Der Riss - unterirdische Reliktjägerkneipe

  • Der Riss

    Auf dem Weg zum "Riss" musste man einen gefährlichen Weg durch den Taudis zurücklegen. Der Taudis war eine labyrinthartige Welt aus Tunneln, Höhlen und Spalten, die sich unter der Oberfläche von Asamura erstreckten. Er war das Revier der Reliktjäger. Sie orientierten sich mit Karten, Kompassen und Sturmlaternen. Sie mussten ständig auf der Hut sein, um nicht in einen Hinterhalt zu geraten oder beim Klettern abzustürzen.


    Um zur Kneipe zu gelangen, musste man im äußeren Taudis einen rostigen Hebel finden und umlegen. Dabei öffnete sich eine Falltür. Während sich der Hebel langsam wieder zurück in seine Ausgangsposition bewegte, Schloss sich auch ratternd die Falltür wieder, man hatte also nicht viel Zeit. Danach stieg man eine Eisentreppe hinab, die inmitten einer Schlucht sehr weit in die Tiefe führte, ehe man den Grund erreichte. Dort unten fand man Schotter und Dunkelheit, doch die vielen herumliegenden Kippen, leeren Konservendosen, zerbrochenen Flaschen und abgenagten Knochen verrieten, dass es hier noch mehr geben mussste. Auch war im Schotter ein Weg freigeräumt, dem man folgen konnte. An seinem Ende fiel schließlich aus einem Felsspalt ein Streifen Licht.


    Die Kneipe war die letzte Bastion der Zivilisation. Sie hieß "Der Riss", und sie war nur durch einen schmalen Spalt in der Felswand zu erreichen. Die Reliktjäger mussten sich durch den Spalt zwängen, um in die dunkle Höhle zu gelangen, die als Schankraum diente. Dort erwartete sie ein schäbiger Tresen. Von der Decke hing eine Sturmlaterne, die ein flackerndes Licht warf. An den Tischen saßen Gestalten in Leder und Metall, die ihre Erfahrungen austauschten, ihre Relikte begutachteten oder feilschten. Sie trugen Masken, um ihre Gesichter zu verbergen. Viele prahlten mit ihren Abenteuern im Taudis. An den Tischen einzuschlafen war in Ordnung.


    Falls jemand Zweifel hegte, dass man ein echter Reliktjäger sei, musste man ein Rätsel beantworten:


    ♦♦♦

    "Ich bin das Herz des Taudis,

    ich bin der Zeuge der Zeit,

    ich bin der Fluch der Reliktjäger

    ich bin der Schlüssel zur Macht.


    Wer bin ich?"

    ♦♦♦


    Die korrekte Antwort lautet: "Ein Relikt." Wer das Rätsel nicht löste, galt als Spion der Außenwelt und sein letztes Stündlein hatte geschlagen.


    Die Sitzgelegenheiten in der Kneipe waren spärlich und unbequem. Die Tische waren aus grobem Holz gezimmert, das mit Rissen und Kerben übersät war. Die Stühle waren aus Metallstangen und Lederfetzen zusammengeschweißt, die kaum Polsterung boten. Die Bänke waren aus Steinblöcken gehauen, die kalt und hart waren. Die Reliktjäger kümmerten sich nicht um den Komfort, solange sie einen sicheren Platz hatten. Sie saßen dicht gedrängt an den Tischen, die oft mit Krügen, Tellern und Waffen übersät waren. Sie achteten darauf, niemanden anzustarren und es mit rauen Spielchen hier unten nicht zu übertreiben, denn das konnte leicht zu einem Streit oder einem Kampf führen. Hier unten galt schließlich der Oberflächenfrieden nicht, weshalb man auch seine Waffen nicht abgab.


    Der Wirt der unterirdischen Kneipe war ein alter Reliktjäger, der aufgrund seines körperlichen Zustands nicht mehr selbst nach Relikten suchen konnte. Er war maskiert, um seine Identität und seine Verletzungen zu verbergen. Er hieß Zorn, und er war eine Legende unter den Reliktjägern. Er hatte in seiner Karriere unzählige Relikte gefunden und verkauft, aber auch viele Feinde gemacht. Er war in viele Kämpfe und Konflikte verwickelt, die ihm Narben und Wunden zugefügt hatten. Er hatte einen Arm und ein Bein verloren und die Götter wussten, was noch alles, und er konnte nur noch mit einer Krücke laufen. Er hatte sich aus dem Geschäft mit den Relikten zurückgezogen und die Kneipe eröffnet, um seinen Lebensabend im Taudis zu verbringen. Er war ein strenger Wirt, der keine Unordnung oder Unruhe in seiner Kneipe duldete. Er schenkte Bier und Schnaps aus, die er selbst braute oder destillierte. Er kochte auch Essen, das er aus den Zutaten zubereitete, die er im Taudis fand. Er verlangte faire Preise für seine Waren, aber er akzeptierte keine Relikte mehr als Zahlungsmittel. Damit hatte er endgültig abgeschlossen.


    Der “Riss” war ein sicherer Ort für die Reliktjäger, denn sie respektierten Zorn, der selbst kein Jäger mehr war, und sie alle brauchten diese Kneipe, um sich zu stärken, bevor sie im Taudis auf sich allein gestellt waren. Deshalb ließen sie die Kneipe in Ruhe und überfielen sie nicht.


  • Ankunft im Riss


    Nachdem ich einige lange und anstrengende Tage im Taudis verbracht hatte, erreichte ich den Riss. Die Kneipe war heute ziemlich voll. An den Möbeln, die aussahen, als entstammten sie einem Schrottplatz, saßen dicht gedrängt die Reliktjäger. Ich sah einige alte Bekannte, aber auch Kollegen, die mir bisher noch nicht begegnet waren.


    Ich drängte mich zum Tresen und bestellte mir ein Bier. Dabei spürte ich ihre Blicke auf mir. Einige waren neugierig, andere misstrauisch, wieder andere feindselig. Ich ignorierte sie und quetschte mich an einen schiefen kleinen Tisch. Dort schlürfte ich mein Bier durch eines der eisernen Trinkröhrchen, wie sie in Reliktjägerkneipen zu den Getränken ausgegeben wurden, damit man seine Maske nicht abnehmen musste.


    Es war ein selbst gebrautes Bier, das Zorn aus verschiedenen Zutaten herstellte, die er im Höhlenlabyrinth fand. Er nannte es einfallsreich «Taudisbräu» und behauptete, dass es die beste Medizin für einen Reliktjäger sei. Er sagte, es würde Kraft und Mut verleihen, um die Gefahren der Tiefe zu überstehen. Er sagte auch, dass es den Reliktjäger helfen würde, ihre Schmerzen und Sorgen zu vergessen. Und jeder, der den einbeinigen und einarmigen Wirt sah, der seine letzten Jahre im selbstgewählten Exil der Tiefe verbrachte, erkannte, dass Zorn wusste, wovon er sprach. Er hatte viele Stammkunden, die sein Bier liebten und lobten. Natürlich gab es auch unzufriedene Kunden, die es widerwärtig fanden, was an den eigenwilligen Zutaten lag. Zorn kümmerte sich nicht um sie und schenkte ihnen kein Bier mehr aus. Er war stolz auf sein Bier, und er wollte es nicht ändern.


    Ich blickte mich suchend um. Der Jäger, mit dem ich mich treffen wollte, war noch nicht eingetroffen. So vertrieb ich mir die Zeit damit, die anderen zu beobachten und ihren Gesprächen zu lauschen. Die Kneipe mit ihren natürlichen Steinwänden sah aus wie eine gemütliche Höhle. Der Boden bestand aus Sand, der mit unglaublich staubigen Teppichen bedeckt war. Als Zimmerdecke diente ein Metallgerüst, an dem eine einzelne flackernde Sturmlampe hing, die zwischendurch immer mal wieder ausfiel. Darüber verlor sich die Felsspalte in ewiger Dunkelheit.


    Es war eng im Riss, man konnte kaum gehen, ohne jemandem mit dem Messergriff am Gürtel eine zu verpassen oder mit seinem Hintern einen Becher von einem Tisch zu reißen. Es blieb nicht viel Raum für Individualdistanz. Die meisten meiner Rivalen waren Einzelgänger und man nahm die erzwungene Nähe nur widerwillig hin. Doch mir gegenüber saßen zwei Reliktjäger in stummer, beinahe schon harmonischer Eintracht nebeneinander. Mit ihren behandschuhten Fingern schrieben sie sich geheime Botschaften in den Dreck auf den Tisch, die sie gleich wieder verwischten. Sie gehörten vermutlich zu jenen, die im Taudis für immer ihr Refugium gefunden hatten und überhaupt nicht mehr an die Oberfläche zurückkehrten.


    Ein Beben erschütterte das Gestein, der Eisenstuhl vibrierte unter mir. Die Gäste der Kneipe blieben ruhig und warteten ab. Jeder Reliktjäger kannte die unterirdischen Erschütterungen, die einer der zahllosen Gründe waren, einen Helm zu tragen. Die Sturmlaterne flackerte und fiel für einen Moment komplett aus. Für zwei Atemzüge saßen wir in vollständiger Finsternis.


    Als das Licht zurückkehrte, knirschte und ächzte es im Eingang. Ich wandte den Kopf. Ein weiterer Gast quetschte sich durch die Gesteinsspalte, welcher die Kneipe ihren Namen verdankte. Es war Rex, pünktlich und verlässlich, beides keine sonderlich häufigen Eigenschaften unter Reliktjägern. Ich hob die Hand, damit er mich bemerkte.


    Er hob ebenfalls die Hand. «Sodo! Du alter Hund!» Gut gelaunt kam er auf meinen Tisch zu. Er war groß und kräftig, trug eine Lederjacke, eine metallbesetzte Hose und einen Helm mit einem Visier. An seinem breiten Waffengurt hingen ein Dolch und ein Bastardschwert.


    Rex war ein ehemaliger Söldner, den ich im Taudis kennengelernt hatte, ein harter Brocken, der keine Angst vor Gefahren kannte. Er war stur und eigensinnig, ein Experte für den Nahkampf und die Überlebenskunst im Äußeren Taudis. Aber er war auch loyal, weshalb er zu den wenigen Reliktjägern gehörte, mit denen mich eine Freundschaft verband. Unter den Reliktjägern genoss er einen guten Ruf, hatte aber gleichzeitig viele Feinde, deren Abneigung über bloße Rivalität hinausging. Leider war er auch risikofreudiger, als gesund für ihn war. Ihn wiederzusehen war nicht selbstverständlich, und ich freute mich, dass er wohlauf war.


    Er erreichte meinen Tisch und umarmte mich. Er roch nach Schweiß, Rauch und nach Blut. Ich erwiderte seine Umarmung und klopfte ihm auf den Rücken. «Lange nicht gesehen, Rexi. Lass das nächste Mal früher wieder von dir hören.»


    «Besorgt gewesen?»


    «Quatsch. Ich wollte wissen, ob ich endlich deine Gebeine plündern kann. Aber nein, der Herr ist einfach mal wieder monatelang auf Expedition.»


    Er lachte und klopfte mich kräftig, damit ich es unter meiner Schutzkleidung spürte. Ich trug eine Lederrüstung, darüber ein Kettenhemd mit einem Waffengurt um die Hüfte sowie Eisenschienen an den Unterarmen und Schienbeinen. Über dem Kettenhemd trug ich einen kurzen Wappenrock mit seitlicher Schnürung, der jedoch kein Wappen zeigte, sondern einfarbig schwarz war, denn ich kämpfte in diesen Tagen für niemanden. Dazu gehörte natürlich stets der Helm. Auf meinem Rücken lagen über Kreuz meine beiden Kurzschwerter, am Gürtel trug ich mein Jagdmesser. Jeder Reliktjäger hatte seinen eigenen Stil, doch gänzlich unbewaffnet und ungerüstet stieg niemand in den Taudis.


    Er ließ mich los und setzte sich neben mich an meinen Tisch. Er bestellte sich einen Schnaps und grinste mich durch die Mundöffnung seines Helms an. Dabei zeigte er seine Zähne, von denen einige fehlten. Er war ein guter Freund, aber auch ein gefährlicher Gegner. «Hast du etwas Interessantes für mich dabei, Sodo?»


    Ich nickte. «Das will ich meinen. Ich habe ein paar Sachen gefunden, die dich vielleicht interessieren könnten. Aber zuerst erzähl mir, wie es dir geht. Wie war dein letzter Ausflug in den Taudis?» Ich lehnte mich zurück, auf eine gute Geschichte hoffend, denn die Wochen und Monate im Taudis konnten trotz aller Gefahren manchmal recht eintönig und langweilig werden.


    «Es war eine harte Reise, Sodo, das sag ich dir. Ich bin auf eine Höhle gestoßen, die voller Grubenasseln war, groß wie Ochsen. Ich hätte mich durchkämpfen müssen, um zu der Kammer zu kommen, in der ich das Relikt vermutete. Siehst du die Abdrücke?» Er fädelte seinen blutverschmierten Arm aus der Jacke. Seine Hautfarbe verriet, dass er ein Mensch war. Er zeigte mir eine nässende Bisswunde an der Schulter.


    Ich beugte mich herüber, um sie zu betrachten. «Das sieht übel aus.» Mehr als das! Er hatte Glück gehabt, dass er nicht verblutet war. «Halt mal still.» Ich zog meinen Rucksack heran, der auf dem Boden unter dem Tisch stand, und holte ein Tuch hervor, das ich in seinen Schnaps tauchte. Vorsichtig begann ich, die Krusten zu lösen und die Wunde zu reinigen. Trotz der Schmerzen, die ich im zweifellos zufügte, hielt er still und ließ mich die Behandlung durchführen.


    Derweil trat ein weiterer Reliktjäger durch den Riss.

  • Nia Nachtigall


    Der Gangart nach vermutete ich eine Frau, auch wenn man das bei jemandem in Rüstung nicht immer eindeutig feststellen konnte. Ihr Hals wurde von einem üppigen Kragen aus braunen Vogelfedern gewärmt. Zu meinem Missfallen marschierte sie schnurstracks an unseren Tisch, quetschte sich zwischen Rex und mich, obwohl da überhaupt kein Platz war, und pflückte mir das Tuch aus der Hand. «Danke, das übernehme ich.»


    «Was zum Taudis?!», rief ich in einer Mischung aus Empörung und Verstörtheit.


    Sie schnaubte nur und setzte, ohne aufzusehen, meine Arbeit fort.


    Rex grinste verschämt. «Darf ich vorstellen? Nia Nachtigall, meine, äh ... Partnerin. Nia, das ist Sodo, ein alter Bekannter.»


    So, jetzt war ich also plötzlich kein Freund mehr, sondern nur noch ein Bekannter.


    «Aha», sagte sie.


    Verärgert beobachtete ich ihr Treiben, während Rex stolz vor sich hin grinste.


    Das männliche Pärchen gegenüber fühlte sich durch die unerwartete Gegenwart einer Frau anscheinend genau so gestört wie ich. Sie zahlten und gingen. Nia brachte alles durcheinander.


    «Aber genug geplaudert», sagte Rex, und würgte damit seine Geschichte ab, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Zeig mir, was du gefunden hast.» Er beugte sich über den Tisch, um an Nia vorbeisehen zu können.


    «Na gut», murrte ich. «Schau dir das hier mal an.» Ich holte eine kleine Kugel aus Metall heraus, die mit seltsamen Symbolen bedeckt war. Sie glänzte im Licht und schien leicht zu vibrieren.


    Er nahm die Kugel in die freie Hand und drehte sie hin und her, während er versuchte, die Symbole zu entziffern.

    «Tamjidische Majuskeln», klärte ich ihn auf. «Aber in einer Sprache, die ich nicht kenne. Frag mich also nicht, was sie bedeuten. Kannst du damit etwas anfangen?»


    Er zuckte zusammen, als Nia kräftiger an seiner Wunde rieb. Eine Weile ertrug er stumm den Schmerz, dann hielt er die Kugel wieder ins Licht. «Keine Korrosion. Das könnte Silber sein.»


    «Das dachte ich auch, aber es ist wahrscheinlich zu leicht dafür. Man müsste es alchemistisch überprüfen.»


    «Was soll es denn sonst sein, so ganz ohne Korrosion?»


    «Keine Ahnung, vielleicht eine Legierung, oder es könnte auch nur mit Silber beschichtet sein. Es ist auf jeden Fall ein interessantes Objekt. Wenn es erst bestimmt und klassifiziert wurde, dürfte es einiges wert sein. Es braucht noch ein wenig Vorarbeit für einen lukrativen Verkauf, aber es hat Potenzial. Wie sieht es aus, hast du Interesse?»


    Wir wurden uns schnell handelseinig. Für einen fairen Preis wechselte mein Relikt seinen Besitzer. Ich sparte mir die mühsame Recherche und konnte gleich wieder hinabsteigen, um nach weiteren Objekten zu suchen. Rex, der selten lange unten bleiben wollte, konnte seinerseits an der Oberfläche einen guten Gewinn erzielen.


    Nach dem Handel ging ich kurz mal austreten und mir am Tresen ein neues Bier holen.


    Als ich wiederkam, war der Arm von Rex stümperhaft mit dem Tuch verbunden. Das hätte ich besser hinbekommen. Er und Nia hatten inzwischen eine großzügige Menge an leeren Bechern vor sich stehen.


    Nia war in einer ausgelassenen Stimmung. Sie schlürfte einen Becher Wein mit dem Trinkrohr und lachte und plauderte mit zwei weiteren Reliktjägern, von denen einer plötzlich auf meinem Platz saß. Der zweite blockierte den letzten freien Stuhl an diesem Tisch. Verärgert nahm ich an dem Tisch gegenüber platz. Abserviert von Nia Nachtigall. Von Rex herabgewürdigt zu einem Bekannten. Ich senkte den Blick. Auf die Tischplatte hatte jemand aus einem Bierfleck ein Herz gemalt.


    Nia erzählte den zwei Neuen gerade von ihren Abenteuern und Entdeckungen, von den Gefahren und Schätzen, die sie mit Rex in den Tiefen des Taudis gefunden hatte. Dabei neckte sie die beiden immer wieder mit anzüglichen Sprüchen.


    Rex hingegen brütete in einer nachdenklichen Stimmung vor sich hin. Er trank einen Becher Bier und beobachtete missmutig, wie Nia mit den zwei anderen Reliktjägern sprach und lachte.


    Auch mich brachte der Anblick zum Nachdenken. Ich fragte mich, was Nia wirklich dachte und fühlte – und was Rex wirklich wollte und brauchte.


    «Rexi, mein alter Freund», sagte ich, «auf ein Wort.» Ich wies mit dem Kopf in Richtung des Felsspalts. Er erhob sich und wir quetschten uns nach draußen.

  • Unter vier Augen


    Wir gingen ein paar Schritte über den Schotterweg am Grund der Schlucht. Ich reichte ihm eine Rauchstange und zündete sie ihm an. Auch ich selbst gönnte mir eine. Da man Gewicht sparen musste, das Rauchen hier unten ein seltener Luxus.


    «Woher kennst du Nia eigentlich?», wollte ich wissen.


    Er nahm einen langen und tiefen Zug, den er sichtlich genoss, bevor er ihn langsam aus seinen Lungen entweichen ließ. «Wir haben uns bei einer Reliktjagd kennengelernt. Es war eine ziemlich große und schwere Cavernia-Klasse. Sie hat sie nicht allein fortbekommen. So habe ich ihr geholfen und wir teilten den Gewinn halbe-halbe. Seither waren wir ein paarmal gemeinsam unterwegs. Es ist praktisch, nicht immer wochenlang allein zu sein. Und irgendwie auch schön, nach einem anstrengenden Tag nah beieinanderzuliegen.»


    Armer Rex. «Was meinst du, wie sie für dich fühlt?», fragte ich offen. «Glaubst du, dass sie dich liebt?»


    Es wippte ein wenig auf den Füßen und nahm noch einen Zug, ehe er antwortete. «Ich möchte es gern glauben. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich ihr vertrauen kann. Ich habe Angst, dass sie mich eines Tages hintergeht oder einfach verlässt, wenn sich eine bessere Gelegenheit für sie ergibt. Ich habe Angst, dass sie mich nur benutzt. Und dass sie mich nicht wirklich liebt.»


    «Und was ist mit dir?», fragte ich. «Was fühlst du für sie?»


    «Ich liebe sie, aber ich bin vorsichtig. Ich versuche, ihr nahe zu sein, weil mir das guttut, aber ich halte trotzdem eine gewisse Distanz. Es ist schwer zu beschreiben und noch schwerer zu ertragen. Wir arbeiten zusammen, aber ich überprüfe manchmal, wohin sie geht und mit wem sie sich trifft. Ich versuche, ihr zu vertrauen, aber du hast ja gesehen, wie sie mit den anderen Reliktjägern umgeht. Es ist schwer zu sagen, ob sie nur Spaß macht.»


    «Und warum hast du ihr nicht gesagt, dass sie dir mit dem Verband den Arm abschnürt?»


    Er versuchte, seine Sorgen weg zu grinsen, ich sah sein lückenhaftes Gebiss aufblitzen. Dann lachte er leise und schüttelte den Kopf. Den verletzten Arm hielt er angewinkelt und fest an den Körper gepresst, ein Zeichen großer Schmerzen. Ich griff wortlos seinen Ärmel und zog ihn lang, bis er vorsichtig den verletzten Arm aus der Jacke gefädelt hatte. Dann löste ich den Verband noch einmal, der viel zu fest gewickelt war und ihm in die Wunde schnitt.


    «Ich weiß, du warst deine ganze Kindheit lang allein», sagte ich, während ich die grauenvoll behandelte Wunde mit einem vernünftigen Druckverband versorgte. «Und du magst es nicht, allein durch den Taudis zu wandern. Aber muss es ausgerechnet diese Frau sein?»


    «Es gibt nicht viele Frauen, die wochenlang in irgendwelchen Höhlen herumkriechen würden. Nia begleitet mich fast jedes Mal und sie beschwert sich nie. Das will ich nicht einfach wegwerfen.»


    Rex hatte extreme Angst, erneut verlassen zu werden, so wie damals als Kind von seinen Eltern. Er neigte zum Klammern und darum verzieh er fast alles. Nia wusste das. Der Verband war fertig, Rex zog seine Jacke wieder richtig an. Wir rauchten noch zu Ende und warfen die Stummel zwischen das Geröll zu den zehntausend anderen Stummeln.


    «Hey, Rexi.»


    «Ja?»


    Ich umarmte ihn fest.


    Er guckte verdutzt, ertrug aber meinen Trost. Ich klopfte ihn sanft ab. Dass ich auch sein Gesäß bedachte, durfte er deuten, wie er wollte. Währenddeessen ließ ich unbemerkt das silberne Relikt aus seiner Hosentasche in meine Hand wandern. Dann gab ich Rex wieder frei und wir kehrten in den Riss zurück.

  • Zurück im Riss


    Immerhin fiel Rex nun auf, dass ich keinen Platz mehr am Tisch hatte, rückte etwas zur Seite und winkte mich dazu. Jetzt saßen wir zu fünft um das winzige Möbelstück.


    «Wieso nennt der Kerl dich eigentlich Rexi?», fragte Nia leise.


    Aber Rex lachte nur und griff nach seinem Schnaps. Nia starrte ihn noch eine Weile fordernd an, um eine Antwort zu erzwingen, doch weil er hartnäckig schwieg, widmete sie sich schließlich wieder den anderen beiden. Rex konnte stur sein, das hatte ich auch schon erlebt, doch meistens war er umgänglich. Für ihn hörte der Spaß erst dann auf, wenn er sich verraten und verlassen fühlte, doch ansonsten war er kaum außer Fassung zu bringen. Er beobachtete mit bemerkenswerter Ruhe, wie seine Freundin vor seinen Augen mit den beiden Reliktjägern scherzte. Den zwei Burschen war augenscheinlich schnurz, ob Nias Partner mit am Tisch saß, während sie mit unverhohlenem Interesse ihre Chancen ausloteten. Wie weh Nia dem armen Rex damit tat, bemerkte sie nicht. Vielleicht war es ihr auch schlichtweg egal oder sie quälte ihn mit Absicht, um ihm zu zeigen, dass sie auch einen anderen Reliktjäger haben konnte oder gleich ein Doppelpack. Auch wenn sie eine Frau war, durfte man nicht vergessen, dass sie vor allem eines war: eine Reliktjägerin.


    Nia bemerkte irgendwann, dass Rex sie unentwegt beobachtete, und legte ihre Hand auf seine. «Was ist denn los? Du siehst so nachdenklich aus. Ist etwas nicht in Ordnung?»


    «Ich bin nur ein bisschen müde. Es war ein langer Tag.» Seine starken Schmerzen verschwieg er. Seine Sorgen ebenfalls.


    «Wir haben viel geschafft», pflichtete Nia ihm bei. «Wir können stolz auf uns sein.»


    «Ja, wir ergänzen uns gut.»


    «Das finde ich auch, Rex. Wir sind ein gutes Team. Und so viel mehr als das.» Ihre Finger schlossen sich fester um seine Hand.


    «Ja, das sind wir», wiederholte er so sanft, dass ich unwillkürlich das Gesicht verzog.


    «Du liebst mich, nicht wahr, Rex?», säuselte Nia.


    «Natürlich liebe ich dich. Wie könnte ich dich nicht lieben? Du bist die schönste, die klügste, die mutigste Frau, die ich je getroffen habe. Du bist mein Leben, Nia. Mein Licht in der Dunkelheit und ich werde dich nie verlassen.»


    Mir faulten fast die Ohren weg bei dem Gesülze. Ich schlürfte noch einen Schluck pilzig schmeckendes Taudisbräu.


    «Das ist schön, Rex», sagte Nia erleichtert. «Ich liebe dich mehr, als du dir vorstellen kannst. Du bist mein Fels in der Brandung. Ich wünschte, du würdest deine Zweifel vergessen, mir einfach vertrauen und dich in meine Arme fallen lassen.»


    «Ich zweifle nicht, Nia. Ich glaube es dir doch. Ich glaube es dir wirklich.»


    So schnell konnte sich der Sinn eines Mannes wandeln. Rex legte den gesunden Arm um Nia und kuschelte seufzend den Helm in ihren Federkragen hinein. Die anderen beiden Reliktjäger musterten ihn ungerührt. Vielleicht überlegten sie, wie sie ihn loswerden konnten, aber da er seiner Freundin keine Grenzen aufzeigte und ihnen auch nicht in die Quere kam, würde das wahrscheinlich gar nicht notwendig sein.


    «Dann sei glücklich, Rex», sagte Nia. «Lass uns die Nacht genießen und die Welt vergessen. Lass uns heute nur an uns denken. Komm, Rex. Unser Schlafnest wartet.»


    Nia stand auf und zog Rex mit sich. Hand in Hand gingen sie aus der Taverne. Im Gehen schmusten sie. Augenscheinlich waren sie glücklich. Oder vielleicht auch nicht.


    Die zwei anderen Reliktjäger sahen ihnen nach und starrten dann missmutig auf ihre Getränke. Das war wohl nichts gewesen – zumindest nicht heute.


    «Für mich wird es auch Zeit.» Ich erhob mich, klopfte zum Abschied auf den Tisch und ließ die beiden allein zurück. Ich bezahlte und dann stieg auch ich durch den Spalt zurück nach draußen in die Dunkelheit. Im Restlicht, das nach draußen fiel, entzündete ich meine Sturmlaterne, hängte sie an den Rucksack und machte mich auf den Weg.


    Wenn man der Eisentreppe ein Stück hinauf folgte, kam irgendwann ein breites Band in der Felswand, ein Vorsprung, auf dem man bequem gehen konnte. Er führte zu mehreren Felsnischen, in denen die Reliktjäger schliefen, nachdem sie in der Taverne zu Gast gewesen waren. Auch ich hatte dort mein Nest eingerichtet, so dass ich hören konnte beziehungsweise musste, was Rex und Nia nun trieben. Sie gaben sich hemmungslos ihrer Leidenschaft hin und vergaßen für eine Weile alles andere. Fast wäre mich das schlechte Gewissen überkommen, als ich an das gestohlene Relikt dachte. Aber nur fast. Irgendwann kehrte Ruhe ein und auch mir fielen die Augen zu.

  • Trennungshelfer


    Ein wüstes Fluchen riss mich aus dem Schlaf. Rex durchwühlte seine Taschen und verteilte alles auf dem Boden, als er nach dem kleinen Silberrelikt suchte. Als er es nicht fand, zog er sich auch Nias Gepäck heran, um jedes Fach und jede Seitentasche zu kontrollieren. «Nia, du hast mir etwas zu erklären. Wo ist das Relikt, das ich in meiner Hosentasche hatte?»


    Kurzerhand schüttete er ihren Rucksack aus.


    Nia sah ihm verständnislos zu. «Wovon redest du, Rex? Ich weiß nichts von einem Relikt. Und ich habe auch nichts aus deiner Hosentasche genommen.»


    «Lüg mich nicht an», brüllte er. «Relikte lösen sich nicht einfach in Luft auf.»


    «Ist es möglich, dass du es schlichtweg verloren hast?», fragte sie.


    «Hältst du mich für blöd?», schnauzte er. «Meine Hosentaschen sind verschließbar. Ich transportiere ständig Kleinkram darin und nie ist etwas herausgefallen. Du hast mir das Relikt gestohlen!»


    Nia hob abwehrend die Hände. «Du leidest unter Verfolgungswahn, wie immer, wenn du nach einem Tavernenbesuch wieder nüchtern wirst. Ich habe dir nichts gestohlen. Ich liebe dich mehr, als du dir vorstellen kannst.»


    In dem Moment fand Rex das Relikt mitten in ihrem Werkzeug liegen. Na so was aber auch. Triumphierend hielt er die kleine Silberkugel in die Luft. «Das glaube ich dir nicht, Nia», sagte er mit erstickter Stimme. «Du hast mich nie geliebt. Du hast mich nur benutzt, weil du eine schlechte Reliktjägerin bist!»


    «Jetzt hört es aber auf», schrie Nia. Doch nun schien ihr die gefährlich angespannte Körperhaltung von Rex aufzufallen, denn sie wich ein Stück zurück. Einen Reliktjäger, der einen derart anstarrte, sollte man nicht weiter reizen. Leise fügte sie hinzu: «Das ist alles nicht wahr. Ich liebe dich. Ich liebe dich wirklich, Rex. Bitte glaube mir.»


    «Nein, Nia», grollte er und verpasste ihrem Rucksack einen Tritt. «Das glaube ich dir nicht länger. Du hast mich für schnelles Geld verraten, hast mein Vertrauen ausgenutzt. Dafür wirst du bezahlen.»


    Rex griff nach Nias Eisenarmbrust, die schussbereit neben ihrem Schlafplatz lag, zielte auf sie und drückte ab. Es knallte und der Bolzen zischte knapp über Nias Schulter, um gegen den Fels zu prallen. Steinchen spritzten und prallten klimpernd von den Eisenteilen der Rüstungen ab. Nia ließ alles stehen und liegen. Sie rannte, was ihre Beine hergaben, das steinerne Band entlang und dann eilte sie polternd die Eisentreppe hinauf. Rex folgte ihr ein Stück und verschwendete zwei weitere Bolzen, ehe er wutschnaubend zu seinem Lager rückkehrte.


    «Na, wenigstens ist das Relikt wieder aufgetaucht», sagte ich unschuldig.


    «Halt dein Maul», brüllte Rex mich an, «halt einfach dein Maul!» Dann sackte er in sich zusammen und vergrub heulend die Maske in seinem gesunden Arm.


    Die beiden Reliktjäger, die mit uns am Tisch gesessen hatten, lagerten auf meiner anderen Seite. Unweigerlich hatten sie den Streit mitbekommen. Sie packten guter Dinge ihre Sachen. Sie stiegen ebenfalls die Eisentreppe hinauf, ohne ihre gute Laune auch nur im Mindesten zu verschleiern. Es fehlte nur, dass sie ein Liedchen pfiffen. Die beiden erinnerten mich an zwei Aasfresser. Rex ließ sie ziehen, so wie er auch Nia hatte ziehen lassen. Er würdigte sie keines Blickes und sagte nichts. Noch immer wurde er von einem heftigen Gefühlsausbruch durchgeschüttelt. Ich ließ ihn in Ruhe und rauchte. Als er wieder vernünftig atmen konnte, reichte ich ihm auch eine Rauchstange.


    «Danke, Sodo», sagte er erstickt. «Du bist ein wahrer Freund.»


    «Keine Ursache, Rexi. Dafür sind Freunde da.» Er würde nie verstehen, wie ich diesen Satz meinte.


    Gemeinsam rauchten wir und starrten in den Abgrund vor unseren Füßen.


    Ende