Der bedauernswerte Waldalb redete sich alles von der Seele. Crize versuchte, nach bestem Wissen und Gewissen seinen Ausführungen zu folgen, doch der Mann war noch ziemlich durch den Wind von allem, was er hatte erleben müssen und redete manchmal zusammenhangslos. Er konnte vor Entkräftung nicht einmal alleine aufrecht sitzen und so ließ Crize zu, dass er sich an ihn anlehnte. Es war nur für den Waldalben vermutlich ziemlich unbequem wegen Crizes knochiger Statur.
Crize verstand so viel, dass Morasa in einen Mann verliebt war, dessen Gilde ihn allerdings nicht akzeptieren wollte. Morasa war wie Dreck behandelt und für die nichtigsten Kleinigkeiten mit dem Tode bedroht worden. Man hatte ihm ein nasses, schimmliges Kellerloch als Schlafgemach zugewiesen, während alle anderen in warmen, trockenen Stuben Hausen durften, gemeinsam selbstredend, während Mo allein in seinem Keller saß und vor Einsamkeit fast verging. Dann hatte man, als er wagte, Kritik an diesen Zuständen zu äußern, ihn kollektiv fertig gemacht und als Krönung auch noch verlangt, dass er sich für seine Kritik bei ihnen entschuldigte. Das war die Höhe! Dave schien der Einzige gewesen zu sein, der ihn zumindest anständig behandelt hatte - bis er Morasa dafür geschlagen hatte, dass dieser ihn liebte. Man sah noch immer deutlich die Platzwunde an den Lippen. Damit hatte auch er sich als falsch erwiesen und Morasa war gänzlich allein. Was waren das nur für Leute! Mo hatte sich nach Kräften bemüht, es allen Recht zu machen und war doch immer nur gemobbt und abgewiesen worden. Das musste furchtbar sein. Zu guter Letzt hatten sie sogar versucht, ihn umzubringen - weil ihnen sein Reittier missfiel.
"Vermutlich hättest du demütig auf allen Vieren nach Hause kommen und um Einlass betteln sollen, damit sie dich empfangen, ohne dich gleich wieder fertig zu machen." Crize schüttelte bedauernd den Kopf, er konnte nicht fassen, wie viel Grausamkeit und Bosheit in diesen Leuten stecken musste. "Wären sie deine Freunde, hätten sie dich anders behandelt. Man sperrt seine Freunde nicht in ein Kellerloch, man schlägt sie nicht und man behandelt sie nicht wie Dreck. Und vor allem schießt man sie nicht nieder." Crize musste sich die Tränen aus den Augen wischen. Er hatte noch nie eine derart einsame und verlorene Gestalt getroffen, wie Morasa. Was hatte der arme Mann nur getan, dass das Leben ihn derart strafte? Zum Glück war er nun fort von dieser entsetzlichen Gilde.
Mauli, der inzwischen schon wieder was gegessen hatte, hatte Morasa eigentlich nicht mit seinen persönlichen Wehwehchen behelligen wollen, sein Freund hatte bereits genügend mit sich selbst zu tun, also sagte er es nur ganz kurz, weil Mo danach fragte: "Urako wollte mich wahrscheinlich dazu nutzen, um dich für irgendwas zu erpressen. Es ging ihm gar nicht um mich, es ging um dich. Er hat mich in einer einsamen Scheune in ein Joch gesperrt und mich zu Klump geschlagen. Ich hatte gar kein Gesicht mehr, alles war flachgebeult und meine Augäpfel waren kaputt. Aber das macht nichts, weil ich keine Schmerzen spüre und mit genügend Essen alles wieder spurlos verheilt. Schau!" Er lächelte und zwinkerte. Seine Augäpfel und sein Gesicht waren wieder vollständig hergestellt, allerdings war er noch immer im Stadium der Verwesung.
"Natürlich können wir dich nach Kalthorst bringen, nach Hause", erklärte Crize. "Und das machen wir auch, wenn das dein Wunsch ist. Zu Hause genest man immer am besten. Wenn diese Typen, diese angelblichen Freunde, dich wirklich jagen sollten, dann komm nach Zentralrakshanistan. Wir sind in Cara'Cor stationiert. Frag dich bis zu den Zebras durch, das ist meine Einheit und dann frag nach Crize. Das bin ich! Bei uns ist jeder Willkommen. Rakshor war selbst einst Vogelfreier, Außgestoßener, Heimatloser und er hat befohlen, dass unter seiner Herrschaft jeder ein zu Hause finden soll, egal, woher er stammt, wie er aussieht, welcher Religion er angehört oder für wen er vorher kämpfte. Mit dem Eintritt in das Heer des Chaos ist alles vergeben und vergessen. Es ist in Rakshanistan etwas gewöhnungsbedürftig, wenn man es nicht gewohnt ist, aber es gibt dort immer Kaffee und dort bist du niemals allein und vor allem sicher. Es sei denn, diese grässliche Gilde kann es mit einer ganzen Streitmacht aufnehmen!" Crize klopfte sich wenig imposant mit der Faust auf die schmale Brust.
Dann stand er auf.
"Also, wenn diese Typen Mo jagen, müssen wir schnellstmöglich Entfernung zwischen sie und ihn bringen. Aksoy, Mauli, helft mir bitte, Morasa zur nächsten Fuhrwerksstation zu bringen."
Sie brachten den Verletzten notgedrungen noch einmal nach Shohiro. Crize klopfte das Herz bis zum Halse, zum einen wegen der Angst, zum anderen, wegen der enormen Anstrengung. Unterwegs kaufte er von einer Kräuterfrau noch einige Tinkturen für Morasa und eine sehr große, leere Phiole. Sie betteten ihn mit zahllosen Decken gut gepolstert auf ein Fuhrwerk, dass von Hunden gezogen wurde. Hunde kamen deutlich schneller voran als Pferde, sie schafften locker die dreifache Wegstrecke am Tag.
"Sie haben dein Blut, sagst du?" Crize grinste unter seinem Gesichtsschleier. "Dann werden sie auch nach dem Blut in deinem Körper spüren mit ihren Geistmagiern. Pass auf." Crize machte einen großzügigen Aderlass bei dem unglücklichen Mo. Er zapfte so viel Blut ab, dass der Waldalb blass wie eine Kalkwand wurde. Er ließ gerade genug in ihm, dass Morasa nicht bewusstlos wurde, aber er würde sehr schwach sein. Danach versorgte er die Wunde und die der Schulter mit den Kräutertinkturen, nach Anweisung der Kräuterfrau und legte ihm das Fläschlein in die Hand. Auch seinen Wasserschlauch und sogar die Messingkanne, das Kaffeepulver und Feuersteine und Zunder gaben sie ihm, sowie ein einfaches Messer. Nur zu Essen hatten sie leider nichts und das wenige Geld reichte nicht mehr dafür, um welches zu kaufen, da das Fuhrwerk sehr teuer war. Das abgelassene Blut füllte Crize in die große Phiole.
"Aksoy, trag das bitte. Da müsste jetzt mehr Blut drin sein, als in Mo. Das nehmen wir mit. Wenn ich mit meiner Vermutung richtig liege, dann wird der Geistmagier, der nach ihm spüren soll, bald sehr verwirrt sein. Er wird uns folgen, statt ihm, da ein Teil der Seelenenergie im Blut lebt. Sagt man zumindest und ich hoffe, das stimmt. Ich bin kein Theoriefutzi, ich kann nur anwenden. Mo, bitte mach täglich einen Aderlass bei dir. So viel, wie es geht und zwar so lange, bis das Blut in unserer Flasche hier zu verwesen beginnt, also ein paar Tage. Dann verliert Blut außerhalb des Körpers seine Seelenenergie und die Ablenkung ist dahin. Vielleicht verschafft es dir bis dahin Zeit. Du darfst auf keinen Fall lange am selben Ort bleiben. Das macht es ihnen schwer, dich zu fassen. Wir werden dich nicht begleiten, damit das Fuhrwerk schneller ist und damit wir dein Blut in eine andere Richtung tragen können."
"Und ich?"
"Bist du so schnell wie die Hunde?"
"Nein."
"Dann kannst du nicht mit. Morasa muss schnell sein, also darf niemand sonst auf den Wagen! Du kannst ihm höchstens versuchen, hinterherzulaufen und ihn vielleicht irgendwann in der Zukunft einzuholen."
"Das werde ich tun. Er ist doch mein Freund."
Sie verabschiedeten sich von dem Verletzten, drückten und tätschelten ihn und Crize musste schon wieder weinen. Dann stellte sich der Hundeführer hinten auf die Stellbretter des flachen Wagens und das Gespann raste los. Sie überholten mehrere Pferdekutschen und Ochsenkarren und verschwanden aus der Sicht. Mauli rannte sehr viel langsamer auf allen Vieren hinterher, quer im Mund einen Arm für unterwegs.
Was sie alle nicht wussten - Crize hatte in seiner Aufregung auf der Suche nach dem schnellsten Fuhrwerk versäumt zu fragen, ob dieses denn tatsächlich so wie die anderen nach Kalthorst unterwegs war und nur auf die Zugtiere geachtet. Denn es bewegte sich stattdessen in Richtung Süden und sein Ziel war Alessa.