. Das Jagdmesser flog und flog. Ich sah, dass ich das Messer im Fall diesmal nicht würde packen können, ohne meine Hand zu verlieren. Die Klinge wendete und sauste erneut auf mich hinab. Ich trat einen Schritt zur Seite, gerade im rechten Moment, und das Jagdmesser fuhr zwischen zwei Pflastersteinen in die Erde. Mit einem Schleifgeräusch versank es bis zum Heft darin. Stolz grinste ich mit meinen scharfen Zähnen in die Runde der Menschen.


    Und nun endlich machte einer von ihnen ein paar Münzen locker, bevor er ging. Es war nicht viel, doch es war mein erstes selbstverdientes Geld! Ich war so glücklich!


    Da traten zwei Stiefel rechts und links neben mein winziges Schatzhäuflein. Ich blickte die Beine hinauf und mein Herzschlag stolperte einen Augenblick, als mein Blick über den Wappenrock glitt, der einen toten Baum zeigte.


    Dolwin von Niederau sah mich ungnädig an. «Wenn ich mich recht erinnere, schuldest du mir fünfundzwanzig Silberlinge und fünfzig Kupferlinge ... Serak der Lügner.»


    Ich schluckte, als er meinen Namen nannte. «Woher weißt du, wie ich heiße?», fragte ich. Und was wusste er noch alles über mich? Wie gefährlich war dieser Mann? Das Messer in meiner Hand kam mir in Gegenwart seines Schwertes zu Recht vollkommen nutzlos vor. Allerdings steckte es momentan noch in der Scheide ... wenn der erste Stich sofort ins Herz ging ...


    Er lächelte geringschätzig. «Ich habe Mittel und Wege, Dinge in Erfahrung zu bringen, die für mich von Interesse sind. Und wie der Zufall es will, mag ich es nicht, wenn man sich auf meine Kosten bereichert. Du hast mir ziemliche Scherereien verursacht, Ork.»


    «Halbork. Und ich habe mich nicht bereichern wollen ...» Denn darin schwang das Wort reich mit. Ich wollte nicht reich werden, ich hatte nur Hunger. Unglücklich besah ich das erbärmliche Häuflein Geld, das ich mir erarbeitet hatte. Gedanklich sah ich wieder das feiste Grinsen von Kaudruk vor mir, als er mir den Nachtmantel abgenommen hatte. Es schien mein Schicksal zu sein, immer als Verlierer zu enden.


    Erneut stellte ich mir vor, wie es wäre, ihn nun einfach zu erstechen. Kalmiros hatte gesagt, dass das Kopfgeld dem Gehalt eines ganzen Jahres entsprach.


    Ich ging in die Hocke, kratzte die Münzen zwischen seinen Stiefeln zusammen und stand auf. Ruhig blickte er mir entgegen. Als ich ihm das Geld überreichte, sah ich ihm in die Augen, um meine Würde zu wahren, doch konnte diese vor lauter Erschöpfung kaum offenhalten. Nein, ein Mordanschlag wäre in diesem Zustand sinnlos. Und wenn ich tief in mich hineinhorchte, wollte ich auch niemanden ermorden. Ein Kampf war das eine, ein Mord das andere.


    «Ich hoffe, das genügt, um meine Schuld zu begleichen, Dolwin von Niederau. Ich kann leider nicht zählen.»


    Jetzt war er es, der stutzte, als ich seinen Namen nannte. Ich lächelte schwach, als die Münzen aus meinen Fingern in seine Handfläche rieselten. «Ihr wirkt überrascht, Herr Ritter.» Mir war im Gedächtnis geblieben, dass Kalmiros den Mann in der Mehrzahl angesprochen hatte, was eine Höflichkeitsform zu sein schien, weshalb ich es nachahmte. «Eurem Gesichtsausdruck entnehme ich, dass Ihr noch nicht wisst, dass die Staatskonstabler in diesem Moment in ganz Vellingrad euren Steckbrief verteilen, einschließlich einer Zeichnung eures Gesichts. Man erkennt euch darauf sehr gut. Auf euch ist ein unverschämt hohes Kopfgeld ausgesetzt, das einen schlagkräftigen Trupp Veteranen in Verlockung führen soll. An eurer Stelle würde ich Vellingrad verlassen, bevor der Steckbrief von jemandem gelesen wird, der mehr Interesse an einer Menschenjagd hat als ich.»


    Zu meiner Verblüffung gab Dolwin mir das Geld zurück. Dabei schloss er seine Hand um meine. «Vielleicht habe ich mich in dir getäuscht. Behalte das Geld und nimm meine guten Wünsche noch dazu. Ich erachte deine Schuld als beglichen.» Mit diesen versöhnlichen Worten wandte er sich ab.


    Ich sah ihm nach, wie er sich seinen Weg durch die Menschen bahnte, als er zurück in sein geheimnisvolles Leben kehrte, das nach Wildnis roch und nicht nach dem Gold und den Edelsteinen, die ich ihm angedichtet hatte.

  • Ein schlechtes Geschäft

    An einem der folgenden Abende hatte ich Glück: Jemand gönnte mir einen Silberling. Er schimmerte hell wie der weiße Mond Oril in meiner Hand. Doch ich gab die Münze nicht sofort aus, sondern dachte darüber nach, wie ich sie geschäftsfördernd investieren könnte. Ich befand mich in Naridien, also versuchte ich zu denken wie ein Naridier. Mit der Silbermünze gelang es mir, einen Messerhändler davon zu überzeugen, mir einige seiner Klingen für die Darbietung auszuleihen. Für den Kauf reichte ein einzelner Silberling natürlich nicht aus. Er mahnte mich, in Sichtweite zu bleiben und sein vierschrötiger Lehrling hatte ein Auge auf mich, damit ich mit den Messern nicht durchbrannte.


    Langsam und mit viel Bedacht begann ich, mit den Messern zu jonglieren. Zunächst mit einer einzigen Klinge, dann mit zweien. Ich musste etwas üben, doch als ich die dritte Klinge hinzu nahm, sah das Ganze schon ziemlich eindrucksvoll aus. Die drei Messer blitzten rhythmisch im Laternenschein, sie hatten etwas von einem Schwarm glänzender Fische, der im Kreis schwamm. Das war besonders, das war martialisch, das kam gut an. Der Lehrling klimperte mit dem Becher vor den Zuschauern herum und ich hörte, wie weitere Münzen ihren Weg hinein fanden.


    Diese Nacht war die Erfolgreichste, die ich bisher hatte. Es wurde spät und wie das Licht im Osten über den Horizont kroch, leerte sich der Markt. Ich gab die Messer zurück und war gespannt auf die Summe, die ich eingenommen haben würde. Danach streckte ich meine Hand nach dem Becher aus, doch der Lehrling sah mich nur ausdruckslos an.


    «Mein Geld hätte ich gern», stellte ich klar.


    Nun mischte sich sein Meister ein, der Messerhändler mit der Augenklappe, den ich mir vortrefflich in einer finsteren Gasse vorstellen konnte. Er zog fragend die Brauen hoch. «Dein Geld?»


    «Das Geld, das ich heute verdient habe.» Ich ärgerte mich darüber, dass die beiden sich dumm stellten und ahnte schon, worauf das hinauslaufen würde. Ich sollte recht behalten.


    «Verdient», wiederholte er so langsam, als höre er das Wort zum ersten Mal. «Interessante Formulierung. Offensichtlich gehst du also von Einnahmen aus. Hast du denn ein Gewerbe angemeldet, um sie zu versteuern? Oder muss ich dich etwa für Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung anzeigen?» Sein gesundes Auge zuckte und seine Stimme klang wie das Knirschen eines Gletschers, als er sagte: «Überlege dir sehr gut, was du nun antwortest. Die Finanzkammer versteht keinen Spaß und nimmt Hinweise aus der Bevölkerung äußerst ernst. Was Fehler in der Buchhaltung betrifft, sind die Strafen drakonisch.»


    Ich wusste nicht, wovon er sprach. Wie auch, wenn ich bisher nur die orkische Gesellschaft kannte? Die funktionierte nach anderen Gesetzen als das komplizierte Leben in Naridien. Aber ich war noch nie auf den Mund gefallen, nicht einmal zu der Zeit, da meine geistige Welt sich auf Shakorz beschränkte.


    So fragte ich, in der Hoffnung, eine Lösung für das scheinbar bestehende Problem zu finden: «Ein Gewerbe? Was ist das? Und von so einer Kammer habe ich auch noch nie etwas gehört. Ich habe nur das getan, was die anderen auch taten, der Seiltänzer und die Klingentänzer. Ich habe etwas vorgezeigt, was nicht viele Leute können, und dafür haben die Zuschauer ein paar Münzen locker gemacht.»


    «Und deswegen glaubst du, hättest du automatisch gearbeitet und Geld verdient?»


    «Ja, natürlich.»


    Der Mann seufzte, und es klang verächtlich. «So funktioniert der freie Markt nicht, Herr Ork.»


    «Ich bin kein Ork», versuchte ich so ruhig wie möglich zu erklären. «Ich bin ein Halbmensch!» Dass ich mich jemals freiwillig so nennen würde ...


    In den Augen des Mannes lag auf diese Bemerkung hin ungefähr so viel Wärme wie in denen eines Fischs. «Juristisch ändert das gar nichts. In Naridien sind alle Ethnien gleichgestellt. Es kommt nicht darauf an, wie man aussieht oder spricht, sondern was auf dem Papier steht. Wo ist dein Bürgerbrief?»


    «Ich besitze keinen», sagte ich leise.


    «Wo sind deine Meldebescheinigung, dein Gewerbeschein, dein Handelsregisterauszug, und deine notariell beglaubigte Betriebserlaubnis?»


    Ich schwieg.


    «Man kann nicht einfach irgendwo hingehen», fuhr er erbarmungslos fort, «dem Publikum etwas vorführen und dann der Meinung sein, das wäre ein rechtmäßiges Geldgeschäft. Aber für all diese Probleme gibt es eine Lösung, denn ich besitze jedes der notwendigen Dokumente. Wenn du also für mich arbeitest, sagen wir, als Tagelöhner, springt am Ende trotzdem etwas für dich heraus.»


    Mein Protest steckte mir wie ein zu großes Fleischstück im Hals fest. Ich fühlte mich zurückversetzt in die Bruthöhlen, wo man die Dinge nach Belieben so verdreht hatte, dass es mir zum Nachteil gereichte. Nun ging es in Naridien damit weiter und ich wusste nicht, wie ich dagegen ankommen sollte, denn die komplizierten Gesetze und Gepflogenheiten des Landes waren mir fremd.


    Schließlich raffte ich mich zu einem letzten Versuch auf, das Gespräch zu meinen Gunsten zu wenden: «Ich war es , der gearbeitet hat. Warum also behältst du das Geld ein?»


    «Die Frage ist doch, weshalb du meinst, Anspruch darauf zu haben? Es gibt keine rechtliche Grundlage, wieso einem Fremden jene Einnahmen zustehen sollten, die unter Anleitung meines Lehrlings und unter Zuhilfenahme meines Eigentums erwirtschaftet wurden. Aber da du uns bei der Werbekampagne nun einmal geholfen hast, gestehe ich dir natürlich ein Taschengeld für deine Mühen zu.»


    Obwohl alles in mir schrie, dass dies eine Ungerechtigkeit sei, kannte ich keine Argumente, die in Naridien Gültigkeit besessen hätten. Er gab mir ein kleines Häufchen von Kupfermünzen. Es war so winzig. Traurig sah ich es an.


    Er lächelte. «Du kannst gern morgen wiederkommen und meinem Lehrling erneut helfen, meine Messer zu bewerben, nur verkneife dir in Zukunft die Behauptung, dass dieses Geld dir gehören würde, denn das entspricht nicht den Tatsachen. Dir gehört hier gar nichts. Selbst der Boden, auf dem du stehst, ist Eigentum eines anderen. Wenn man es genau nimmt, habe ich dich heute sogar beschützt.»


    «Wie soll ich das denn verstehen?»


    Sein Grinsen gefiel mir nicht, als er sagte: «Wenn herauskommt, dass du versucht hast, am Staat vorbei Geld zu machen – und die StaKo haben ihre Augen überall – würde man dich ruckzuck einsperren. Die Stadt Vellingrad verlangt für Steuerhinterziehung die hundertfache Leistung des hinterzogenen Betrags. Da du eine solche Summe kaum zahlen kannst, würdest du öffentlich gehäutet werden.»


    Gehäutet wegen einer Hand voll Münzen. Darauf wusste ich nichts mehr zu erwidern. Ich kratzte das Häuflein zusammen und hoffte, dass es für ein warmes Getränk reichen würde. Dass ich dafür nichts zu Essen bekommen würde, war mir klar.


    Da mischte sich unerwartet von hinten eine weitere Stimme ein: «Dann weißt du sicher auch, lieber Rosgar Dachsendom, dass die Schaustellerei gemäß Urteil des Hohen Rates vom Jahr 154 nach der Asche de jure eine Form von Betteln ist und dass Betteln mit Sicherheit keine Gewerbeanmeldung erfordert! Hast du diesem Jungen auch gesagt, dass die Kupfermünzen in ihrer Summe weniger wert sind als der Silberling, den er dir zur Miete für die Messer gab? Dass er folglich mit seiner Arbeit für dich sogar noch Verlust gemacht hat?»


    Ich drehte mich zu der Stimme um. Dolwin trug heute einen Hut, hatte den Kinnbart stark eingekürzt und die Spitzen des Oberlippenbartes hochgezwirbelt. Die Seiten seines Gesichtes waren glattrasiert. Er trug keinen Wappenrock mehr, sondern schlichte braune Stoffkleidung mit einem knielangen Mantel darüber. Auch das Schwert war nirgends zu sehen. Er war jetzt äußerlich nicht von einem Naridier zu unterscheiden.


    «Was mischen sie sich hier ein», polterte Rosgar Dachsendom. «Mein Geschäft und meine Mitarbeiter gehen sie nichts an.» Er schien Dolwin von Niederau nicht zu erkennen.


    Der getarnte Ritter blickte äußerst miesepetrig drein. «Mich gehen Aasgeier, denen Geld wichtiger ist als die eigene Ehre, sehr wohl etwas an. Besonders, wenn sie sich auf Kosten anderer bereichern.»


    «Ehre ist kein juristischer Begriff», sagte der Händler schnippisch. «Sie können mir gar nichts.»


    Dolwins Blick verfinsterte sich noch weiter. «Es gibt Länder, da ist das so.»


    «Dann gehen sie doch dorthin, wenn es ihnen da besser gefällt», schnauzte Rosgar Dachsendom, «und verschonen sie mich mit ihrer hinkenden Moral! Wenn ich mich von einem Dummschwätzer belehren lassen will, gehe ich in einen Tempel!»


    «Die Silbermünze», sagte Dolwin sehr langsam und ernst, wobei er die Hand ausstreckte.


    Doch der Händler dachte nicht daran, sie auszuhändigen. «Scheren sie sich zum Abgrund! Wenn sie nicht sofort verschwinden, holt mein Lehrling die StaKo!»


    Das konnte Dolwin nachvollziehbarer Weise nicht gebrauchen. Er musterte Rosgar Dachsendom sehr genau, als wolle er ihn sich einprägen. «Am Ende bezahlt jeder den Preis für seine Taten», sagte er mit Grabesstimme. Er drehte sich um und ging. Dabei legte er die Hand auf meine Schulter und schob mich mit sich. In zügigem Tempo beförderte er mich durch die Menge.


    «Ähm», sagte ich verwirrt.


    «Inzwischen hat sich meine Lage ziemlich verkompliziert und du weißt nun, dass ich hier bin. Ich kann nicht riskieren, dass du die StaKo informierst. Du kommst jetzt mit.»


    «Aber wohin denn?» Bei jedem Schritt wurde mir schwindliger, da der Hunger keine körperliche Anstrengung mehr erlaubte, doch er schob mich weiter.


    «Keine Fragen. Spar dir deinen Atem.»


    Er nahm einen meiner Arme und henkelte ihn bei sich unter. Es wirkte, als wolle er mich aufgrund meiner Schwäche stützen, doch sein Griff war wie ein Schraubstock. In meinem gegenwärtigen Zustand hätte ich mich nicht losreißen können. Unterhalb der Achsel spürte ich an meinen Rippen den Druck von etwas Hartem und Spitzen. Mit bebendem Herzen ließ ich mich von ihm abführen.

  • Entführt

    Wir hielten auf das Stadttor zu. Das Messer an meiner Flanke unterband jeden Gedanken an Flucht. Es gelang mir noch, aufrecht hindurch zu gehen, doch als wir der Straße folgten, strauchelte ich. Hätte Dolwin mich nicht gehalten, wäre ich gestürzt.


    «Weiter», knurrte er und der Druck der Klinge wurde schmerzhaft.


    «Ich brauche eine Pause», keuchte ich. «Nur ganz kurz. Ich habe ... lange nichts gegessen.»


    Meine Knie gaben nach. An Ort und Stelle ließ ich mich auf den Hintern nieder. Der Stress war zu viel gewesen. In meinen Ohren klang ein Fiepen und meine Lippen kribbelten. Es fühlte sich an, als müsse ich mich übergeben, doch weil mein Magen leer war, kam nichts.


    «Zwing mich nicht, dich zu töten», sagte Dolwin. «Auf die Beine.»


    Mühsam stemmte ich mich wieder hoch. Das Schwindelgefühl verursachte einen langsamen und unsicheren Gang. Als wir die Stadt ein gutes Stück hinter uns gelassen hatten, verließen wir die Straße und folgten einem Trampelpfad, der sich um die mächtigen Wurzeln alter Bäume wand, um Felsen und um Baumstümpfe. Die dichten Kronen raschelten im sanften Wind. Sie ließen das Licht nur in spärlichen Strahlen durch. Es schien fast so, als ob wir allein waren in dieser Wildnis. Der Geruch von frischem Moos und feuchter Erde erfüllte die Luft, als wir tiefer hinein in das Dickicht vordrangen. Ich hatte keine Ahnung, wohin unser Weg uns führte oder was mich erwarten würde.


    Der Fremde führte mich weiter, bis das Licht Alvasheks sich rötete und die Schatten lang und finster wurden. Dolwin folgte nun einem schmalen Pfad durch eine kleine Schlucht zwischen zwei Felsen hindurch. Plötzlich öffnete sich die Schlucht und wir blickten zu einer alten Burgruine hinauf. Ihre Tore waren halb zerstört und Moos kroch die Mauern hinauf. Farn und Efeu wucherten aus allen Winkeln. Trotz ihres Alters sah die Burg noch immer majestätisch aus. Ich fragte mich, wer durt einst gelebt haben mochte.


    «Folge der Treppe», sagte Dolwin.


    Wir gingen hintereinander die vom Laub bedeckten Stufen hinauf und traten durch das grün angelaufene Holztor. Dahinter folgte ein steinerner Tunnel, der uns durch die gesamte Breite der Mauer führte.


    Wir betraten einen großen Innenhof. Zu meiner Überraschung war er voller Leben. Diese Ruine war nicht verwaist, darin lebte ein ganzer Stamm! Es gab Tische und Bänke, sowie einige Kisten aus hellem, trockenen Holz, augenscheinlich Neuware. Frische Wäsche flatterte an langen Leinen im Wind. Die Männer saßen um ein Lagerfeuer herum. Einige Frauen schnippelten Feldfrüchte und Kräuter, um einen großen Eintopf zu kochen. Auf der Mauer, den Treppen, den Kisten – also nahezu überall – turnten Kinder unterschiedlichen Alters herum. Einige hatten gerade erst das Laufen gelernt, andere übten mit scharfen Waffen unter Anleitung eines alten Mannes bereits den Ernst des Lebens.


    «Ich bin deinem Ruf gefolgt», sagte ich. «Aber wer sind diese ganzen Leute? Was ist das für ein Ort?»


    «Du hast meinen Steckbrief gelesen, aber das stand nicht darauf?» Dolwin lachte. Überhaupt wirkte sein ganzes Gesicht nun äußerst belustigt. Dass ich nicht darauf kam, wer er sein könnte, schien ihm großes Vergnügen zu bereiten.


    Mein Herz raste bei diesen Worten, da ich nicht wusste, was mich erwarten würde. «Nein», sagte ich, «das weiß ich nicht.»


    «Du wirst es vielleicht erfahren. Aber nicht jetzt. Erst einmal heiße ich dich als unseren Gast willkommen.» Dolwin deutete auf eine freie Stelle am Feuer.


    Da ich meinte, mich verhört zu haben, blieb ich im ersten Moment wie angewurzelt stehen. Dann fragte ich: «Meinst du das ironisch?»


    Er nahm den Hut ab und schüttelte den Kopf. Sein einst langes Haar war nun kurz. «Es gibt kein Gefängnis», stellte er klar. «Ich arbeite schließlich nicht für die Sicherheitskommission. Es gibt andere Mittel und Wege, Gefahren zu umgehen. Du bist nicht mein Feind, also bin ich auch nicht deiner. Und natürlich bekommst du auch etwas zu Essen. Setz dich.»


    Seine Männer rückten ein Stück auseinander, um mir Platz am Feuer zu machen. Trotzdem war ich mir nicht sicher, ob ich bleiben wollte oder fliehen. Doch wohin sollte ich schon gehen? So nahm ich meinen Mut zusammen und setzte mich dazu.


    «Hungrig?», fragte Dolwin.


    «Ein bisschen.» In Wahrheit könnte ich ein ganzes Wildschwein verdrücken. Nach wie vor verbarg ich jede Schwäche, die sich irgendwie verbergen ließ.


    Man gab mir eine Schüssel dicker Suppe und einen Kanten Brot. Gierig verzehrte ich beides und ließ mir noch zwei Mal nachschenken. Danach hatte ich Bauchschmerzen. «Wie konntet ihr euch hier niederlassen? Was ist eure Geschichte?», fragte ich.


    Dolwin saß mittlerweile auch am Feuer. Er lehnte sich zurück. «Lass uns sagen ... wir haben unsere Methoden gefunden, um überleben zu können.»


    «Was willst du nun tun?» fragte er mich dann mit einem ernsten Blick. «Ich kann dich gehen lassen wenn du möchtest. Allerdings benötige ich dann ein Pfand oder einen Bürgen. Du verstehst, dass ich die Sicherheit all dieser Menschen nicht aufs Spiel setzen kann.»


    Ich lauschte dem Knistern des Feuers und dachte an die Reise, dachte zurück an mein bisheriges Leben. An die Kälte und den Hunger. Mein Kopf wurde schwer, die Erschöpfung der letzten Wochen und Monate lastete auf meinem Haupt. «Nichts von beidem kann ich bieten. Ich bleibe. Aber nun würde ich gern etwas schlafen, wenn du erlaubst.»


    «Du bist mein Gast, natürlich darfst du dich ausruhen, was ist denn das für eine Frage? Komm, ich bringe dich zu deinem Bett. Und wenn du die Augen wieder offen halten kannst, unterhalten wir uns über deine Zukunft.»


    Dolwin führte mich zu einem aus rohen Baumstämmen gezimmerten Bett, das in einem der leerstehenden Gebäude stand. Meine Füße wurden von einem heißen, in ein Tuch geschlagenen Stein gewärmt. Aus dem Fenster sah ich unten den Burghof, wo die Bewohner der Ruine ihrem Tagewerk nachgingen, und oben den Himmel, der das erste Mal seit Tagen wieder frei von Wolken war und strahlend blau leuchtete. Dolwin hatte mir versichert, dass ich sicher sei – doch konnte ich ihm wirklich vertrauen? Ich war mir nicht sicher. Er wurde garantiert nicht ohne Grund gesucht.


    Als das Sonnenlicht durch das kaputte Fenster hereinströmte, bemerkte ich, wie mein Körper sich langsam entspannte. Während die Menschen ihr Tagewerk begannen, fielen mir die Augen zu. Meine Gedanken kreisten noch eine Weile nervös, weil ich mich fragte, was noch alles auf mich zukommen würde, bis der Schlaf mich übermannte.

  • Ein neuer Weg

    Nach einem Schlaf, der so traumlos und tief gewesen war wie der Tod, wachte ich auf. Eine Weile blieb ich auf der Bettkante sitzen, um munter zu werden, noch halb in die warme Wolldecke gewickelt. Dabei lauschte ich auf die Geräusche. Es tat gut, wieder das Rauschen der Blätter zu hören und den gelegentlichen Ruf eines Vogels. Ohne es zu merken, hatte ich den Wald vermisst. Mir wurde klar, dass ich gern Jäger gewesen war. Leider hatte das Drumherum mir mein Leben vermiest. Vielleicht würde sich dies nun ändern?


    Warum diese Menschen jedoch hier im Wald hausten, abseits der Städte und Dörfer, konnte ich mir nicht erklären. Über der Burgruine und ihren Bewohnern lag ein großes Geheimnis, das sich vor mir noch nicht entfalten wollte. Langsam stand ich auf und schlenderte durch die verlassenen Hallen der Burgruine. Niemand störte sich daran, dass ich mich in den alten Mauern und Gewölben umsah. Ich blieb stehen und sah aus einem Fenster, dessen Scheiben längst fehlten, blickte von einer hohen Etage heraus über den herbstlichen Wald. Die Laubfärbung war auf ihrem Höhepunkt. In Alvasheks Licht flammten die Blätter auf in Rot, Orange und Gelb. Es ging etwas Heilsames davon aus.


    Die Burg war innen viel größer, als ich von außen angenommen hatte. Ich schätzte, dass sie Platz für tausend Menschen bot, doch momentan lebten vielleicht hundert darin. Manche Räume wurden als Lager benutzt oder als Stall, andere als Wohnräume, aber der Großteil des Lebens spielte sich tagsüber im Innenhof ab. Ich wollte es mit meinen Erkundungen nicht übertreiben, aus Sorge, man könne mich für einen Spion halten, und so kehrte ich bald zur Feuerstelle zurück, um mich bei Dolwin zu melden.


    Inzwischen trug er wieder seine almanische Kleidung mit dem Kettenhemd und dem Wappenrock, auf dem der kahle Baum prangte. Der Oberlippenbart war nicht mehr gezwirbelt, sondern hing herunter, was sein Gesicht etwas griesgrämig wirken ließ. Er sah mich aus seinen durchdringend blauen Augen an. «Du bist also geblieben», sagte er. «Du hättest einen Fluchtversuch unternehmen können, es gab bewusst keine Wache. Aber du bist noch hier. Warum?»


    Meine Antwort war einfach, traurig und ehrlich: «Ich weiß nicht, wohin ich sonst gehen soll, Dolwin.»


    «Hast du denn keine Rotte, kein zu Hause?» Für einen gesuchten Kriminellen klang seine Frage mitfühlend.


    Ich senkte den Blick und sah ins Feuer. «Ich hatte mal eine Rotte. Eigentlich wollte ich Krieger werden, das war mein Traum. Aber weil das nicht sein kann, weder hier noch dort, weiß ich nicht, was ich jetzt tun soll. Meine Tage in einer Erzmine zu verbringen für etwas Brei, scheint mir auch nicht das Wahre zu sein ...»


    «Lass es. In den Erzminen schuften Schwerkriminelle, die dazu verurteilt wurden. Allerdings zahlt die Minengesellschaft eine Provision, wenn man ihr jemanden zuspielt, der freiwillig dort hinabsteigt. Oft kehrt er niemals zurück. Es sind Bauernfänger. Sie können nie genug Arbeitskräfte haben, weil die Radhora Unmengen von Eisen verschlingt, sie höhlen das ganze Gebirge aus und auch die Menschen, die in Trux unter Tage arbeiten, werden im Laufe der Zeit zu leeren Hüllen.»


    Ich hatte das Gefühl, dass mir alle Farbe aus dem Gesicht gewichen war, als mir bewusst wurde, welchem Schicksal ich entronnen war. «Das wusste ich alles nicht.»


    «Natürlich nicht. Kaum einer weiß solche Dinge woher auch? Niemand hat ein Interesse daran, dass sie öffentlich werden. Du musst immer daran denken, dass Naridien in erster Linie eine Wirtschaftsmacht ist. Das Land wird in Wahrheit nicht vom Hohen Rat regiert, sondern vom Geld. Ich sage, es ist eine elende Krake.»


    «Da kann ich vermutlich froh sein, dein Gefangener zu sein», sagte ich grinsend, während ich versuchte, das düstere Thema etwas aufzulockern.


    «Du bist nicht mein Gefangener», stellte Dolwin klar, «sondern mein Gast. Darauf bestehe ich. Krieger wolltest du also werden. Den Schwertkampf könnte ich dich lehren. Würde das in deinem Sinne sein?»


    Ungläubig sah ich ihn an. Wie kam er dazu, mir ein solches Angebot zu unterbreiten? Falls dies eine wirkliche Chance war, durfte ich sie nicht verstreichen lassen und falls es eine Falle war, konnte ich kaum noch tiefer fallen als jetzt. «Es wäre mir eine Ehre!»


    «Du fragst dich nun sicher, warum ich dir das vorschlage. Die Antwort ist einfach. Mir hat gefallen, dass du Ehre bewiesen hast, denn das ist ein seltenes Gut. Trotz deiner Not hast du deine Schuld bei mir beglichen. Darum mache ich dir dieses Angebot. Wir sind offen für neue Mitglieder, wenn sie etwas taugen», fuhr er fort. «Bevor wir dich aufnehmen, musst du allerdings beweisen, dass du zu uns passt und dass es dir ernst ist. Wir werden es dir nicht leicht machen und es könnte gefährlich werden. Hast du trotzdem Interesse? Überlege es dir gut, denn wenn du dich einmal entschieden hast, gibt es kein Zurück.»


    Ein Lichtstrahl am Horizont, ein Schein der Hoffnung tat sich vor mir auf. «Natürlich», antwortete ich fest. Ich hatte auch kaum eine andere Wahl. «Welche Aufgabe muss ich erfüllen?»


    «Nicht nur eine. Aller guten Dinge sind drei. Für heute aber sollst du ruhen. Morgen kannst du die erste Prüfung beginnen.»


    Damit trennten sich zunächst unsere Wege.


    Obwohl es spät wurde, kümmerten die Menschen sich um mich. Man hatte mir die Waschküche im Keller geheizt, wo nicht nur Wäsche gewaschen werden konnte, sondern auch eine dampfende Zinkwanne zum Baden bereit stand.


    Während ich im heißem Wasser lag, reichte ein älterer Mann - ebenfalls ein Ritter – mir einen Becher heißen Würzwein. Nachdem ich ein paar Schlucke getrunken hatte, wusch er mir den verfilzten und verlausten Kopf mit einer Seife. «Ich fürchte, deine Haare können wir nicht retten, sie sind ein einziger Knoten», sagte er.


    «Diese Haare haben seit einem halben Jahr weder Kamm noch Seife gesehen. Schneide sie ruhig ab, sie wachsen nach.»


    So schor er mir einem Rasiermesser den Kopf, bis ich eine Glatze hatte. Ich war froh, diese juckende Filzplatte los zu sein. Dann legte er mir den Kopf in den Nacken und rasierte ganz vorsichtig meinen spärlichen Bart. Nachdem ich mich in der heißen Wanne gewärmt und gewaschen hatte, stieg ich hinaus und stellte mich über ein Abflussgitter. Der alte Mann goss langsam klares Wasser über mich, um die Seife abzuspülen. Zum Abtrocknen reichte er mir ein großes, angewärmtes Handtuch. Danach sollte ich mich eingewickelt hinsetzen. Er kümmerte sich nun um meine fürchterlichen Füße. Die eingewachsenen Klauennägel stutzte er komplett herunter, so dass meine Zehen aussahen wie die eines Menschen. Gegen die Entzündungen trug er etwas grüne, nach Kräutern und geriebener Rinde duftende Salbe auf. Darüber durfte ich Wollsocken und stabile Stiefel ziehen.


    «Passen sie?», fragte der Alte.


    «Ich hatte noch nie Schuhe, aber ich glaube, sie passen sehr gut.» Vor allem waren sie trocken und frei von üblem Gestank. Die stabile Bauweise würde meine Füße in diesem wilden Gelände vor Stichen und Schnittverletzungen schützen. Ich liebte sie und hoffte, dass ich sie behalten durfte.


    Bei meinen Händen hatte er nicht ganz so viel zu tun, er feilte nur die spitzen Nägel in Form. Danach reinigte er vorsichtig meine Ohren und Zähne. Zu guter Letzt erhielt ich neue Kleider. Das erste Mal im Leben hatte ich eine Unterhose an. Dise trug ich natürlich nicht allein, sondern sollte darüber eine weiche Wildlederhose ziehen, die gut saß. Für den Oberkörper reichte er mir ein Unterhemd aus Stoff und dazu ein richtiges Schnürhemd, langärmlig und mit protzigem Stehkragen, wie er zur Zeit in Naridien unter jungen Männern Mode war. Darüber legte ich meinen gewohnten Gürtel mit der Messerscheide, sowie die zwei dünnen Trophäengürtel mit den Klauen und Zähnen. Da es frisch wurde, zog ich noch meinen Fellpullover über. Außerdem schenkte der Mann mir eine gestrickte Wollmütze, damit meine neue Glatze nicht fror, und ein üppiges Halstuch. Nur die Handschuhe wollten nicht über meine spitzen Fingernägel passen, so dass er mir ein paar fingerlose Handschuhe überzog.

    Ich spürte im Moment keinen Bedarf, jemals wieder Orkkleidung zu tragen. Hier unter den Menschen wollte ich eher sein wie sie ... wie mein Vater, den ich nie hatte kennengelernt.


    Als wir ums Feuer saßen und Musik gespielt wurde, war ich von dem heißen Würzwein ein bisschen betrunken. Es war angenehm, weil ich mich leicht, frei und glücklich fühlte. Für diese Zeit wollte ich vergessen, dass ich noch kein Teil dieser Gemeinschaft war, sondern drei schwierige Prüfungen vor mir lagen, und dass Dolwin wahrscheinlich nicht nur der edle Rittersmann war, als den ich ihn bislang erlebt hatte.

  • Blutige Versuchung

    Die Menschen ließen ihren Tag gemütlich angehen. Erst zum Nachmittag nahm Dolwin mich beiseite.


    «Bist du immer noch entschlossen, einer von uns zu werden?», fragte er.


    «Ja, das bin ich.»


    «Und bist du auch bereit, diesen Willen mit Blut zu besiegeln?»


    Ein Krieger tat genau das. Meine Entscheidung stand fest. «Ja, dazu bin ich bereit.»


    «So höre deine erste Prüfung. Das naridische Rechtssystem ist ungerecht, es schützt nur die Reichen. Du wirst in Zukunft selbst für Gerechtigkeit einstehen müssen. Deine Aufgabe ist es, den Mann zu bestrafen, der dich betrogen hat – Rosgar Dachsendom. Wie du das anstellst, ist dir überlassen. Du hast bis zum nächsten Sonnenaufgang Zeit.»


    Damit entließ er mich. Ich prüfte den Sitz meines Messers und machte mich allein auf den Weg nach Vellingrad.


    Der Stand des Messerhändlers war schnell gefunden. Als ich vor ihm erschien, nicht länger in Lumpen, nicht länger schwach vor Hunger, sondern satt und stark, blanke Mordlust in meinem Blick, ahnte er wohl, was auf ihn zu kam. Nervös erhob Rosgar Dachsendom sich von seinem Stuhl. «Was den Silberling betrifft ...», begann er.


    «Ich will ihn nicht mehr», unterbrach ich ihn. «Ich will bloß noch Gerechtigkeit.» Wie er da vor mir stand, stellte ich mir lauter schöne Dinge vor, die ich ihm antun wollte. Diese Prüfung würde mir keine Probleme bereiten. Dolwin würde bald sehen, dass es nicht nur leere Worte waren, sondern ich bereit war, die Klinge sprechen zu lassen.


    «Warte noch einen Moment», bat Rosgar. «Wir finden eine Lösung zum gegenseitigen Vorteil. Silber ist die eine Sache, doch wie wäre es mit Gold?»


    Nun geriet ich doch ins Grübeln, denn ich war sicher, dass Dolwins Leute das Gold gut gebrauchen könnten. «Also gut, einverstanden», sagte ich.


    «Ds freut mich», sagte Rosgar nervös. «Du wirst es nicht bereuen. Aber ich habe es natürlich nicht hier auf dem Markt dabei. Wir treffen uns zu Sonnenuntergang an der Kreuzung Lindenstraße-Brunnensteig.»


    «Gut», sagte ich, «aber keine Mätzchen. Du hast nur diese eine Chance, deinen Betrug wieder gutzumachen.»


    Ich schlenderte noch etwas über den Markt. Als der Abend dämmerte, begab ich mich zu dem vereinbarten Treffpunkt. Ich sah den Messerhändler stehen und näherte mich ihm. Doch auf einmal kamen weitere Männer von allen Seiten langsam auf mich zu. In den Händen hielten sie Knüppel. Sogar von hinten nahten Schritte. Ich spürte, wie sich die Haare auf meinem Nacken aufstellten, als ich den Hinterhalt erkannte.


    «Guten Abend», grüßte der Messerhändler in falscher Freundlichkeit. Als einziger trug er keinen Knüppel. Augenscheinlich hatte er nicht vor, sich persönlich die Hände schmutzig zu machen. Seine Schläger waren groß und kräftig, ihre Gesichter primitiv und böse. Sie würden von mir nichts übrig lassen, das noch von ihnen berichten könnte. Die Falle, die Rosgar für mich vorbereitet hatte, war perfide und tödlich. Doch ich war kein gewöhnlicher Straßenjunge, ich hatte von kleinauf gelernt zu überleben. Blitzschnell sprang ich nach oben. Meine Hände krallten sich um eine Regenrinne. Sie knarrte unter meinem Gewicht, doch bevor sie abreißen konnte, zog ich mich mit einem Klimmzug aufs Dach.


    Die Männer riefen durcheinander, besonders Rosgar. «Haltet ihn auf», schrie er.


    Jemand kam auf die Idee, herumliegende Dinge nach mir zu werfen. Steine schlugen auf dem Dach ein, zwei trafen mich schmerzhaft. Schützend legte ich den Arm über den Kopf und machte, dass ich auf die andere Dachseite kam. Dort warf ich mich auf den Hintern und ließ mich herunterrutschen, um Zeit zu sparen. Unsanft landete ich auf allen vieren, rappelte mich auf und hastete in Richtung Stadtrand davon, während hinter mir schon der erste Verfolger um die Ecke bog. In der Wildnis war ich ihnen überlegen, aber der Weg zum schützenden Wald war weit.


    Ich rannte durch enge, verwinkelte Straßen und dunkle, schmutzige Gassen. Wichtig war, in Bewegung zu bleiben, damit niemand mich überholte. Ich hatte keine Lust, ein zweites Mal eingekesselt zu werden. Doch ich kannte die Straßen der Stadt recht gut. Immer einen Schritt voraus huschte ich zwischen engen Durchgängen hindurch, über Dächer und durch Hinterhöfe. Die Schreie meiner Verfolger hallten durch die Nacht, als sie immer wieder versuchten, mich zu fassen, doch heute ging die Jagd zu meinen Gunsten aus. Aber wollte ich wirklich fliehen?


    Mit jedem Meter, den ich gewann, wuchs meine Entschlossenheit, das Ganze eher als taktischen Rückzug zu betrachten. Ich hatte so lange auf die Möglichkeit gewartet, mich als Krieger zu beweisen und würde alles dafür geben, damit Dolwin mich an der Waffe ausbildte. Nebenbei war dies die Gelegenheit, Rosgar die Rechnung für seinen doppelten Betrug zu präsentieren. Die Flamme der Vergeltung brannte in mir, als ich durch eine weitere enge Gasse sprintete und unzählige Hindernisse geschickt umging.


    Die Schritte meiner Verfolger klangen bereits in größerer Entfernung. Ich spürte, wie sich die Kraft in meinen Muskeln sammelte und meine Wahrnehmung sich ganz auf Rosgar fixierte. So erklomm ich einen alten Apfelbaum, von dem aus ich die Straße unter mir im Blick hatte. Ich hielt ganz still, damit es nicht schrumplige Herbstäpfel regnete, die mich verrieten. Und dann wartete ich.


    Die Horde miesgelaunter Schläger polterte bald unter mir vorbei. Sie schauten in jeden Winkel und hinter jede herumstehende Kiste, doch nicht nach oben in die Baumkrone, die sich sacht im Abendwind wiegte. Als sie mich nicht fanden, rannten sie weiter. Noch immer verhielt ich mich vollkommen ruhig.


    Weit hinter ihnen kam Rosgar. Er ging er recht gemütlich hinterdrein, schließlich wollte er nicht seine Gesundheit riskieren, sondern überließ das lieber anderen. Ein entschlossener Sprung und ich landete direkt vor ihm.


    «Hallo Rosgar», säuselte ich und zog mein Jagdmesser.


    Rosgar schrie wütend auf und versuchte, seinen Männern hinterherzulaufen. Ich stellte mich ihm mit einem selbstbewussten Lächeln in den Weg. «Deine Zeit ist abgelaufen», erklärte ich mit fester Stimme. «Du hast deine Chance vertan. Du kannst nicht länger vor den Konsequenzen deiner Taten fliehen.»


    Nun stand ich endlich vor dem Mann, der mich betrogen hatte, als meine Not am größten gewesen war. Meine Hungertod hätte er bereitwillig in Kauf genommen für einen Silberling. Ich war bereit, ihm meine Rache zu servieren.


    Ein höhnisches Lachen entfuhr Rosgar, während er mich herausfordernd ansah. «Oh, wie naiv du doch bist», erwiderte er. «Meinst du wirklich, du könntest mir etwas anhaben? Ich habe dieses Auge nicht durch einen Unfall verloren, sondern durch einen größenwahnsinnigen Einfaltspinsel wie dich, der nun am Grunde des Sees verrottet. Ich hatte schon ganz andere Gegner als einen Halbork, den Shakorz gerade frisch ausgeschissen hat. Du wirst schon bald erkennen, dass Rache keine einfache Aufgabe ist. Du wirst bereuen, mich jemals herausgefordert zu haben!»


    Plötzlich zog Rosgar seinen Dolch, ein böses Grinsen auf den Lippen, und machte einen Schritt nach vorn und stach nach meinem Gesicht. Ich riss mein Jagdmesser hoch, ein lautes Klirren hallte durch die Gassen, als ich Angriff abwehrte. Damit hatte er nicht gerechnet, sein Blick verfinsterte sich. Unsere Klingen glänzten im fahlen Licht, während wir uns gegenseitig fixierten.


    Der Augenblick schien wie eingefroren, jede noch so kleine Bewegung wurde zum Tanz mit dem Schicksal. Ein einziger Fehltritt konnte einen von uns das Leben kosten. Rosgars kaltblütiger Blick traf meinen, aber ich ließ mich nicht einschüchtern. Ich musste, seine Regungen und seine Tricks erkennen und gebürend beantworten, wenn ich lebend aus dieser Sache herauskommen wollte.


    Unvermittelt stieß er ein zweites Mal zu, diesmal in Richtung meines Unterleibs. Ich wich mit einer seitlichen Drehung aus und riss mein Messer zur Seite. Funken stoben durch die Nacht. Dann griff ich an und stach mehrmals in Richtung seines Bauches und seiner Brust, mal von oben, mal von unten, mal von der einen Seite, dann von der anderen. Mit blitzschnellen Bewegungen stießen wir abwechselnd zu und wehrten ab, gingen vor und zurück, immer auf der Suche nach einer Schwachstelle beim Gegner. Das Eisen klirrte in tödlichem Takt, Funken stoben wie Blitzlichter. Mein Körper arbeitete wie im Rausch, meine Sinne waren aufs Äußerste geschärft. Meine hervorragende Dämmerungssicht erwies sich als ein Vorteil, der die Erfahrenheit des Menschen ausglich, doch Rosgar war ein gefährlicher Gegner, zum Töten entschlossen. Seine Angriffe waren präzise und zeitlich perfekt abgestimmt.


    Ich exponierte mich für einen Moment, während ich zurückwich und zeitgleich den Arm etwas zu weit hob. Wie erwartet stieß er sofort zu, wobei er einen Ausfallschritt machte, um die Entfernung blitzartig zu überbrücken.


    Gerade noch rechtzeitig trat zur Seite und ließ ihn ins Leere stoßen. Sofort packte ich seinen ausgestreckten Arm, den ich mit einem geschickten Hebelgriff verdrehte. Mit einem brutalen Schwung warf ich Rosgar zu Boden. Dann trat ich gegen seine Hand. Der Dolch rutschte klirrend über das Pflaster. Grinsend nahm ich ihn in die Faust und hielt meinem Gegner seine eigene Mordwaffe an die Kehle.


    Rosgar starrte mich mit großen Augen an, während ich den Triumph in mir aufsteigen spürte. Es fühlte sich unglaublich gut an, jemanden am Boden zu sehen, der einen zuvor gedemütigt hatte. Allerlei böse Ideen stiegen in mir auf, wie ich die Strafe komplettieren konnte, orkische Ideen. Doch ich wollte nicht auf das Niveau eines Rosgar sinken. Der Weg des Meuchlers in den Gassen der Stadt war nicht der Weg, den ich gehen wollte. Ich wollte Krieger werden. So nahm ich einen tiefen Atemzug, in dem ich vor lauter Wohlgefallen erschauerte, und entschied mich für eine andere Art der Gerechtigkeit.


    Anstatt sein schäbiges Leben zu beenden, stand ich auf und trat einen Schritt zurück. «Ich werde nicht wie du enden, Rosgar», sagte ich fest. «Mögest du für den Rest deiner Tage in Schande leben und nie vergessen, dass ich dich besiegt habe.»


    Damit schnitt ich ihm beide Ohren zur Hälfte ab. Er schrie markerschütternd, was sicher bald seine Halunken herbeilocken würde. Doch dann würde ich längst über alle Berge sein. Ich ließ ihn dort, am Boden liegend und gedemütigt, und begab mich auf den Weg zurück zur Burgruine. In der Ferne hörte ich die Rufe der Schläger und das wütende Gekreisch von Rosgar, doch ich wählte eine andere Richtung und niemand begegnete mir mehr.


    Ich fühlte mich auf eine merkwürdige Art erfüllt von Frieden, denn ich hatte meine moralischen Grenzen beibehalten. Das war vielleicht nicht in Dolwins Sinne, doch ich hatte meine Rache bekommen und dennoch meine Integrität bewahrt. Das erfüllte mich mit Stolz und Zufriedenheit. Die zweite Prüfung hatte mich nicht gebrochen, sondern gestärkt. Mit festem Schritt setzte ich meinen Weg fort, entschlossen, auch die anderen beiden Prüfungen zu bestehen und mir meinen Platz in Dolwins Gemeinschaft zu verdienen.

  • Zwischen alten Mauern

    Der Wind heulte im verwitterten Gemäuer der Burgruine, als ich heimkehrte. In dieser herbstlichen Nacht schien die Dunkelheit besonders dicht. Feuchtes Gras klebte mir an den Stiefeln und Zweige knackten unter meinen Schritten. Oril hing bleich am Firmament und tauchte die Umgebung in ein kaltes Licht. Daibos aber, der Unheilsbringer, hielt sich hinter einer Wolke verborgen und färbte sie rot. Ein hässlicher Blutfleck am Nachthimmel. Ich wünschte, ein Schamane würde mir diese Mondkonstellation deuten.


    Als die Nachtwache mich durch das Tor ließ, wurde mir beim Eintreten das Fehlen der Fluchketten bewusst, welche die Bewohner der Ruine vor der Niedertracht der Götter geschützt hätten. Ich durchquerte den Tunnel, der durch die meterdicke Mauer führte. Meine Finger strichen über die zerklüfteten Steine. Es fühlte sich an, als würde mich die Vergangenheit begrüßen – eine verborgene Welt, die sich meinen Händen öffnete und die dennoch schwieg. Welche Macht hatte diese stolze Burg einst derart erschüttert, dass ihre Zinnen eingestürzt waren? Wie war die Hälfte der Wohngebäude zerstört worden? Wenn ich bedachte, wie stabil die Menschen zu bauen verstanden, war diese Kraft eigentlich nur mit den verbotenen Namen der Götter zu erklären.


    Der Burghof eröffnete sich wie eine Arena. Hier mochten einst Märkte und Turniere stattgefunden haben. In der Mitte glommen die Reste des Lagerfeuers. Drumherum standen die verwaisten Stühle. Glimmende Kohlen blinkten in der Asche, als würde die Erinnerung an vergangene Abenteuer in ihnen noch weiterleben. Die heutigen Bewohner dieser Ruine schliefen in den kühlen Gemächern, die Träume der Burg ruhten zu Staub geworden in jeder Mauerritze.


    Auch Dolwin lag zu dieser Stunde in seinem Bett. Es war mitten in der Nacht und damit eine der beiden Zeiten, in denen auch ich zu schlafen gewohnt war. Ich gähnte herzhaft, während ich um das Feuer schlurfte, ein Zeichen, das mein Körper sich langsam entspannte. Doch mir war nicht danach, ins Bett zurückzukehren. Ein heftiger Windstoß riss Laub von den Bäumen. Die Blätter wirbelten um mich herum. Es war schwer zu sagen, worin die wahre Schönheit dieses Anblicks lag. Zarter Nebel zog durch den Burghof. Aus den schattigen Winkeln kroch Efeu empor zum Mondlicht. Weiter oben reckte sich Farn aus den Mauerritzen: Der Berg holte sich seine Krone zurück.


    Ich konnte nicht anders, als mich von der Atmosphäre gefangen nehmen zu lassen. Hier, an diesem Ort, hörte ich den Ruf meines Herzens. Es verlangte, dass meine eigene Geschichte nicht von der Zeit verschluckt werden würde, sondern überdauerte.


    Ich warf neues Holz in die Glut und setzte mich auf einen Stuhl, über den ein dickes Schafsfell hing. Der Nachtwächter legte mir schweigend eine Wolldecke um die Schultern, ehe er zu seinem Posten zurückkehrte. Ich verschränkte die Arme, überkreuzte die Füße, atmete tief durch und schloss die Augen.


    Das Klappern von Geschirr läutete den Morgen ein. Verschlafen blinzelte ich gegen das rote Licht, das mir vom Osten ins Gesicht schien. Gern hätte ich Dolwin sogleich von meinen Erlebnissen berichtet, aber vorerst musste ich mich gedulden. Er legte wert auf einen ruhigen Start in den Tag, bei dem man sich Zeit füreinander nahm.


    Zum Frühstück gab es Fladenbrot. Der Teig war feucht und schwer, schmeckte aber herrlich würzig, weil er nicht aus Getreide, sondern aus gemahlenen Bucheckern und Haselnüssen bestand. Jeden Herbst sammelten die Frauen sie massenweise, um sie für das kommende Jahr zu trocknen. Zu meinem Brotkanten reichten sie mir einen frischen Apfel und ein Stück geräucherten Wildschinken. Mein Frühstück unterschied sich nicht von dem für die anderen. Eine Ausnahme bildete Dolwin, der keine Äpfel vertrug und stattdessen eine Birne genoss. Für den Flüssigkeitshaushalt, wie er es vornehm nannte, erhielt jeder ein Gemisch aus heißem Wasser mit einem Schuss Milch. Das sei angeblich gut für die Knochen. Leider bekam ich die Milch nicht herunter. Da half kein Bemühen um Höflichkeit. Sie war für mich ungewohnt und so ekelhaft, dass ich sie sofort erbrach. Also reichte man mir einen Kräutertee, der meinen Magen wieder beruhigen sollte. Für jedes Zipperlein kannte Dolwin ein Rezept und er teilte sein Wissen gern.


    Die morgendliche Idylle wurde einzig gestört von den Kindern, die sich vor meinem grünen Gesicht fürchteten. Wenn ich sprach und dabei die Zähne blitzen ließ, trug das nicht zu ihrer Beruhigung bei, so dass ständig irgendwo jemand quengelte oder entsetzt losplärrte. Mein Versuch, die kleinen Mitmenschen wieder zum Lachen zu bringen, indem ich mit Rosgars Ohren jonglierte, verdoppelte das Geschrei und zwei Frauen fielen in Ohnmacht.


    Der alte Mann, der mir beim Baden geholfen hatte, lachte. Er schickte Dolwin mit mir zusammen fort, während er sich um alles kümmern wollte. So stiegen wir die verwitterte Treppe hinauf zum Wehrgang. Gemeinsam blickten wir über das erwachende Land. Im Hügelland des Westens drängten sich die roten Spitzdächer von Vellingrad am Ufer eines Sees. Irgendwo dahinter, sagte Dolwin mir, läge das Meer, doch er hätte es noch nie gesehen. Im Osten ragten die steilen Gipfel der Kandoren bis zu den Wolken. Unsere Ruine wachte an der Grenze zur Wildnis, wo die Berge begannen. Der ursprüngliche Zweck dieser Burg war nicht schwer zu erraten.


    Dolwin stellte sich neben mich, wobei er die Hände auf eine intakte Zinne stützte. «Ich habe gesehen, dass du Erfolg hattest. Ich nehme an, die Ohren gehören zu Rosgar Dachsendom?»


    «Er hat seine Strafe erhalten», antwortete ich. Mit einer feierlichen Geste legte ich den erbeuteten Dolch vor Dolwin auf die Zinne.


    Er nahm ihn zur Hand und besah sich die Klinge. «Das ist guter Stahl. Was hast du mit dem Leichnam angestellt?»


    «Ähm.» Ich grinste unsicher. «Er wandelt noch atmend durch die Straßen von Vellingrad. Ich habe mich dafür entschieden, Rosgar Dachsendom am Leben zu lassen. Aber ich habe ihn bestraft!» Ich legte auch die beiden blutigen Ohrstücken auf die Zinne.


    Dolwin lachte in sich hinein. «Nun denn ... die Aufgabenstellung sagte nichts von Töten. Die Ohren und der Dolch genügen mir als Beweis. Du hast die Prüfung folglich bestanden. Aber bitte unterlasse es in Zukunft, mit Körperteilen zu jonglieren. Das macht manchen von uns Angst.»


    «Hm. Verstanden. Kann ich die Ohren trocknen und auf den Trophäengürtel zu den Wolfszähnen fädeln?»


    «Besser nicht.»


    «Na gut.»


    Wenige Augenblicke später waren die beiden Stücken vom Antlitz der Welt verschwunden. Ich leckte mir die Lippen. Das vielgepriesene Menschenfleisch schmeckte nicht schlecht. Dolwin zog ein gequältes Gesicht, sagte aber nichts.


    «Wann kann ich meine zweite Prüfung antreten?», wollte ich wissen. «Heute?»


    Er machte eine beschwichtigende Geste. «Hektik ist nicht gut für das Herz. Der heutige Tag soll deiner Erholung dienen. Morgen geht es weiter.»


    «Na gut», sagte ich, obwohl meine Ungeduld sich kaum zügeln ließ. «Zu einem Drittel bin ich bereits Teil eurer Gemeinschaft. Verrätst du mir, wer du bist und weshalb du mit deiner ganzen Sippe in dieser Ruine lebst?»


    Er lächelte. «Vorerst nur so viel: Die Geschichte dieser Burg und meine Geschichte sind eins.»


    Ich schüttelte verwirrt den Kopf. «Das verstehe ich nicht.»


    «Du wirst es verstehen, falls es dir gelingt, die anderen beiden Prüfungen zu meistern.» Damit verließ er mich, um seinem Tagewerk nachzugehen. Von oben beobachtete ich ihn eine Weile. Mit einem Teil der Männer begab er sich auf den Weg in den Wald, doch ich konnte sie nur kurze Zeit beobachten, bevor sie vom ewigen Schatten verschluckt wurden.

  • Der Baum

    Am Abend saßen die Männer wieder um das Feuer. Die Frauen hingegen aßen für sich in einem Raum, den sie sich gemütlich beheizt hatten. Die Trennung war allerdings nicht vollständig, es wanderte immer mal jemand hin und her oder ein Kind kam ans Feuer, um irgendetwas zu fragen oder zu petzen. Ich aber war ganz in meine Mahlzeit vertieft. Es gab einen Wildgulasch, der mit Steinpilzen und Pfifferlingen aufgekocht worden war. Eine ordentliche Menge Zwiebeln sorgte für eine aromatische Würze. In der herrlichen Brühe trieben die grünen Blätter von Knoblauchsrauke, Vogelmiere und Wildem Kerbel. Für die Sättigung waren außerdem gekochten Topinambur-Knollen hineingeschnippelt worden. Dazu reichte man mir geröstetes Brot.


    «Die erste Aufgabe hat dich offenbar nicht abgeschreckt.» Der alte Mann, der den gleichen Wappenrock trug wie Dolwin, riss mich aus meinen Gedanken. «Du möchtest also tatsächlich einer von uns werden?»


    Ich freute mich darüber, dass er mit mir reden wollte, und nickte bestimmt. «Ja, das möchte ich.»


    Er lehnte sich zurück und musterte mich gründlich. Ich hielt seinem Blick stand. «Gut», sagt er schließlich langsam. «Wir werden sehen, wie deine Meinung dazu nach der zweiten Prüfung ist, die Dolwin für euch vorbereitet hat.»


    «Ähm, für euch?»


    «Es wird ein zweiter Anwärter teilnehmen.»


    «Ach so. Was wird unsere Aufgabe sein?»


    Seine Mundwinkel zogen sich leicht nach oben. «Das weiß allein Dolwin.»


    Der nächste Morgen war eisig. Meine Wollmütze, die fingerlosen Handschuhe und ein gestrickter Schal sorgten für etwas Wärme. Ich dachte darüber nach, meinen Fellpullover über zu ziehen, doch wenn ich mich bewegen musste, wovon ich ausging, würde das Hemd genügen. Während ich auf Dolwin wartete, wärmte ich mich am Feuer. Auch der andere Anwärter gesellte sich dazu. Es handelte sich um eine junge Frau, etwas älter als ich, aber genau so abgekämpft. Ihr kurzes braunes Haar stand unordentlich nach oben, sie hatte unzählbar viele Sommersprossen im Gesicht und eine Himmelfahrtsnase. Ich kannte sie von den Straßen Vellingrads, das war Arvida. Auch sie hatte gelernt zu überleben. Sie grüßte mich nicht, sei es aus Scheu, sei es aus Antipathie, also schwieg auch ich.


    Wenig später trat auch Dolwin ans Feuer, um uns die heutige Aufgabe zu erklären. «Ihr müsst einen Ort finden», erklärte er. «Es ist ein Rätsel, also hört aufmerksam zu:


    Ein Baum, dessen Namen man ungern nennt,

    der in keines Gelehrten Naturbüchern steht,

    Wachet über den Weg, den man einmal nur geht,

    ein Baum, den keiner liebt und den doch jeder kennt.»


    Ich wiederholte gedanklich die Reime, um sie mir einzuprägen. Er blickte ernst von einem zum anderen. «Der Baum liegt in Richtung des Abends, dort, wo die ewige Nacht beginnt. Ich wünsche euch viel Erfolg.»


    Ich spurtete los, Arvida ebenfalls. Die Straße, die zur Burg hinaufführte, liefen wir nebeneinander hinab. Ich spürte meine Nervosität steigen. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete, aber ich ahnte, dass es einen Haken an der Suche nach dem geheimnisvollen Baum geben würde. Bevor wir die Salzstraße erreichten, die vor dem südlichen Fuß des Berges verlief, bogen wir in den Wald ab, um dem kürzesten Weg nach Westen zu folgen. Dolwins mysteriöse Umschreibung trieb uns beide in diese Richtung und damit nach Vellingrad.


    Plötzlich schlug Arvida einen Haken. Als sie im Dickicht verschwand, hörte ich sie noch rufen: «Viel Spaß beim Verlieren, Grünspan!» Dann war sie fort.


    Mit so viel Unfreundlichkeit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte geglaubt, dass wir die Prüfung gemeinsam lösen mussten und uns gegenseitig helfen würden. Doch sie hatte ihre Entscheidung getroffen. Ich gab mir keine Mühe, ihre Spur zu finden und suchte mir meinem eigenen Weg durch das Unterholz, an uralten Bäumen vorbei. Dabei hielt ich Ausschau nach einem abgestorbenen Baum, der markant genug aussah, um das Ziel dieser Prüfung zu sein. Wahrscheinlich stand er an einer besonders dunklen Stelle des Waldes, denn anders wusste ich Dolwins Beginn der ewigen Nacht nicht zu deuten. Die Geräusche um mich herum schienen nur aus dem Rascheln von Blättern unter meinen Füßen und aus meinem eigenem Atem zu bestehen.


    Lag des Rätsels Lösung wirklich im Wald? Welchen Weg ging man nur einmal? Vielleicht den Weg zur Kaserne, weil man als Soldat schließlich dort wohnen musste? Die lag am nördlichen Stadtrand von Vellingrad. Also schlug ich diesen Weg ein.


    Um meine neuen Stiefel zu schonen, mied ich Geröll und Ansammlungen von abgebrochenen Bäumen und Ästen. Ich hatte Sorgen, sie zu durchlöchern. So ging ich bevorzugt auf moosigem Untergrund oder festem Gestein. Eine Ewigkeit später erreichte ich schließlich einen dunklen Teil des Waldes, wo alles still war. Hohe Tannen standen hier mit geraden, säulenartigen Stämmen dicht an dicht. Darunter war es finster. Die Stille hatte etwas Magisches. Dieser Ort war geradezu prädestiniert, einen geheimnisvollen Baum zu beherbergen! Aber auch hier wurde ich nicht fündig. Die Tannen waren zu gleichartig, keine ragte besonders heraus und keine "wachte über einen Weg".


    Ich hielt mich ein Stück weit südlich und folgte dann der Salzstraße etwa zwei Stunden in Richtung Vellingrad. Keiner der Bäume, welche die Böschung säumten, schien mir markant genug, um des Rätsels Lösung zu sein. Da ich nicht vorhatte, die Stadt zu betreten, folgte ich schließlich der Ringstraße, die außen um die gesamte Stadt führte, um mein Glück in der Nähe der Kaserne zu versuchen. Dabei hielt ich respektvollen Abstand zu den Stadttoren und den Wachen. Doch auch der Kaserne kam ich besser nicht zu nah. Bevor ich sie erreichte, erklomm ich einen Berg und blickte hinunter auf Vellingrad. Von hier aus hatte ich einen hervorragenden Überblick. Gründlich betrachtete ich die Umgebung. Die roten Dächer lagen im kalten Nebel, tausend schmale Rauchsäulen stiegen aus den Schornsteinen. Der Himmel war von dunklen Wolken verhangen. Der Wind peitschte um mich herum, und ich spürte, wie er mich bis auf die Knochen durchdrang. Heute würde es den ersten Nachtfrost geben. Ich betrachtete jeden Baum, den ich von meinem Aussichtspunkt aus sah. Welchen davon hatte Dolwin im Sinne?


    Als ich zu keiner Lösung kam, schaute ich mich nach einem Rastplatz um. Einen sonderlich gemütlichen Flecken hatte ich mir nicht gewählt: Ich befand mich auf dem Galgenberg und hinter mir ragte der Galgen ganze drei Etagen hinauf in den Himmel. Die massiven Eichenbalken hatten den Zahn der Zeit überstanden und präsentierten stolz ihre Narben und Risse. Ich stellte mir den dazu passenden Henker vor, dessen Gesicht genau so aussah wie dieses Holz, während ich das Ungetüm weiter betrachtete. Die verrottenden Fasern alter Seile wehten im Wind. Sie waren dunkel verfärbt und erinnerten an Schlingpflanzen, doch einige waren noch hell und intakt. Zwei hielten die Leichen ihrer Opfer, die älteren verwesten in der Knochengrube unter dem Blutgerüst. Wahrscheinlich gab es irgendein Gesetz, das Steuerhinterziehern eine anständige Bestattung verwehrte. Auf dem höchsten Balken versammelten sich Krähen, die unheilvoll krächzten und mich neugierig beäugten. Sie schienen das Geheimnis dieses Ortes zu kennen und flüsterten es sich gegenseitig zu.


    Das Geheimnis. Der Beginn der ewigen Nacht! Ich betrachtete den Galgen noch intensiver und rief mir Dolwins Gedicht ins Gedächtnis:


    Ein Baum, dessen Namen man ungern nennt,

    der in keines Gelehrten Naturbüchern steht,

    Wachet über den Weg, den man einmal nur geht,

    ein Baum, den keiner liebt und den doch jeder kennt.


    Der Galgenbaum. Ich stand vor des Rätsels Lösung!


    Trotz des schauerlichen Anblicks musste ich lachen, weil ich so blind gewesen war. Von Faszination und Grauen gleichermaßen ergriffen ließ ich meinen Blick über das alte Holz schweifen. Der Anblick des Galgens erinnerte mich daran, was Rosgar über die Strafen für Steuerhinterziehung berichtet hatte. Hier fanden wahrscheinlich nicht nur Mörder ihr Ende sondern auch Menschen, die sich keinen Steuerberater leisten konnten oder solche, die - wie ich - von den Rosgars dieser Stadt übers Ohr gehauen worden waren.


    Eine ganze Weile blieb ich dort stehen, auf dem Gipfel des Berges, umgeben von peitschendem Wind und düsteren Ahnungen. War es wirklich nur ein Rätsel oder nicht vielmehr eine Warnung? Ein Hinweis darauf, welches Risiko ich eingehen würde, wenn ich mich den Bewohnern der Ruine anschloss? Ja, ich war sicher. Schreckte mich das? Nein. Das Risiko war seit jeher Teil meines Lebens. Ich war in einer Gesellschaft aufgewachsen, die das Spiel mit dem Risiko regelrecht zelebrierte. Ich würde keinen Rückzieher machen. Auch allein war es gefährlich, aber vor allem sehr kalt und einsam.


    Plötzlich bemerke ich etwas, ein Knistern - ein Knacken - oder waren es Schritte? Ich roch Arvida. Bevor ich mich umdrehen konnte, explodierte ein stechender Schmerz in meinem Hinterkopf, meine Beine gaben nach, dann umfing mich Finsternis.


    Als ich wieder erwachte, befand ich mich wieder am Lagerfeuer in der Ruine, umgeben von den Mitgliedern der Gemeinschaft. Mein Kopf schmerzte abgründig. Arvida grinste siegesgewiss in die Runde.


    «Das war nicht so gut gelaufen», meinte Dolwin und sah mich ernst an. «Ihr habt beide das Rätsel gelöst, doch nur einer ist sicher wieder heimgekehrt.» Bevor ich empört protestieren konnte, hob er die Hand. «Ich will keine Ausreden hören», fuhr er fort. «Für mich zählt nur das Ergebnis. Im Ernstfall hätte deine Unaufmerksamkeit dich das Leben gekostet – und falls du gefangen genommen worden wärest und unter Folter alles ausgeplaudert hättest, das von uns allen. Dafür gibt es keine Entschuldigung.»


    Was für eine Ungerechtigkeit! Hätte ich gewusst, dass gegenseitiges Verprügeln teil des unausgesprochenen Regelwerks war, wäre das Ergebnis ein anderes gewesen. Ich würdigte Arvida keines Blickes, weil ich ihr triumphierendes Grinsen nicht ertragen konnte. Was auch immer Dolwin sich für die dritte Aufgabe ausgedacht hatte, sie würde anders laufen.


    «Jeder von euch beiden hat nun eine bestandene Aufgabe vorzuweisen und eine, in der er versagt hat», erklärte Dolwin. Kurz überlegte ich, wem Arvida wohl blutige Rache schuldete, doch meine Gedanken wurden unterbrochen, weil Dolwin fortfuhr. «Die dritte und letzte Aufgabe wird es sein, die über euer weiteres Schicksal entscheidet. Ruht euch aus. Morgen zu Sonnenaufgang geht es los.»


    Ich biss die Zähne zusammen, wütend, aber entschlossen, mich nicht von Arvida besiegen zu lassen. Das hier war kein bloßer Wettbewerb, für mich ging es um nichts Geringeres als meine Zukunft. Ich wollte hier bleiben und als Teil dieser Gemeinschaft leben, die mich so freundlich empfangen hatte. Ich wollte hier wohnen und Teil von ihnen sein, ich war bereit, mich Dolwin unterzuordnen, für diese Menschen zu arbeiten und zu bluten – freiwillig! In meinem Leben war das ein Novum. Worum es jedoch für Arvida ging, wusste ich nicht. Ich wusste nur, dass sie eine skrupellose Rivalin war.


    Beim Abendbrot aß ich so viel, wie ich konnte. Als ich mich in das Bett legte, hatte ich Bauchschmerzen. Ob es klug war, sich vor der entscheidenden Prüfung vollzustopfen, wusste ich nicht, aber es war womöglich meine letzte Mahlzeit, bevor man mich wieder auf die Straße setzen würde. Der Gedanke machte mir Angst. Ich durfte nicht versagen!


    Mit einem Anflug von Verzweiflung sah ich durch das Fenster hinauf zu den Monden, doch schwere Wolken verdeckten ihre heutigen Gestalten.

  • Zwei Sicheln

    Die Musik des Nachtwaldes wurde von einem Kauz geleitet, dessen regelmäßiges Hu-hu vom Rauschen der Baumkronen begleitet wurde. In den Mauern pfiff der eisige Wind. Weil die Scheiben fehlten, genoss ich freien Blick auf den Nachthimmel. Durch das Fenster betrachtete ich von meinem Bett aus die beiden Monde. Sie standen nah beieinander, zwei Sicheln, eine weiß und die andere rot. Oder, wie die Orks es sagten: Eine Mondsichel glänzte sauber und die andere war in Blut getränkt. Auch ein Unwissender sollte dieses Zeichen zu deuten wissen: In Nächten wie diesen darf die Wachsamkeit nicht nachlassen. Vielleicht war das der Grund, weshalb ich keinen Schlaf fand. Es konnte aber auch daran liegen, dass es ungewohnt war, so zeitig zu Bett zu gehen. Aus Shakorz kannte ich zwei Schlafzeiten, eine zur Mittagszeit und eine um Mitternacht. Dass die Menschen so lange am Stück schliefen oder arbeiteten, ohne jeweils eine Pause dabei einzulegen, war für mich eine Umgewöhnung.


    Und ja – kalt war es auch, trotz der dicken Wolldecke. Die Gemeinschaft der Ruine schlief vermutlich in wärmeren Räumen als ich.


    Mein Ohr drehte sich nach hinten, als leise Schritte die Treppe hinaufkamen. Dolwin war das nicht, dafür war der Gang zu leichtfüßig. Ich drehte mich herum. Wie von selbst schlossen meine Finger sich um den Griff meines Jagdmessers, das ich auch während der Nachtruhe am Gürtel behielt.


    Arvida trug ein gestricktes Nachthemd, oder vielleicht war es auch ein normales Kleid. Jedenfalls war es halbwegs sauber und kuschelig. Ihre Füße steckten in zu großen Männerstiefeln, die Beine waren trotz der Kälte nackt. Während sie näher kam, ließ ich sie nicht aus den Augen.


    «Guten Abend», sagte sie, zog sich eine Kiste heran und ließ sich darauf nieder.


    Ich ließ den Griff des Messers los und setzte mich auf. «Was willst du?», fragte ich.


    Sie versuchte sich an einem Lächeln. «Ich merke schon, du willst deine Ruhe haben. Das verstehe ich, schließlich musst du morgen ausgeschlafen sein. Aber du solltest mir zuhören. Mein Besuch hat etwas mit der nächsten Prüfung zu tun. Ich finde, wir sollten miteinander reden, weil es gestern ... anders gelaufen ist, als vielleicht gut gewesen wäre. Aber wenn du lieber schlafen möchtet, kann ich auch gehen.»


    Mir tat immer noch der Hinterkopf weh und ich ärgerte mich sehr darüber, wie sie mir zu ihrem eigenen Vorteil die zweite Prüfung verdorben hatte. Trotzdem wollte ich wissen, was sie zu sagen hatte. Ich gab meine angespannte Haltung auf und setze mich bequemer hin. «Ich war sowieso noch wach. Reden wir.»


    «Das freut mich.» Beim Lächeln zeigte sie ihre überlangen Frontzähne. Zusammen mit der Himmelfahrtsnase verliehen sie ihr das Aussehen einer Spitzmaus. «Zunächst ist wohl eine Entschuldigung fällig.»


    Nachdem sie das gesagt hatte, wartete ich, doch sie schien ebenfalls auf etwas zu warten und starrte mich an. «Ja?», sagte ich schließlich.


    Nun rieb sie verunsichert ihren Unterarm und blickte zu Boden. «Das heißt dann wohl, dass du meine Entschuldigung ausschlägst.»


    Überrscht hob ich die Brauen. «Nein, das heißt es nicht. Ich warte nur auf die dazugehörige Gabe.»


    «Was denn für eine Gabe?»


    Ich seufzte. «Mein Fehler. Ich vergesse manchmal, dass der Alltag hier ein anderer ist. In Shakorz ist es üblich, jemandem ein Geschenk zu machen, den man um Verzeihung bittet.»


    Sie verzog das Gesicht. «Was verlangst du denn? Du weiß, dass ich nichts besitze außer die Klamotten am Leib.»


    «Ich verlange gar nichts! So funktioniert das nicht.» Die hatte vielleicht Nerven. Entnervt schüttelte ich den Kopf. «Entweder du entschuldigst dich freiwillig bei mir oder überhaupt nicht. Alles andere ist sinnlos. Entscheide dich, beides ist mir recht.»


    «Das klingt ziemlich schroff.»


    Ich zuckte mit den Schultern. «Und? Erwarte bloß nicht, dass ich dich darum bettle, dir verzeihen zu dürfen. Du bist diejenige, die Mist gebaut hat.»


    Prüfend musterte sie mein Gesicht, doch ich gab ihr keine Chance, es zu lesen, und beließ es so versteinert, wie es war. «Du bist eigentlich ein hübscher Bursche», sagte sie.


    Ich lächelte bitter über ihren Versuch, vom Thema abzulenken. Ich wandte mich ab und sah wieder aus dem Fenster, wo die beiden Mondsicheln prangten. Daibos leuchtete noch deutlicher als zuvor und sein Schein erstreckte sich auf die zarten Schleierwolken. Der Kauz aber war verstummt.


    «Ich meine das Kompliment ernst», sagte Arvida.


    Stur sah ich weiter in den Himmel. «Schön für dich.»


    «Du bekommst wohl nicht oft Komplimente zu hören?»


    Meine Antwort war ein leises Lachen. Natürlich bekam ich keine, aber ich lachte, weil mir klar war, dass ihr angebliches Kompliment lediglich den Zweck hatte, mich milde zu stimmen.


    Eine Weile schwiegen wir. «Es tut mir leid», sagte sie in die Stille hinein. «Ich wollte bei dir keine alten Wunden aufreißen.»


    «Hast du nicht. Da sind keine Wunden.»


    In ihrem Versuch, Vertraulichkeit aufzubauen, wirkte Arvida auf mich wie eine näherkriechende Giftschlange. Ich hoffte, dass sie endlich aufhören würde. Sie war schließlich nicht mein Milchbruder. Andererseits wusste ich nicht, was mich morgen erwarten würde. Langsam zogen die Schleierwolken an den Mondsicheln vorbei, rötlich besudelt vom unheilbringenden Licht des Daibos. Ich beobachtete, wie sie ihre Form veränderten und schließlich in der Nacht verwehten. Doch die Antwort auf all meine stummen Fragen blieb verschlüsselt. Vielleicht wäre es besser, die sture Haltung aufzugeben und einen Schritt auf Arvida zuzugehen? Immerhin glaubte sie anscheinend, dass eine Rivalität zwischen uns auf Dauer nicht der richtige Weg war, sonst würde sie nicht hier sein. Und das musste ihr angerechnet werden. Oder was waren ihre wahren Beweggründe?


    Irgendwo in einem Winkel meiner Aufmerksamkeit registrierte ich, dass Arvida meinen Rücken streichelte, unangenehm zart. In tiefem Argwohn drehte ich mich zu ihr um. Sie setzte sich neben mich auf das Bett.


    «Wenn es in Shakorz so üblich ist, wie wäre es mit einem ganz besonderen Geschenk?», fragte sie.


    Natürlich verstand ich, worauf sie hinauswollte, doch ich schwieg hartnäckig.


    Arvida gab noch nicht auf. «Die Nacht ist kalt und wir beide sind jung und ungebunden. Wir könnten uns das Lager teilen. Wäre das nicht ein guter Weg, sich wieder miteinander zu versöhnen?»


    Nach dieser kruden Logik konnte ich froh sein, dass Kaudruk nie auf die Idee gekommen war, sich bei mir für seine zahllosen Untaten zu entschuldigen. Warum konnte sie mir nicht etwas zu Essen anbieten, ein selbstgefangenes Tier oder irgendjemandes Ohren? Erneut rief ich mir ins Gedächtnis, dass sie ein Mensch war und es keinen Sinn machte, sie nach orkischem Maß zu messen. In Naridien lebte man anders als in Shakorz, es gab hier keine Bruthöhlen und keine Sklaven, zumindest nicht legal. Arvida konnte nicht wissen, dass sie mir mit ihrem Angebot keinen Gefallen erwies und ich froh war, wenn man mich in meinem Bett einfach in Ruhe ließ. Sie sah mich durch die Augen einer jungen Menschenfrau und nicht durch die Augen eines Orks. War es nicht das, was ich mir gewünscht hatte, als Mensch betrachtet zu werden? Und vielleicht meinte sie ihre Worte sogar ernst.


    Ich schloss die Augen, in die Berührung hineinspürend. Am Ende war es für mich Routine. Im Streit wollte ich die Prüfung nicht angehen, denn ich durfte nicht versagen. Dolwins Aufgaben waren meine erste und letzte Möglichkeit, Teil der Gemeinschaft zu werden. Wenn dies der Weg der Versöhnung war und der Weg zum Erfolg damit näher rückte, dann sollte es so sein.


    Unvermittelt griff ich mit der Faust in Arvidas Wollkleid. Langsam drückte ich sie in mein Bett. Das Holz knackte durch die Gewichtsverlagerung. Arvida sah mich aus großen Augen an. Plötzlich einen Halbork mit eindeutigen Absichten über sich zu haben, ist sicher ein besonderes Erlebnis, dass sie nicht so schnell vergessen würde.


    Ich grinste ein wenig, wobei ich meine Zähne zeigte, ihren Schrecken auskostend. «Was nun, Arvida? Ich bin, was ich bin. Machst du einen Rückzieher?»


    Ihr Schreck legte sich, sie lachte leise. Hoch über ihr leuchteten die beiden Mondsicheln, blendend grell, oder war es Einbildung? Sie schob die Hände um meinen Nacken und zog mich zu sich herab.


    In dieser Nacht bekam sie ihr «Ja», obwohl sie keine Versöhnung verdiente.

  • Die letzte Prüfung

    Als wir zu Sonnenaufgang am Feuer im Burghof eintrafen, saß die Gemeinschaft beim Frühstück. Dolwin war nirgends zu sehen. Man reichte jedem eine Tasse Gulasch vom Vortag und heißen Tee. Wenk, der Nachts über die Sicherheit der Burg wachte, grinste, weil wir zu zweit erschienen. Man sah uns an, dass wir kaum geschlafen hatten. Jedoch ging Arvida mit ihrem Frühstück ein paar Schritte abseits, um allein zu essen, und ich setzte mich zu Wenk.


    Ich freute mich, als er mir für die Prüfung viel Erfolg wünschte.


    Nach dem Essen führte mich der Greis, der wie Dolwin einen Wappenrock trug, ins Innere der Ruine. Dort zog er einen schweren Schlüssel hervor. Wir betraten nun einen Bereich, der mir bisher verschlossen geblieben war. Wir folgten einem Gang, der noch immer prunkvoll war wie in alten Zeiten. Die zerstörerische Macht, die einen Teil der Mauern eingeschlagen hatte, war nicht bis hierhin vorgedrungen. Ein grüner Teppich kennzeichnete unseren Weg. Er endete bei einer zweiflügeligen Holztür mit aufwändigen Schnitzereien. Der alte Mann klopfte. Als Dolwins Stimme erklang, trat er zunächst ohne mich ein. Ich hörte, wie sie redeten, konnte aber die Worte nicht verstehen. Kurz darauf öffnete er die Tür, um mich hineinzubitten.


    Ich atmete tief durch und straffte meine Haltung, bevor ich mit festem Schritt den Raum betrat. Ein grüner Kachelofen spendete wohlige Wärme. Die Luft roch nach dem Ruß zahlreicher Kerzen, die auf einem Kronleuchter brannten, der aus Hirschgeweihen gefertigt war. Es war ein wenig stickig. Ich kämpfte meine Aufregung herunter, indem ich meinen Blick durch den Raum schweifen ließ.


    Die blanken Steinmauern verhießen Standhaftigkeit und Stärke. Zahlreiche bunte Banner wehten sanft in der warmen Ofenluft. Dazwischen hingen Gemälde, auf denen vergangene Schlachten, Siege und Niederlagen in lebendigen Details festgehalten waren. Ich sah keinen Staub darauf. Dolwin von Niederau hielt sie in Ehren. Direkt hinter ihm prangte ein Rundschild an der Wand, der mit Ästen und grünem Laub bemalt war. Die Scharten alter Kriege zierten die Oberfläche wie Narben, die nie vergessen werden sollten. Darunter hing ein Speer. Im Mittelpunkt des Raumes stand ein massiver Eichentisch, das Holz war dunkel von zahllosen Jahren. Darauf türmten sich Briefe, Tabellen und Karten. Dolwin organisierte das Leben der Gemeinschaft anscheinend ausgesprochen gründlich.


    Er saß auf einem gewaltigen hölzernen Stuhl – ich bin geneigt zu sagen: Thron. Mein Herz schlug ziemlich schnell. Ich spürte seinen Blick auf mir ruhen. Aber ich blieb aufrecht stehen und sah ihm in die blauen Augen. Was mochten sie schon alles gesehen haben? Wer war Dolwin von Niederau?


    Auch wenn ich ihn kaum kannte, fühlte ich mich ihm nahe, denn ich ahnte, dass er, wie ich, harte Zeiten die Stirn geboten hatte. Mehr noch, ich war sicher: Wenn jemand hier in Naridien meine Situation verstand, dann er. Umso entschlossener war ich, die letzte Prüfung zu meistern. Ich würde mich gegen alle Widerstände behaupten und als Kämpfer beweisen.


    Die Tür wurde hinter mir ein zweites Mal geöffnet. Arvida trat ein. Sie stellte sich neben mich, dann versank sie in einer Verneigung. Das erschien mir merkwürdig, doch ich schwieg, denn es oblag Dolwin, das Gespräch zu eröffnen.


    «Ihr beide seid hier, um eure letzte Prüfung anzutreten», sagte er schließlich.


    «Ja», sagten Arvida und ich synchron, worauf wir einen kurzen Blick wechselten.


    Dolwin reichte uns jeweils einen Gegenstand. Arvida bekam ein zusammengefaltetes Pergament augehändigt und ich einen Kompass. «Eure Aufgabe ist es, den Turm zu finden, der auf dieser Karte eingezeichnet ist. Früher war er von nicht unerheblicher Bedeutung, weil er als Maut- und Zollstelle diente. Außerdem wurde die Einfuhr von Edelpelzen und Torfkohle kontrolliert. Heute steht er leer, ihr könnt euch ihm gefahrlos nähern. Wenn ihr den Turm erreicht hab, werde ich entscheiden ob einer von euch Mitglied unserer Bande werden darf.»


    Erneut wechselten Arvida und ich einen Blick. Nur für einen von uns gab es Platz in Dolwins Gemeinschaft, und trotzdem besaß jeder von uns nur ein einziges Hilfsmittel zur Orientierung. Ich ahnte, dass diese Prüfung in jeder Hinsicht die Schwierigste von allen werden würde.


    Wir verließen die Burg gemeinsam und begannen unsere Reise durch den morgendlichen Wald. Arvida stapfte vorneweg und ich folgte ihr. Dabei beobachtete ich die Kompassnadel, die stets in die gleiche Richtung zeigte, ganz egal, wie oft wir abbogen. Ich hatte noch nie mit einem solchen Instrument gearbeitet, aber der Zweck dieses Prinzip wurde mir rasch klar.

    Nach einer Weile steckte ich den Kompass in meine Tasche und ergriff Arvidas Schulter. «Warte.»


    Widerwillig blieb sie stehen. «Was ist denn?»


    «Momentan folgst du nach Gefühl einer Richtung. Aber es wäre keine Prüfung, wenn es derart leicht wäre, den Turm zu finden. Das hier sind die Ausläufer der Kandoren, die Landschaft wird bald felsig und zerklüftet. Wir brauchen einen Plan. Du hast die Karte und ich den Kompass. Man benötigt beides, um sich zuverlässig orientieren zu können. Dass wir zusammenarbeiten müssen, ist offensichtlich.»


    «Das habe ich gestern Abend schon gesagt.» Sie schmunzelte, doch es wirkte verkrampft. «Gib mir mal den Kompass, damit ich die Karte ausrichten kann.»


    Ich zog einen Mundwinkel zur Seite. «Ich habe einen besseren Vorschlag: Öffne zuerst die Karte und lass uns gemeinsam hineinschauen, bevor ich den Kompass vorzeige.»


    «Die Reihenfolge ist doch völlig egal!»


    «Eben. Es sollte dich nicht stören, den ersten Schritt zu machen.»


    Ihr Lächeln erstarb. «Ich dachte, wir hätten gestern unsere Differenzen aus dem Weg geräumt?»


    «Haben wir», sagte ich, «aber das gilt nur für die Vergangenheit. Dass ich dir verziehen habe, heißt nicht, dass ich dir in Zukunft vertrauen werde.»


    Sie schaute mich bitterböse an. Beleidigt wandte sie sich ab, weil ihr kleines Spielchen bei mir nicht funktionierte.


    Eine Weile stapften wir noch zusammen durch den Wald. Anfangs versuchten wir, durch theoretische Überlegungen eine Lösung zu finden, aber jeder hatte seine eigenen Vorstellungen davon, was der beste Pfad wäre. Verlässliche Fakten gab es ohne eine Zusammenarbeit unserer Hilfsmittel nicht. Alle Überlegungen blieben Spekulation. Wir diskutierten und zankten uns fast die Köpfe ab, versuchten uns gegenseitig zu überreden, den ersten Schritt zu machen, doch keiner vertraute dem anderen.


    Schließlich gingen wir nur noch schweigend hintereinander her. Es war Mittag, als Arvida stehen blieb und auf eine Gesteinsformation starrte, die uns den Weg versperrte. «Diese Felsen sollten dort nicht sein», murmelte sie.


    «Na toll. Und was heißt das? Haben wir uns verirrt?»


    «Vielleicht», sagte sie. «Gib mir den Kompass, ich kontrolliere das nach.»


    «Ich behalte ihn in der Hand und lasse dich schauen, wenn du vorher die Karte öffnest», antwortete ich stur. «Bisher hast nur du einen Blick hineingeworfen.»


    «Und du hast als Einziger Zugriff auf den Kompass!» Sie ballte die Fäuste. «Sobald du den Weg kennst, stößt du mich in die nächste Schlucht und streichst den Erfolg allein ein. Vergiss es!»


    Auch diesmal kamen wir zu nicht zu einer Einigung. Wir sprachen für die weitere Strecke kein Wort miteinander. Da Arvida die Karte besaß, war sie von vornherein im Vorteil und das wusste sie genau. Sobald sie diese nach Norden ausgerichtet hatte, brauchte sie mich nicht mehr. Das war auch der Grund, warum ich mich an ihre Fersen heftete, denn ansonsten hätte ich keinerlei Anhaltspunkt, wo der Turm liegen könnte.


    Als wir nach vielen Stunden eine Schlucht erreichten, die unseren Weg jäh beendete, erfüllte uns beide Hoffnungslosigkeit. Da drehte sich Arvida zu mir herum und sah mir in die Augen, ein schmerzliches Lächeln auf den schmalen Lippen. «An dieser Stelle Danke für alles.» Sie umarmte mich. Ehe ich mich versah, riss sie mir den Kompass aus der Tasche und rannte davon.


    «Stehenbleiben», brüllte ich, doch sie lief, was ihre Beine hergaben.


    Ich kochte vor Wut. Wenn sie mir jetzt entkam, würde sie Mitglied der Gemeinschaft werden. Ich aber müsste den Winter als Landstreicher verbringen, der einen langsamen und einsamen Kältetod starb. Nein, diese Prüfung würde nicht so enden wie die zweite! Dass ich Spuren lesen konnte, erwies sich als Vorteil, denn Arvida hinterließ auf ihrer Flucht sehr deutliche Fußabdrücke. Obwohl ich sie bald aus den Augen verlor, gelang es ihr nicht, mich abzuschütteln. Ich ließ ihr bewusst einen Vorsprung, um sie in Sicherheit zu wiegen, tauchte dann jedoch unvermittelt hinter ihr auf, gönnte ihr keine Verschnaufpause.


    Ich wurde ganz Jäger und behandelte sie wie ein gehetztes Reh. Es waren Ausdauer und Intelligenz, die den Ausschlag geben würden, nicht die Geschwindigkeit. Als ich ihr die Erschöpfung bereits deutlich anmerkte, überholte ich sie in einem weitläufigen Bogen und stieß dann erneut auf ihren Pfad.


    «Buh», sagte ich und trat böse grinsend in ihr Blickfeld. «Kompass und Karte, aber dalli.»


    «Vergiss es», schrie sie und ihr Kopf war rot vor Anstrengung und Wut. Sie schlug einen Haken und rannte schwer keuchend den Pfad zurück, den sie gekommen war. Das Manöver war leicht zu durchschauen. Da sie sich auf den Wegen hielt, war ihre Fluchtroute für mich leicht zu erraten. Was Ausdauer betraf, war ich eindeutig im Vorteil. Die Jahre als Jäger hatten mich trainiert. Arvida pfiff bereits aus dem letzten Loch, während ich noch zahlreiche Reserven hatte. Ich rannte erneut einen Bogen und fing sie ein zweites Mal ab.


    Ich hielt ihr die offene Hand entgegen. «Kompass und Karte, ich sage das kein drittes Mal. Wenn ich dich das nächste Mal stelle, wird es schmerzhaft.»


    Da hob sie einen faustgroßen Stein und schleuderte ihn in meine Richtung. Er traf mich genau zwischen die Augen, wie seinerzeit die Tonflasche von Gory Gierschlund. Wann lernte ich endlich, fliegenden Gegenständen auszuweichen? Es war ein Volltreffer. Ich plumpste mit dem Hintern auf den Waldboden, wo ich benommen sitzen blieb, um mein Bewusstsein ringend Der Wurf war nicht von schlechten Eltern gewesen. Nun aber nahm Arvida einen zweiten, weitaus größeren Stein, den sie mit beiden Händen anheben musste. Sie hielt ihn hoch über den Kopf und kam mit grimmigem Blick auf mich zu.


    «Du wirst nicht länger zwischen mir und meinen Träumen stehen», posaunte sie.


    Ich kam wieder auf die Beine, wankend, aber entschlossen. «Du vergisst, wen du vor dir hast», grollte ich und legte die Hand um den Griff meines Jagdmessers. «Tu jetzt nichts, das du bereuen würdest. Und jetzt her mit den Gegenständen, dann lasse ich dich vielleicht am Leben.»


    Wütend heulte sie auf. «Wer bist du schon, WAS bist du schon?!»


    Sie schleuderte den großen Stein in Richtung meines Kopfes. Diesmal wich ich aus. Polternd krachte er gegen einen Baum, dessen Rinde absplitterte. Wäre das mein Schädel gewesen, wäre ich tot. Nun gab es auch für mich kein Zögern mehr. Ich ging auf Arvida los und eine wüste Schlägerei entstand. Mit dem Knauf meines Jagdmessers setzte ich ihrer heftigen Gegenwehr ein Ende. Schlaff sackte sie zusammen. Ihre Beule war allerdings nichts gegen die stark blutende Platzwunde an meiner Stirn. Die Schwellung begann sich auf mein rechtes Auge auszubreiten, so dass ich damit kaum noch etwas sah.


    Ich setzte mich auf sie und packte ihren Kragen, das Jagdmesser noch immer in der Hand. «Wie wäre es, wenn ich dir die Kehle aufschneide, hm? Wenn ich mich so aufführe wie du, du mieses Stück?»


    Sie wagte nicht zu antworten, doch ihr Blick war voller Hass.


    «Was ist, hast du die Hosen voll? Soll ich die die Kehle aufschlitzen wie einem Stück Wild?»


    Noch immer schwieg sie, ihre Unterlippe zitterte.


    «Ich habe jeden Grund dazu», grollte ich, «aber an dir mache ich nicht mein Messer schmutzig.» Ich wickelte mein Halstuch ab und fesselte ihr damit die Hände hinter den Rücken. «Hoch jetzt!»


    Wankend stand sie auf. Ich nahm ihr Kompass und Karte ab, untersuchte sorgsam den Weg und versuchte, unsere bisherige Strecke zurückzuverfolgen. Das ist nicht leicht, wenn man noch nie eine Karte gelesen hat, doch zum Glück verstand ich bald das Prinzip. Zufrieden packte ich die beiden Hilfsmittel in meine Tasche. Ich trieb Arvida mit dem Jagdmesser vor mir her, bis wir am Nachmittag gemeinsam den Turm erreichten.


    Da sprang eine Truppe von Männern aus ihrem Versteck. Sofort umzingelten sie uns. Einer von ihnen war Dolwin von Niederau. Arvida stieß einen erleichterten Schrei aus. «Hilfe», rief sie. «Der Ork will mich umbringen! Er hat mir die Karte geklaut!»


    Dolwin schaute mich sehr ernst an. Es dauerte, ehe er das Wort ergriff. «Einer von euch hat die Prüfung nicht bestanden», sagte er langsam.