Asche im Wind

  • Asche im Wind

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    Setz dich. Du wolltest eine Geschichte, hier hast du sie. Jetzt hör zu und halt den Mund, sie ist nicht lang. Ich werde dir heute von einem Abenteuer der anderen Art berichten. Dessen, was ich erlebte, kann sich wohl kaum jemand brüsten. Das Besondere an diesem Auftrag war, dass ich ihn vom Fürsten von Drakenstein persönlich erhielt. Meine Fähigkeiten hatten sich offenbar herumgesprochen.


    Es ging um die merkwürdigen Wettererscheinungen, die seit einiger Zeit für Unruhe sorgten. Niemand wusste, warum es Asche regnete. Die Bauern fürchteten um ihre Ernten und die Jäger berichteten, dass das Wild nach Norden floh. Die fanatischen Bluthexer, die seit jeher den Weltuntergang prophezeiten, rieben sich die Hände. Der Fürst brauchte Antworten. Und wer wäre für eine schwierige Expedition besser geeignet als ein Reliktjäger? Forschungsaufträge unter schwierigsten Bedingungen zu erfüllen war mein Beruf.


    Doch auf der Suche nach der Ursache fand ich Dinge, welche selbst meine kühnsten Träume überstiegen ...


  • Der Auftrag

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    Am 27. Tag des Wandelmondes im Jahr 208 nach der Asche nahm ich die Einladung zur Audienz im Thronsaal wahr. Kurz vor Sonnenaufgang meldete ich mich bei den Wachen. Meine Schwerter und den Stiefeldolch musste ich ablegen, bevor ich die Residenz betreten durfte, doch man beließ es ansonsten bei einem kurzen Abtasten und schaute nicht unter mein Visier. Ein blasser Diener führte mich zum Thronsaal. Die Zitadelle von Drakenstein war außen wie innen ein Ensemble aus steil aufragenden, strengen Formen. Meine Panzerstiefel hallten auf den polierten hellgrauen Steinplatten, als ich auf den erhöhten Thron zuging. Der Eindruck zweier mächtiger Säulenreihen rechts und links des Ganges stauchte jeden Besucher zu winziger Bedeutungslosigkeit zusammen. Die kühle Morgensonne fiel durch die hohen Fenster und brach sich an der Lehne des Throns. Irving von Kaltenburg blieb in eine schattenhafte Gestalt in einem Schleier aus Licht. Ein gepolsterter Hocker vor der weißen Treppe, die hinauf auf das Podest führte, markierte, wie weit man sich ihm nähern durfte. Schwer bewaffnete Wächter achteten grimmig auf die Einhaltung der Distanz.


    «Sei gegrüßt, Reliktjäger, der unter dem Namen Sodo Mio bekannt ist.» Das Alter des Fürsten war schwer zu schätzen. Dem Gesicht nach schätzte ich ihn zwischen dreißig und vierzig, doch sein schwarzer Schopf, dessen Fransen über seine Augen hingen, wurde von keinem einzigen grauen Haar verunziert. Er trug Silber und Schwarz, die Farben seines Hauses.


    «Danke für den Empfang, Hoheit. Ihr habt einen Auftrag für mich?» Ich wollte schnell zur Sache kommen, da ich mich unwohl dabei fühlte, im Thronsaal vor einem Fürsten zu stehen, der mich mit einem Fingerschnippen abführen und enthaupten lassen könnte. Gründe dafür gab es genug.


    «Fürwahr, Sodo Mio. Es geht um die Ascheflocken, die der Wind seit einiger Zeit in die Stadt trägt. Wir haben das Gefühl, ihre Dichte nimmt zu. Das bereitet uns Sorge. Deine Aufgabe ist es, zu ergründen, woher diese schwarzen Mitbringsel stammen.»


    «Mit Verlaub, Hoheit», sagte ich, «aber Ihr verschwendet Euer Geld mit diesem Auftrag. Asche entstammt üblicherweise einem Feuer. Wenn sie wie schwarzer Schnee vom Himmel fällt, handelt es sich um einen Waldbrand, der in der Nähe wütet. Dafür bedarf es weder der Forschung noch hellseherischer Fähigkeiten.»


    Fürst Irving von Kaltenburg ließ sich zu einem Lächeln herab, das so kalt und hart wie sein Name war. «Ich höre, du bist ein gebildeter Mann.» Schwang da Spott in seiner Stimme mit? «Nur leider», fuhr er fort, «trägt der Wind in diesem Fall die Asche aus dem Süden heran. Sag mir, Sodo Mio: Welche Region liegt noch gleich südlich von Drakenstein?»


    Meine Antwort klang etwas kleinlaut. «Die Wüste Tamjara, Hoheit.»


    «Und was findet man in einer Wüste üblicherweise nicht?»


    «Wälder», antwortete ich zähneknirschend.


    «Du siehst, deine Schlussfolgerung birgt Mängel», fuhr er fort. «Von einigen Dattelpalmen, Feigenbäumen und Akazien abgesehen, die sich entlang der Wasseradern drängen, wächst in Windrichtung nichts, was einer derart infernalischen Feuersbrunst Nahrung bieten würde. Und doch ist die Asche hier. Sie ist überall und das Volk ist in Sorge. Bauern fürchten um ihre Ernten und die lästigen Bluthexer, die seit jeher den Weltuntergang prophezeien, reiben sich die narbigen Hände. Du wirst erforschen, wo die Ursachen für die Wetterveränderungen liegen und ob Maßnahmen ergriffen werden müssen.» Er sah mich fest an. «Deine Rolle für den Schutz der Bevölkerung ist keine Kleine.»


    Er erhob sich, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und wanderte einen Schritt auf mich zu. Vor der obersten Stufe blieb er stehen und blickte auf mich herab. Ich musste den Kopf in den Nacken legen, um zu ihm aufsehen zu können.


    «Man sagt, die Hälfte aller Reliktjäger wären Verbrecher auf der Flucht vor dem Gesetz. Die andere Hälfte seien Fahnenflüchtige, die eigentlich ihrer Hinrichtung harren müssten. Kurzum: Man berichtete mir, das Gros aller Reliktjäger sei eine Horde Vogelfreier, auf die andernorts der Galgen warten würde. Dies sei der Grund, weshalb sie falsche Namen und eine Maske trügen.»


    Mein Herzschlag beschleunigte sich. Es bestand das Risiko, dass die Spitzel des Fürsten herausgefunden hatten, wer sich hinter der Eisenmaske des Sodo Mio verbarg. Nun war Fingerspitzengefühl gefragt. «Auf einige Reliktjäger mag das zutreffen, Hoheit.» Ich blickte ihm durch die Sehschlitze meines Visiers fest auf das Kinn, nicht in die Augen. Vor der Audienz hatte man mir die Regeln eingetrichtert, die im Thronsaal herrschten. Man sah einem Adligen niemals in die Augen, sofern man nicht seinerseits von Stand war. «Aber Ihr selbst habt vom Gros gesprochen, nicht von allen Reliktjägern. Ausnahmen gibt es überall. Auch wenn einige unserer Zunft in ihrer Vergangenheit kriminell gewesen sein mögen, haben sie doch mit der Reliktjagd eine Nische gefunden, in der sie einen wertvollen Beitrag für die Zivilisation erbringen. Unter Einsatz ihres Lebens leisten sie Wiedergutmachung im Dienst an der Allgemeinheit.»


    Das war arg beschönigt, denn ich kannte keinen Reliktjäger, der nicht ein berechnender Egoist wäre. Sie waren geldgierig und behandelten ihre Rivalen wie Feinde auf einem Schlachtfeld. Praktisch alle steckten bis über beide Ohren in den kriminellen Geschäften der Unterwelt. Doch ohne Reliktjäger gäbe es keine Luftschiffe. Diese und andere Technologien hatten sie unter Lebensgefahr aus den Ruinen des Taudis geborgen, in langen einsamen Stunden ihre Funktionsweise entschlüsselt und sie schlussendlich repariert. Reliktjäger in der Stadt zu haben, war ein zweischneidiges Schwert.


    «Das Volk mag das etwas anders beurteilen als du», sagte der Fürst. «Euer Beruf gilt als so ehrlos wie der des Henkers oder des Schinders. Ahnst du, wie viele Briefe ich erhalte mit Forderungen, euch aus der Stadt zu werfen oder allesamt zu inhaftieren, um euch unter Folter die wahren Identitäten zu entlocken, damit ihr endlich rechtskräftig verurteilt werdet? Man wirft mir vor, in diesen bedrohlichen Zeiten nicht hart genug vorzugehen. Einige nehmen gar an, ich würde bewusst wegsehen, um der alten Technologien willen.»


    Ich behielt meine aufrechte Haltung bei und sagte nichts. Natürlich wusste ich, dass wir in Drakenstein lediglich geduldet waren. Ein Reliktjäger in der Öffentlichkeit bewegte sich mit jedem Schritt, den er ging, auf sehr dünnem Eis. Die meisten blieben deswegen lieber für sich oder suchten die Gesellschaft anderer Außenseiter.


    Der Fürst setzte sich wieder auf seinen Thron, in entspannterer Haltung als zuvor. Es schien, als hätte er gesagt, was er hatte sagen wollen. Meine Knie fühlten sich ziemlich weich an. «Auf den Mund gefallen bist du jedenfalls nicht, Sodo Mio», sagte er. «Und wohl auch nicht auf den Kopf. Zum Zeichen meines guten Willens habe ich vor dem Erteilen des Auftrags auf das Prüfen deiner Identität verzichtet. Ich gehe davon aus, dass du die benannte Ausnahme bist, ein gesetzestreuer Bürger mit einem Interesse an Forschungsaufträgen. Für diesen Auftrag bedarf es keines Schriftgelehrten, sondern eines Mannes mit praktischer Erfahrung. Ich wünsche, dass du morgen aufbrichst, denn die Zeit drängt.»


    Ich verneigte mich ein wenig. Zu schleimen bereitete mir keine Bauchschmerzen, wenn es mir nützte.«Ja, Hoheit. Aber wie sieht es mit der Bezahlung aus?»


    «Dir bietet sich die Gelegenheit, meinem besorgten Volk zu beweisen, dass ihr Reliktjäger mehr seid als Grabräuber, Hehler, Plünderer und Halsabschneider. Wenn du von deiner Reise erfolgreich heimkehrst, wird es eine öffentliche Verlautbarung geben, welchen Dienst einer der euren dem Fürsten und dem Volk von Drakenstein erwiesen hat.»


    Er ließ eine Pause. Oder war er etwa fertig? Ich fühlte mich genötigt, etwas zu sagen. «Sehr nobel. Aber öffentliche Verlautbarungen schmecken nicht so gut und füllen den Magen eher unzureichend.»


    «Ah, ich sehe, du traust mir nicht zu, dich für deine Leistung für das Wohl der Allgemeinheit angemessen zu entlohnen. Vielleicht ist das Schicksal von Drakenstein dir sogar gleichgültig und ohne die Aussicht auf Geld würdest du keinen Finger rühren. Vernimm meinen Rat: Mit einem Fürsten feilscht man nicht.»


    «Mag sein. Doch ein hungriger Reliktjäger ist ein unzuverlässiger Reliktjäger.» Die Bewohner von Drakenstein waren mir in der Tat gleichgültig, schließlich wäre es diesem Pack recht, ich würde in Qualen zappelnd an einem Galgen verenden. Ohne finanzielle Entlohnung würde er sich einen anderen Reliktjäger für diese Expedition suchen müssen, so einfach war das.


    Der Fürst stützte seinen Kopf in eine Hand. Er betrachtete mich lange mit nicht zu deutendem Blick. «Du musst mich für einen wahren Unmensch halten, der es nötig hat, kleine Leute übers Ohr zu hauen», sagte er schließlich. «Also gut, höre zu. Ich habe geplant, dein Körpergewicht in Geld aufzuwiegen, so du erfolgreich zurückkehrst und mir deine Informationen in verwertbarer Form vorträgst. Du wirst ein wohlhabender Mann sein und vielleicht bleiben, sofern du es geschickt anlegst und nicht in den Tavernen und Freudenhäusern verprasst, wie man es euch nachsagt.»


    «Auf dieser Basis lässt sich arbeiten. Ich weiß mit Geld durchaus umzugehen. Aber was geschieht, falls ich keinen Erfolg haben sollte? Bin ich dann einen Kopf kürzer?»


    «Wohl kaum», sprach der Fürst mit einem beunruhigenden Lächeln. «Denn du wirst nicht so dumm sein, in dem Fall jemals wieder einen Fuß durch die Tore von Drakenstein zu setzen.»


    Uff. Das war deutlich. Augenscheinlich nahm er mir meine Widerworte krumm. Ich schluckte und nickte. «Ich denke, ich habe verstanden, Hoheit. Ihr seid sehr großzügig und ich bin froh, dass Ihr mir die Gelegenheit bietet, einen Dienst am Volk leisten zu dürfen. Ich werde meine Ausrüstung vorbereiten und morgen aufbrechen. Für Euer Wohl und das von Drakenstein!»


    Sein Lächeln wurde breiter. Mein offenkundiges Geheuchel schien ihn zu amüsieren. «Dann darfst du dich nun entfernen. Ich wünsche dir viel Erfolg, Sodo Mio.»

  • Die Überfahrt

    Drakenstein glühte im Licht der Morgensonne rosa. Wehmütig blickte ich zu der uralten Burg hinauf, die auf dem schlafenden Vulkan thronte. Wolken verdeckten die Spitzen der Türme. Auf dem Wehrgang zogen Wächter ihre Runden, ihre Panzer spiegelten die aufgehende Sonne. Auf Wiedersehen, Drakenstein. Kaum war ich angekommen, da rief mich der nächste Auftrag fort. Es schien, als sollte ich nie zur Ruhe kommen dürfen. Ich wandte mich ab und stieg den Weg hinab zum Hafen.


    Neben etwa zwanzig Fischerbooten und zwei kleinen Handelsschiffen lag eine bedrohliche Form im Fluss. Ich musste schlucken, als ich den Namen auf dem Rumpf las: Barrakuda. Dieses Kriegsschiff kannte ich. Das war die Mannschaft, die meine Söldnertruppe aufgemischt hatte. Zum Glück hatte ich damals einen Helm mit Visier getragen und bei dieser Expedition reiste ich in zivil. So blieb die Hoffnung, sie würden mich nicht erkennen. Meine Verhandlungen mit den Handelsschiffen endeten fruchtlos. Das eine Schiff reiste in die falsche Richtung, das andere weigerte sich, einen Passagier an Bord zu nehmen, ganz gleich, was ich zahlen wollte oder an Arbeitskraft anbot. Meine grüne Hautfarbe erwies sich als Nachteil.


    Ich atmete also durch und ging auf einen der Soldaten zu, der sich beim Landgang die Beine vertrat. «Grüße. Serak mein Name, Einwohner von Drakenstein.» Er sollte annehmen, dass ich als Halbblut kein wilder Ork war, sondern einem kultivierten Almanen glich. «Wer ist euer Kapitän?»


    «Steht da drüben. Aber unterbrich ihn lieber nicht in seinem Gespräch. Mit ihm ist nicht gut Kirschen essen. Warte, bis er fertig ist, bevor du ihn anquatschst.»


    Dass der Bursche kein angenehmer Zeitgenosse sein konnte, wusste niemand besser als ich. Er hatte die Soldaten geführt, die Garlyn Meqdarhans Söldnerunternehmen zu Kleinholz verarbeitet und die meisten meiner alten Kameraden getötet hatten. Mit einem mulmigen Gefühl betrachtete ich den Kapitän. Er war ein braungebrannter Mann mit kurzgeschorenem silbernen Haar und Dreitagebart. Die Augen funkelten in heimtückischem Schwarz. Trotz seines fortgeschrittenen Alters wirkte er rüstig.


    «Wie heißt der Kapitän?», fragte ich den Soldaten.


    «Alejandro Alballo, dem Stand nach Cavaliere.»


    «Hört sich wichtig an. Ledwicker Adel? Muss ich irgendwas beachten?»


    Der Soldat grinste und offenbarte eine entzündete Zahnlücke. «Nichts, was du nicht schon vom Fürsten von Drakenstein kennst, auch wenn ein Cavaliere einem Ritter entspricht.»


    Die Verhandlungen mit Alejandro Alballo erwiesen sich als furchtbar zäh. Zwar führte die Route des Barrakudas die Oltremarini zurück auf den Ozean, doch mir war wichtig, dass sie notfalls dem Wind noch weiter entgegenfuhren. Der Blick des Mannes war wie Packeis, als ich ihm die Route seines Schiffes vorzugeben versuchte.


    «Natürlich zahle ich angemessen für die Überfahrt. Und die Forschung kommt allen zugute», erklärte ich. «Nicht nur Drakenstein, auch Ledwick ist sicher daran interessiert, woher die Asche stammt.»


    «Möglicherweise», sagte er. «Aber ich will trotzdem keinen nutzlosen Fresser an Bord wissen, der meinen Männern beim Schuften zusieht. Das ist ein Kriegsschiff und kein Ausflugskahn. Du wirst arbeiten wie jeder andere. Mein Koch kann Hilfe in der Kombüse gebrauchen. Wie sieht es aus? Sind wir im Geschäft?» Der Kapitän hielt mir die Hand hin.


    Ich fasste zu. «Wir sind im Geschäft. Aber ich war noch niemals Küchenhilfe. Ein wenig Anleitung kann nicht schaden.»


    «Unser Koch wird sich deiner annehmen, keine Sorge.»


    Langsam stieg ich über die hinabgelassene Eisenrampe an Bord. Unter meinen Panzerstiefeln schwappten die Wellen laut platschend gegen den Rumpf des Kriegsschiffes. Die Schebecken der Oltremarini hatten kaum Tiefgang, so dass sie auf Flüssen ebenso fuhren wie auf dem offenen Ozean. Rechts und links neben dem Rammsporn starrten aufgemalte blaue Augen. Dann war ich an Bord. Ohne viel Federlesen wurde mir in der Mannschaftskajüte eine Hängematte zugewiesen und ein Gepäcknetz. Nichts durfte lose herumrutschen, alles musste festgezurrt werden. Auf einer Schebecke gab es allerdings nicht viel Raum. Etwas anderes als Wasser, Proviant und Ersatztaue sowie Kisten für die Beute hatte keinen Platz. Gerade ihre Geschwindigkeit war es, was sie für die Oltremarini attraktiv machte. Einzig der Kapitän bewohnte eine eigene Kajüte für sich allein.


    Die drei dreieckigen Segel an den schrägstehenden Masten wurden gehisst. Im Gegensatz zu den Schiffen der Almanen waren diese so gebaut, dass niemand unter Lebensgefahr im Tauwerk herumturnen musste. Alle Arbeiten erfolgten vom Deck aus und erforderten viel Kraft. Die Oltremarini waren ausnahmslos stiernackig und ihre muskulösen, schwieligen Hände erinnerten mich an die von Hufschmieden.


    «He, Neuer», brummte jemand, den ich aufgrund seiner Schürze für den Koch hielt. «Du wirst nicht fürs Glotzen mitgenommen. Ab mit dir in die Kombüse.» Er fuchtelte mit einer Kelle und als ich an ihm vorbeiging, schlug er mir damit auf den Kopf. Nette Gesellschaft. So machte ich mich daran, Maniokknollen zu schälen, womit ich die meiste Zeit auf dem Barrakuda verbrachte, wenn ich nicht gerade das Geschirr abwusch. Ich selbst würde vom vorwiegend pflanzlichen Eintopf Bauchschmerzen bekommen, weshalb ich dankend verzichtete.


    Ziel der Reise war der Südpol. Wie der Navigator mir versicherte, wurden dort, inmitten des Dhunischen Feuerrings, die Winde geboren, die für den Aschefall sorgten. Früher oder später mussten wir auf die Ursache treffen.


    Am Ende meiner ersten Schicht versuchte ich trotz aller Erschöpfung, mir einen Fisch zu angeln. Über mir glitzerten die Sterne. Die Monde bildeten eine weiße und eine rote Sichel. Kein Fisch biss an, so dass ich notgedrungen eine kleine Portion des Eintopfs aß. Am nächsten Tag bekam ich vom Koch gewaltigen Ärger, weil ich mehr auf dem Klo hockte, als zu arbeiten. Die Angelegenheit machte mich höchst unbeliebt. So gut ich konnte, holte ich später die verpasste Arbeitszeit nach, um nicht als Haifutter zu enden, und aß nur noch von meinen eigenen Vorräten an Trockenfleisch.


    Der Barrakuda glitt an diesen Tagen ruhig durch die Fluten des Ninmat. Die Asche musste regelmäßig vom Deck geschrubbt und von der Kleidung geklopft werden. Von einem Brand wusste keiner der Oltremarini und auch niemand, den wir bei den abendlichen Landgängen fragten. Als wir nach einigen Tagen die Flussmündung erreichten und aufs offene Meer zuhielten, wurde mir mulmig, denn nun gab es keine Landgänge mehr und keine Tavernen. An Bord eines Kriegsschiffes war Alkohol tabu. Entsprechend verschlechterte sich die Stimmung, bis ich nicht mehr wagte, mich nachts in meine Hängematte zu legen. Nun mussten sie wegen mir auch noch einen Umweg fahren. Ich sollte vielleicht erwähnen, dass die Oltremarini sich aus Schwerverbrechern rekrutierten, die an Bord Wiedergutmachung leisteten. Meine Mitreisenden waren Mörder, Räuber, Vergewaltiger, die ihre letzte Chance hatten, der Todesstrafe zu entgehen. Die Offiziere waren die einzigen, auf die das nicht zutraf, der Rest glich einem Schwarm Piranhas. Die Oltremarini schnauzten sich an diesem Punkt der Reise wegen jeder Kleinigkeit an und allein der brutale Einsatz eines kurzen Taus durch die Offiziere verhinderte, dass sie handgreiflich wurden.


    Kapitän Alballos Laune war kaum besser als die seiner ruchlosen Mannschaft. «Verdammtes Pack», brüllte er. «Aus euch mache ich anständige Männer oder Futter für die Haie! Schluss mit dem weibischen Gezänk! An die Arbeit!»


    Um mich abzulenken, setzte ich mich zu einer Gruppe, die auf dem Mitteldeck Karten spielte. Den Umgang mit rauen Gestalten war ich aus dem Söldnerlager gewohnt, doch hatte uns damals Kameradschaft verbunden und hier war ich Außenseiter. Es ging um ein paar Münzen und ich legte meine dazu. Lockere Rollen von Tau dienten uns als Sitzgelegenheiten. Meine Pechsträhne nahm kein Ende. Mit Sicherheit betrog hier irgendwer. Als ich schläfrig wurde und mir der Kopf langsam auf die Brust sank, spürte ich Finger, die sich von hinten unter mein Oberteil schoben und mir über den Hosenbund strichen. Was sie suchten, war klar – meinen Geldbeutel! Ich fuhr herum und umschloss die fremde Hand mit den Fingern, bis sie knackte. Der Schiffsjunge, dem sie gehörten, ging stöhnend ein Stück in die Knie.


    «Unter Orks klären wir das wie folgt», knurrte ich. «Du lässt dir jetzt von mir ohne Gegenwehr in die Fresse hauen, dann verzichte ich darauf, dich in einem Duell zu Hackfleisch zu zerlegen und mir eine Halskette aus deinen gierigen Fingern zu basteln.»


    Plötzlich spürte ich einen festen Griff auf meiner Schulter. Ich drehte den Kopf und sah den Kapitän. Haar und Bart schimmerten im Mondlich. Eine andere Beleuchtung gab es nicht, denn Feuer war an Bord streng verboten. «Lass den Jungen. Der ist auf Dhanga», sagte Alballo ruhig. «Er wird dafür bestraft werden, aber nicht durch deine Hand.»


    Ich knurrte unwillig. «Ein Drogenrausch gibt ihm nicht das Recht, mein Geld zu klauen!»


    Der Kapitän wandte sich dem diebischen Kerl zu. «Was muss ich da hören? Hast du unsere Küchenhilfe beklaut, Gizmo?»


    «Aber nein. Ich hab ihn nur gestreichelt», sagte das Bürschlein mit schmerzverzerrtem Gesicht, weil ich seine Finger immer noch gepackt hielt.


    Mir entfuhr ein orkisches Grollen, was Gizmo erzittern ließ. «Die Masche kennt man von Hafenhuren und Strichern», schnauzte ich. «Meine Geldkatze hat er gesucht!»


    Der Kapitän sah mich mit ausdruckslosem Gesicht an. «Das ist eine ernste Anschuldigung, die du gegen meinen Schiffsjungen vorbringst. Wenn sie sich als wahr erweist, werde ich ihn kielholen lassen müssen. Bleibst du dabei?»


    Gizmo quiekte entsetzt auf und wollte sich losreißen, doch ich hielt ihn gnadenlos gepackt. «Ich bleibe bei meiner Anschuldigung.» Ich konnte ein Arschloch sein. Zu mir war schließlich auch niemand nett, besonders nicht dieser Schiffsjunge. Und wer wusste schon, was er alles getan hatte, um seine Drogensucht zu finanzieren, so dass er unter den Männern des Barrakuda geendet war?


    Der Kapitän behielt mich genau im Auge. «Dann beantworte mir eine Frage: Ist dein Geld noch in deinem Besitz, oder wurde es dir tatsächlich von Gizmo entwendet?»


    «Ich habe nicht gestohlen», quiekte der Schiffsjunge hysterisch. «Ich wollte nur lieb sein!»


    Was für ein Würstchen. «Ich habe meine Geldkatze noch», gab ich widerwillig zu. «Aber nur, weil ich den Versuch, mich zu bestehlen, rechtzeitig bemerkte.»


    «Ich wollte nicht klauen», kreischte Gizmo. «Ich schwöre, ich bin kein Dieb mehr!»


    «Und auch kein Messerstecher, was?» schnauzte ich. «Für Diebstahl wirst du wohl kaum hier gelandet sein!»


    «Wenn dein Hab und Gut noch in deinem Besitz ist», sagte der Kapitän, «ist alles in Ordnung. Kein Grund zur Aufregung, will ich meinen.» Der Griff auf meiner Schulter wurde zu einem kameradschaftlichen Klopfen. «Nun lass ihn los.»


    Ich folgte der Aufforderung mit einem verächtlichen Schnauben.

  • Der Dhunische Feuerring

    «Insel voraus!»


    Der Ausguck durfte nur benennen, was er sah. Es lag am Navigator, das Ziel zu identifizieren. Zu diesem Zeitpunkt brachte ich Alejandro Alballo gerade sein Essen in die Kapitänskajüte. Hoffentlich würde er wegen der Asche darauf keinen Wutanfall erleiden, aber ich hatte den Deckel vergessen. Beide Männer standen mit dem Rücken zu mir über den schweren Kartentisch gebeugt. «Das sind die Höcker der Wasserkamele», erklärte der Navigator. Ich räusperte mich, aber niemand beachtete mich.


    «Was sagt der Dromedan?», erkundigte sich Alejandro Alballo.


    «Er knurrt und grollt, doch speit kein Feuer. So lange er nicht brüllt, können wir verweilen, aber wir sollten nicht mehr Zeit als nötig hier verbringen. Die Insel ist in diesen Tagen nicht sicher.»


    Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprachen oder was der Dromedan war. Irgendein Ungetüm vielleicht?


    «Ich werde dem ersten Offizier Anweisungen geben, das Anlanden einzuleiten», fuhr der Kapitän fort und richtete sich auf. «Wir verbringen die Nacht mit einem letzten Landgang, bevor die Stimmung endgültig kippt.»


    «Ja, die Mannschaft ist diesmal schon besonders ungünstig zusammengesetzt.»


    «Wem sagst du das.» Alejandro Alballo winkte mich zu sich heran und nahm seine Schüssel entgegen. Mit einem angewiderten Blick auf die Asche stellte er sie beiseite, sagte jedoch nichts. Währenddessen konnte ich einen Blick auf die Seekarte der Azursee werfen.


    Die Natur bildete selten vollkommene Formen. Der Feuerring umschloss den Südpol nicht präzise, sondern bildete einen schiefen Halbkreis, in dessen Mitte die Azursee lag. Die Fortsetzung des Halbkreises bildete im Nordwesten Naridien und im Südosten Rakshanistan. Beide waren Teile des großen Kontinents, den man Asamura nannte. Nach ihm war die Welt benannt worden, denn der Kontinent war für uns alle «die Welt». Einen anderen gab es nicht. Die Höcker der Wasserkamele, auf denen wir uns befanden, lagen südlich von Rakshanistan.


    Alejandro Alballo verließ die Kajüte, um seine Befehle zu brüllen, ohne einen Bissen gegessen zu haben. Der Navigator aber winkte mich zu sich heran, als er meinen neugierigen Blick bemerkte. Er folgte mit dem Finger der Kurve des Dhunischen Feuerrings, der sich vom südlichsten Zipfel Rakshanistans fortsetzte.


    «Eine Denkaufgabe, Serak: Der Barrakuda ist hochseetauglich. Kannst du dir vorstellen, warum wir trotzdem bisher der Linie des Kontinents gefolgt sind und nun von Insel zu Insel fahren, anstatt die Azursee auf dem kürzesten Weg zu queren?»


    «Wegen des Trinkwassers. Der Barrakuda besitzt nicht viel Platz für Fässer.»


    «Gut erkannt. Das ist einer der Gründe. Schiffe dieser Bauweise bedürfen nur einer kleinen Mannschaft, das haben wir den Naridiern voraus. So benötigen wir weniger Vorräte als ein naridisches Schiff vergleichbarer Größe. Das macht uns flexibler in der Planung unserer Routen. Die Seewege der naridischen Handelsflotte hingegen sind berechenbar. Das verschafft uns einen Vorteil dabei, sie abzufangen und den gerechten Zoll einzutreiben.» Bei der Vorstellung glitzerten seine Augen. Anderen das Geld abzupressen bereitete den Ledvigiani Spaß.


    «Ich habe wenig Ahnung vom Seerecht», wandte ich ein, «aber ist das offene Meer nicht internationales Gewässer? Mit welchem Recht treibt ihr diese Zölle denn ein? Jeder schimpft über sie.»


    Sein Grinsen erlosch und er sah mich ernst an. «Mit dem Recht der Nachkommen von Lazaro Fedele, dem weißen Seelöwen, der auf dem Meeresgrund geboren wurde.»


    Au weia. Irgendeine merkwürdige mythologische Geschichte musste das sein. «Ihr seid Nachkommen einer Robbe», versuchte ich die Legende möglichst einfühlsam zusammenzufassen.


    «Sag das nicht zu laut, wenn dir deine Zähne lieb sind. Wir sind nicht die Nachfahren irgendwelcher Robben, sondern von Seelöwen! Lazaro Fedele di Ledvico und sein Gefolge streiften an den weißen Stränden von Ledwick ihr Fell ab und wurden Mensch. Noch heute trägt der Duca von Ledwick den weißen Mantel, der aus dem Fell des ersten seines Namens gefertigt wurde, und eine schwarze Korallenkrone. Wir sind die Söhne des Ozeans, der gesamte Ozean ist unser rechtmäßiges Reich. Dass wir die besten Schiffe bauen, sollte Beweis genug sein. Und wer unser Reich passieren will, muss Zoll zahlen.»


    Natürlich. Es garantierte ihnen Beute und Wohlstand und hielt die anderen Seemächte klein, insbesondere die verhassten Naridier. Es war bewundernswert, auf welchem Niveau die Menschen ihre uralten Feindschaften pflegten, während die Orks nicht über Zweikämpfe und Stammesfehden hinauskamen.


    «Fahrten über das offene Meer gehören jedenfalls zu unserer Routine», fuhr der Navigator fort. «Das ist nicht der Grund, warum wir uns auf dieser Fahrt in der Nähe der Inseln halten. Aber hier», er tippte auf das Meer inmitten des Feuerrings, «werden alle Winde geboren. Die Azursee ist wild und unruhig, die Stürme schwierig. Darum kreuzt man die Azursee nicht, wenn es sich vermeiden lässt. Wir folgen deshalb dem Feuerring.»


    Draußen riefen die Soldaten durcheinander. Schritte polterten über das Mitteldeck. Die Segel rauschten und die Taue schliffen und knarrten.


    «Moment», warf ich ein, «wenn alle Winde über der Azursee ihren Ursprung haben, finde ich hier irgendwo die Ursache für all die Asche!»


    «Blitzmerker. Was glaubst du, warum wir diese Route wählen? Wir sind selbst neugierig, auch wenn der Kapitän seine Vermutungen hat, die er nicht mit uns teilt. Wir werden sehen. Jetzt genießen wir erstmal den Landgang.» Er klopfte meine Schulter und schob mich ins Freie, ehe er hinter sich die Tür der Kajüte schloss.

  • Das Gasthaus am Ende der Zivilisation

    An diesem Ort sollte es kein Gasthaus geben. Trotzdem schienen die beleuchteten Fenster durch den Nebel. Dies war die letzte Kneipe und damit die letzte Bastion aller Zivilisation. Bei dem, was jenseits davon kam, konnte es sich nur um tiefste Barbarei und trostlose Wildnis handeln. Den härtesten Teil der Reise hatten wir also noch vor uns. Mit Ausnahme der miesgelaunten Wachmannschaft, die an Bord des Barrakuda bleiben musste, durfte jeder ein letztes Mal an Land gehen.


    Am Hafen empfingen uns misstrauische Rakshaner, die ihre vollen Jutesäcke bewachten. Grimmig sahen sie den Oltremarini nach, die gruppenweise in das Gasthaus gingen. Mich nahm niemand mit hinein. Erneut wurde mir deutlich gemacht, dass ich ein Gast auf ihrem Schiff war, mit anderen Worten ein Störfaktor. So gern ich ihnen gefolgt wäre, hinderte mich die Aussicht, allein am Tresen zu versauern, während die übrigen sich lachend um die Tische drängen würden, gemeinsam scherzten und tranken. Schmerzlich vermisste ich meine Söldnerkameraden, von denen die meisten tot waren, allen voran sehnte ich mich nach der Gesellschaft von Cherax, meinem besten Freund, der an mich geglaubt hatte, als ich selbst es nicht mehr konnte. Ich beschloss, mir etwas Hochprozentiges zu gönnen und die Flasche draußen am Meer zu leeren, mit Blick auf die schäumende Brandung.


    Auf der Suche nach einem Sitzplatz kam ich, eine Flasche Kokosbrandwein in der Hand, erneut an den Rakshanern vorbei. Sie waren mittlerweile in Verhandlungen mit unserem Kapitän verwickelt, der zu meiner Überraschung fließend Rakshanisch sprach. Ich bin kein Experte, aber ich würde behaupten, er sprach es akzentfrei. Interessant. Anscheinend wollte er etwas ziemlich Teures von ihnen kaufen. Gut, dass ich gerade außer Sicht zwischen den Findlingen herumkletterte, an denen sich die Wellen brachen. Ich ließ mich an einer günstigen Position nieder, so dass ich das Geschehen im Blick hatte und der Wind mir die Worte zutrug.


    «Bruder, in diesen Tagen haben Geld und Gold keinen Wert», sprach einer der Rakshaner. «Nicht, dass es vorher anders gewesen wäre. Wir Söhne des Chaos wissen seit jeher, dass allein Tauschhandel zu wirklichem Gewinn führt. Geld führt nur zu Abhängigkeit und einer Heerschar unglücklichen Menschen.»


    «Einverstanden, aber über welchen Preis sprechen wir?», wollte Alejandro Alballo wissen.


    «Eine sichere Überfahrt von mir und meinen Männern, außerdem unserer Ware. Wir haben den letzten Inselwaldkaffee von den toten Bäumen geerntet. Wer kann schon sagen, wann es je wieder Kaffee geben wird? Die Säcke müssen aufs Festland gelangen, hier sind sie nutzlos. Außerdem führen wir, wie du siehst, noch eine andere Kleinigkeit mit uns, die wir während unserer Anreise gefunden haben.»


    «In der Tat, darum habe ich euch ja angesprochen. Aber ich möchte diese Kleinigkeit gern ansehen, bevor ich eine Kaufentscheidung treffe.»


    Ich erinnerte mich deutlich an die Belehrung des Kapitäns, gemäß denen er keine untätigen Gäste auf dem Barrakuda duldete. Immerhin sei es ein Kriegsschiff und kein Passagierschiff. Das wäre nicht gut für die Moral der Mannschaft, bla, bla. Was also führten die Rakshaner bei sich, das er unbedingt haben wollte? Ich richtete mich etwas weiter auf, um besser sehen zu können.


    «Gewiss, gewiss», maulte der Wortführer und zog an einer langen Eisenkette. Sie endete in etwas, das zwischen den Rakshanern auf dem Boden lag. «Auf die Füße, Sklave, los!»


    Ein stämmiger Mann quälte sich auf die Beine. Seine Lumpen bedeckten seinen Körper nur unzureichend. Augenscheinlich war er misshandelt worden. Am Gürtel über seinem nackten Gesäß baumelte ein dreckiger Fuchsschwanz. Für einen Augenblick blieb mir die Luft weg.


    Der Kapitän musterte Garlyn Meqdarhan wie ein Stück Vieh, schaute sich seine Zähne an und warf einen Blick in seine Ohren. Ziemlich grob klopfte er ihn anschließend ab, um zu testen, ob der Gefangene Schmerzen hatte. Das war nicht der Fall. Der Blick meines ehemaligen Kommandanten ging ins Leere. Er ließ sich teilamslos begrabschen und begutachten. Kurz erinnerte es mich an meine Jugend in den Bruthöhlen, doch der Gedanken daran, wie er mit uns umgegangen war, erstickte jedes Mitleid im Keim.


    «Was kannst du alles, Sklave?», fragte Alejandro Alballo auf Rakshanisch, jener Sprache, die man auch in Naridien sprach.


    «Kämpfen», sagte Garlyn ausdruckslos, und fügte nach einer Pause hinzu: «Herr.»


    Ich grinste vor lauter Schadenfreude darüber, dass er sich dermaßen demütigen musste.


    «Das ist ja nicht gerade viel für so einen alten Mann», fand Alejandro. «Wie alt bist du?»


    «Fünfunddreißig», rief der Rakshaner dazwischen, was knallhart gelogen war. Garlyn konnte nicht zählen, so dass sein wahres Alter auch ihm selbst ein Geheimnis blieb, doch er musste den Zeichen des Verfalls zufolge eher Ende vierzig sein.


    «Das kann wohl kaum stimmen», fand auch Alejandro. «Sieh mich an, ich will sehen, ob wenigstens deine Augen gesund sind, wenn deine Zähne schon einem Steinbruch gleichen.» Er packte ihn am Kinn. Widerwillig erwiderte Garlyn seinen Blick. «Eine Schönheit ist er nicht gerade», fuhr der Kapitän fort, an meinem ehemaligen Kommandanten herumzunörgeln, während er kritisch sein Gesicht musterte. Seine Art und Weise kam der Behandlung nahe, die ich jahrelang von Garlyn hatte ertragen müssen.


    Verächtlich ließ Alejandro von ihm ab und wandte sich wieder dem Wortführer zu. «Und für diesen fetten alten Taugenichts verlangt ihr eine Gegenleistung vom Wert eines guten Pferdes!»


    «Er kann kämpfen», wandte der Rakshaner etwas kleinlaut ein. «Und das Fett ist nichts anderes als eine Kapitalanlage, wie die Naridier es ausdrücken würden.»


    Alejandro Alballo machte eine ausladende Geste in Richtung seines Schiffes. «Ich habe eine ganze Mannschaft von kämpfenden Männern und ein Schiff, dessen Laderaum bis in den letzten Winkel mit Vorräten vollgestopft ist! Ich brauche keinen übergewichtigen Krieger, sondern habe jemanden gesucht, der des Schreibens und Lesens mächtig ist oder auch einen fähigen Handwerker. Dieser Sklave kann nichts, was in irgendeiner Form für mich interessant ist. Er taugt bestenfalls als sprechender Lastesel. Ich biete euch eine Kiste Schiffszwieback.»


    Die Rakshaner begannen heftig untereinander zu diskutieren. Die meisten schüttelten die Köpfe. Alejandro ließ von dem Gefangenen ab und trat an den Wortführer heran.


    «Nehmt doch Vernunft an», sagte er ruhig. «Ich bin Kommandant eines Schiffes voll Oltremarini. Zufällig weiß ich, wie das Geschäft eines Sklavenjägers läuft. Die Haltung von Sklaven ist ein Luxus, den man sich leisten können muss. Sie fressen, sie saufen Frischwasser, und wild geborene Exemplare sind ihr Leben lang ein wandelndes Risiko. In diesen schweren Zeiten werdet ihr solch einen Sklaven nirgends los. Ihr wisst das so gut wie ich, auch wenn ihr wacker versucht, mich übers Ohr zu hauen. Was ich euch anbiete, ist eine Geste meines guten Willens, denn wir alle merken die Veränderungen unserer Welt. Mit dem Zwieback kommt ihr einen Mond lang über die Runden, sofern ihr ihn vernünftig rationiert. Einen Mond geschenkte Zeit, während Asamura auf eine Katastrophe zusteuert. Geht in euch, ihr kennt die Antwort. Wenn es bei der Entscheidungsfindung hilft, lege ich einen Dolch obendrauf. Das ist mein letztes Angebot.»


    Die Rakshaner berieten sich diesmal nur kurz, ehe der Wortführer erneut vor den Kapitän trat. «Wir erklären uns einverstanden.»


    Sie gaben sich die rechte Hand. Alejandro Alballo gab einem der Männer, die auf dem Barrakuda geblieben waren, einen Wink. Wenig später hatten die Waren ihren Besitzer gewechselt. Alejandro ließ seine neue Errungenschaft an der Kette vor sich hergehen. Ich wartete, bis sie an Bord waren, dann ging ich ihnen hinterher. An Deck war niemand zu sehen. Jedoch stand die Luke offen, die hinunter in den Frachtraum führte. Auf leisen Sohlen stieg ich die Leiter hinab. Zwischen den Fässern, Tauen, Säcken und Ersatzsegeltüchern verlief ein enges, finsteres Labyrinth. Langsam, darauf bedacht, dass keine Planke unter meinen Schritten knarrte, bewegte ich mich durch die Lücken auf das Licht zu. Zwischen den Vorräten liegend, mit einem Segeltuch bedeckt, fand ich einen guten Aussichtspunkt zwischen zwei Kisten hindurch.


    «Hier bleibst du erstmal.» Der Kapitän trat von seinem Werk zurück. Garlyn stand mit dem Rücken am Mast. Eine Kette zog seine Arme nach hinten. Alejandro hakte einen Finger in den eisernen Halsreif. In gespielter Zärtlichkeit raunte er: «Strafe muss sein.» Dann schlug er Garlyn ins Gesicht, so dass mein ehemaliger Kommandant schmerzlich ächzte und sofort den Kopf senkte. Von seiner Braue tropfte Blut. «Dass ich zwei Mal für dich bezahlen muss», fauchte Alejandro. «In Obenza landen entlaufene Sklaven im Kochtopf! Ist das der Dank für alles? Der Dank für deine Rettung? Ist es das, was man in Naridien unter Treue versteht?»


    Das war ja ein Ding! Garlyn war gar nicht frisch versklavt worden. Mein Söldnerkommandant war eigentlich seit jeher ein Sklave gewesen! Hätte ich das vorher gewusst, würde ich ohne zu zögern das Kopfgeld für den bösen alten Fuchs eingestrichen und ihn seinem verdienten Schicksal ausgeliefert haben. Mit nicht unerheblicher Wahrscheinlichkeit wäre ich nicht der Einzige gewesen, der diese Chance genutzt hätte. Kaum jemand hatte unseren sadistischen Schleifer gemocht. Eigentlich niemand.


    Nun aber sagte er leise: «Kannst du mir noch einmal verzeihen? Herr?»


    «Was lässt dich annehmen, ich würde auch nur darüber nachdenken?»


    «Dass du mit diesen Rakshanern um mich gefeilscht hast. Hartnäckig, will ich meinen.»


    «Vielleicht, um dich eigenhändig zu kielholen. Warst du schon mal bei dieser Art der Bestrafung dabei? Wenn man das Opfer längs unter dem Rumpf entlangzieht, benötigt man meist nur eine Runde. Zieht man es quer unter dem Schiff hindurch, kann man es zwischendurch wieder nach Atem ringen lassen und die Wunden nähen, die vom Muschelbewuchs ins Fleisch geschnitten wurden.»


    Garlyn wollte etwas sagen, doch er schaffte es nicht. Er zitterte und rang nach Atem. Alejandro gab ihm dafür eine schallende Ohrfeige. «Einen weinerlichen Feigling kann ich sowieso nicht gebrauchen!»


    «Herr, ich war Kommandant des Grünen Kaders», brachte Garlyn nun endlich hervor. «Ich habe ein Söldnerlager aus dem Nichts aufgebaut.»


    «Ach.» Im ersten Moment klang Alejandro interessiert, dann fügte er hinzu: «Anscheinend ohne Erfolg, denn nun bist du hier.» Er gab Garlyn einen Tritt, dann wandte er sich ab. «Treuloser Nichtsnutz», knurrte er, als er durch den schmalen Gang zurück zur Luke kehrte. Als er fort war, sank Garlyn schnaufend in sich zusammen. Doch wenn er geglaubt hatte, damit sei es genug für heute, hatte er sich getäuscht. Im nächsten Moment stand ich vor ihm.


    «Guten Abend, Kommandant», grüßte ich. Mit meinem Grinsen zeigte ich ihm das gesamte Arsenal meiner Zähne. Das Maul eines Orks glich einer Waffenkammer und das eines Halborks stand dem nur wenig nach.


    Mit einem Schrei fuhr Garlyn zusammen. Doch er war festgekettet, er konnte nicht ausweichen, und ich war frei. Ich packte sein dreckiges Haar und riss ihm den Kopf in den Nacken, noch immer genüsslich grinsend, als ich in sein angstverzerrtes Gesicht sah. «Was wolltest du noch gleich mit mir machen? Mich lebendig häuten und meine Haut als Mahnmal aufspannen? Und meinen Freund Cherax auch?»


    «Das war doch nur dahergeredet», keuchte er. «Ihr wart gute Männer! Ich würde nie -»


    «Das war nicht dahergeredet, Garlyn», unterbrach ich ihn. Dabei nannte ich ihn beim Vornamen, um ihm zu zeigen, dass ich jeden Respekt verloren hatte, und packte noch etwas fester zu. «Keiner meiner Kameraden hat ein anständiges Begräbnis erhalten. Ich weiß nicht, womit sie das verdient haben, aber ihre Knochen haben wir an den unmöglichsten Orten gefunden, wo du sie deponiert hast. Das war dein Spiel, uns immer wieder daran zu erinnern, was uns blühen könnte. Deine Botschaft, was wir für dich wert sind.»


    Ich beugte mich über sein Gesicht und sammelte Speichel. «Mund auf.» Ihm blieb nichts anderes übrig. Langsam ließ ich den schaumigen weißen Schleim in seinen offenen Mund tropfen. «Schlucken.» Als er gehorcht hatte, gab ich ihm einen Klaps auf die bärtige Wange, bevor ich von ihm abließ. Im Gehen hielt ich noch einmal inne. «Ich werde deine Untaten dem Kapitän mitteilen», sagte ich über die Schulter. «Du bist der Letzte, der Gnade verdient hat.»


    Mit hängendem Kopf blieb Garlyn Meqdarhan in der dunklen Einsamkeit des Frachtraumes zurück, während von draußen die Stimmen der Feiernden durch das knarrende Holz der Bordwand drangen.