Die beiden folgenden Kapitel spielen zwischen "Das Gasthaus" und "Flammen und Klingen".
Betteltage
Lichtstrahlen spiegelten sich in den Schaufenstern der Stadt. Die Scheiben trennten mich von all den Reichtümern und Köstlichkeiten. Mir blieb nur das, was das Leben auf den Straßen zu bieten hatte, aber ich war nicht der Einzige, der Hunger litt.
Die Landstreicher suchten jetzt, da der Winter vor der Tür stand und es nichts mehr in der Natur zu holen gab, die Sicherheit der Stadt. Sie lungerten in Hauseingängen und Hinterhöfen, immer nur so lange, bis man sie vertrieb. Es gab nur wenige Plätze, an denen ich mich längere Zeit am Stück ausruhen konnte.
«Bitte, meine Dame, ein kleines Kupferstück für einen hungernden Wanderer», murmelte ich, meine Stimme von der Kälte und Erschöpfung brüchig. Meine ausgestreckte Hand zitterte leicht.
Die meisten Passanten taten, als wäre ich unsichtbar. Einige wandten ihren Blick ab, als ob meine Not sie nicht berührte. Andere eilten vorbei, als hätten sie ihre eigenen Ängste vor der Dunkelheit in ihren Taschen versteckt.
Nur wenige wagten es, mich mit zusammengekniffenen Lippen anzusehen. Meine Hilferufe prallten gegen die Mauern ihrer Gleichgültigkeit.
So lief es Tag um Tag. Die Straßen und Gassen, die anfangs einem Labyrinth glichen, offenbarten mir während der endlosen Streifzüge nach und nach ihre Geheimnisse und ihre Gesetze. Diese waren nicht mit den Gesetzen Naridiens identisch, sondern kamen dem nahe, was ich aus der Wildnis kannte, und das man in Shakorz ‹das Gesetz der Jäger› nannte.
«Bitte, ein Stück Brot würde genügen, eine Kleinigkeit, um den Hunger zu stillen.»
Manche hörten kurz auf, zögerten einen Moment, doch ihre Blicke verrieten Misstrauen und Ekel, und dann setzten sie ihren Weg fort. Andere sahen mich drohend an, während sie schnellen Schrittes vorbeigingen.
Das erste Gesetz des Jägers besagte: Es gibt Jäger und es gibt Beute.
Der Himmel verdunkelte sich, und ein Nachtwächter ging herum, um die Straßenlaternen zu entzünden. Eine Nacht war wie die andere, kalt und trostlos. Mit jedem verstrichenen Tag schwand meine Hoffnung auf Mitgefühl. Ich bettelte immer seltener und irgendwann nicht mehr. Ich wurde zu einem Schatten, der vom Strom der Passanten übersehen wurde, während er jeden Tag ein Stück mehr verblasste.
Als ich spürte, dass mir wortwörtlich das Leben aus dem Körper wich, das ich tatsächlich begann, zu sterben, besann ich mich endlich, dass ich ein Jäger war. Meine Nase war so fein wie die eines Wolfs und meine Augen so scharf wie die einer Raubkatze. Ich besaß ein Gebiss, mit dem ich menschliche Finger hätte kauen können wie knackiges Wurzelgemüse. Ich hatte den Nachtmantel bezwungen, den König des Waldes. Was kümmerte mich ein Gesetz, dass mich verhungern ließ? Ich würde nicht länger darauf warten, dass sich jemand erbarmte, sondern von dem Recht Gebrauch machen, dass das Blut in meinen Adern mir gab: das Recht des Jägers.
Und fortan wendete sich das Blatt.