Der Hexenmeister
Naridien, Jahr 202 nach der Asche.
Ruinenstadt Trux, Katakomben unter der Nachtburg. Sezierkeller.
Kasimir wiederholte sein Anliegen, diesmal dringlicher. »Mein Herr, es gibt Neuigkeiten von der Chaosfront.«
Amand sah noch immer nicht von dem verbliebenen Teil der Leiche auf, an dem er gerade arbeitete. Bereits heute Morgen hatte er nicht das Bedürfnis verspürt, sich damit auseinanderzusetzen, sich stattdessen in den Keller zurückgezogen und jeden Gedanken seiner einsamen Arbeit gewidmet. Die förmliche Anrede, die sein Leibdiener gewählt hatte, und der leise Ton bezeugten, dass Kasimir sich seiner momentanen Lästigkeit durchaus bewusst war. Es mussten wichtige Neuigkeiten sein, wenn er sich wider besseren Wissens erdreistete, den Hexenmeister ein zweites Mal am selben Tage darauf anzusprechen und ihn gar bei seiner Arbeit zu stören, obwohl er die Tür zum Sezierkelller hinter sich geschlossen und so zum Ausdruck gebracht hatte, dass er heute weder Handreichungen noch Gegenwart Kasimirs wünschte. Es war einer der Tage, an denen blanker Hass auf die Welt wie ein Nebel in seinem Verstand hingen und er nur die Gesellschaft schweigender und regloser Körper ertrug. Amands Kiefermuskeln spannten und entspannten sich wieder auf Kasimirs Worte hin. Das Skalpell fuhr mit chirurgischer Präzision durch das weiße Bindegewebe, welches Musculus sartorius auf quadriceps femoris hielt. Keine Muskelfaser wurde beschädigt, die Stränge sauber voneinander getrennt.
»Schließe die Tür und setz dich. Meine Person erlaubt dir, Bericht zu erstatten.«
Er sparte sich den Hinweis, sich kurzzufassen. Kasimir wusste darum. Die behandschuhten Finger des alten Hexenmeisters zogen den Muskelstrang endgültig von seiner Unterlage ab und legten ihn zu den anderen in die stählerne Wanne. Sie war bis zum Rand gefüllt. Das Fleisch würde er mumifizieren, da er keine Verwendung dafür hatte, es aber weder vergeuden noch an die streunenden Ghule verfüttern wollte, damit diese sich nicht allzu wohl in der Gegend der Nachtburg fühlten. Das Skelett, für das er sich interessierte, war nach mehreren Stunden Arbeit fast vollständig freigelegt, die Knochen lagen in achtprozentiger Kalilauge, damit sich die letzten anhaftenden Fleischflocken zersetzten. Den kompliziert zu bearbeitenden Rumpf hatte der Hexenmeister als erstes entbeint. Im Gegensatz dazu, wie man ihn gelehrt hatte, bevorzugte er es, sich von innen nach außen zu arbeiten. So war die Konzentration bei den schwierigen Stellen am höchsten. Die einfach zu bearbeitenden Gliedmaßen entbeinte er zum Schluss, um seine Arbeit entspannt ausklingen zu lassen.
»Die letzte Schlacht hat begonnen. Die Zeichen stehen auf Sieg für die Söhne des Chaos«, begann Kasimir.
Seine Stimme war angenehm und an guten Tagen konnte Amand ihr lange zuhören, während sein Leibdiener ihn über die Geschehnisse der Welt in Kenntnis setzte und er dabei arbeitete. Sie war sanft und unaufdringlich, Kasimirs Sprache wohlgewählt. Manchmal war es kaum zu glauben, dass er keiner Adelsfamilie entstammte, sondern dem Bürgertum, so höflich und gebildet wie er sich gab und so korrekt, wie er sich zu jedem Zeitpunkt verhielt. Hätte Amand noch Kontakt zu anderen seines Standes, so würden diese ihn sicher um einen solchen Leibdiener beneiden.
»Die Zwerge waren hartnäckig, doch ihre Reserven sind, wie es aussieht, nun endgültig erschöpft. Die Belagerung dauert schon zu lange. General Barlok Eisenhand hat eine letzte Unterredung mit Tarrik Tarkan ausgeschlagen und damit das Schicksal seines Volkes besiegelt. Der Tarrik hat das Blutrecht ausgerufen, Festung Dunkelbruch ist zur Plünderung freigegeben und es ist nur noch eine Frage von Stunden, bis der letzte Widerstand der Zwerge überwunden ist. General Eisenhand hat Boten in alle Richtungen entsandt, doch ich bezweifle, dass sie noch einmal rechtzeitig Hilfe holen können.«
»Der General ist ein fähiger Mann. Womöglich geht es ihm gar nicht darum, Hilfe anzufordern, sondern um die Absicherung des Rückzugs der Überlebenden nach dem Fall.«
»Damit mögen Sie Recht haben, mein Herr. Aber in beiden Fällen würde sich die Südfront noch näher in unsere Richtung verschieben. Das ist es, was mir Sorgen bereitet.«
Unbeeindruckt von der Nachricht legte Amand das Skalpell in die Schale mit der warmen Reinigungsflüssigkeit und griff sich eines mit längerer und dickerer Klinge.
»Meine Person mutmaßt gar, dass uns die Front überholen wird. Trux und die Nachtburg werden bald inmitten von Rakshanistan liegen und nicht länger Teil von Naridien mehr sein.«
Kasimir ließ eine Pause, in der er das Gesagte verarbeitete. »Wenn es meiner Wenigkeit gestattet ist, zu fragen: Was wird dann aus uns, mein Herr?«
Amand durchtrennte in Ruhe eine Sehne, wozu er mehrmals mit geringem Druck in die selbe Stelle schnitt. »Nun, du könntest dich in eine Fledermaus verwandeln, Kasimir und als solche den Schauplatz des Krieges verlassen, dir einen neuen Wirkungskreis suchen. Du bist ein gebildeter und fähiger Mann, es dürfte dir ein Leichtes sein, eine neue Anstellung zu finden, ganz ungeachtet der Vorurteile, denen Du und Deinesgleichen ausgesetzt seid.«
Kasimirs weißes Gesicht, das man fälschlicher Weise für das eines jungen Mannes halten konnte, bekam rote Wangen, doch nicht ob des Lobes, sondern aus Zorn. Seine edel geschwungenen Brauen zogen sich zusammen. »Amand, Sie wissen, dass ich das nicht tun werde. Mein Platz ist an Ihrer Seite und hier bleibe ich, darum wäre ich, sofern es Ihnen nichts ausmacht, Ihren treusten Diener zu diesem Sachverhalt in Kenntnis zu setzen, dankbar zu erfahren, was Sie zu tun gedenken. Gedenken Sie zu warten, bis die Rakshaner Trux plündern und die Nachtburg schleifen? Gut. Dann warte auch ich. Warte an Ihrer Seite, bis der Sturm über uns hinweggefahren ist und dann sehen wir, was übrig bleibt.«
Fast hätte Amand ein verächtliches Geräusch von sich gegeben. Doch er verzog nur die Mundwinkel zu einem spöttischen Lächeln. Kasimir meinte seine vor Edelmut triefenden Worte vermutlich tatsächlich Ernst, doch wenn es hart auf hart kam, würde er ihn am Ende doch allein lassen, um die eigene Haut zu retten. Der Hexenmeister hatte schon vor Jahrzehnten alle entsprechenden Illusionen abgelegt. Er war zu alt, um noch an Treueschwüre zu glauben. Eine Lektion, die zu lernen schmerzhaft gewesen war. Die Erfahrung würde einmalig bleiben, er beging den selben Fehler kein zweites Mal. Kasimir würde früher oder später von selbst merken, dass auch seine Treue endlich war.
»Das Blut hat meine Person für dich abgefüllt und zum Trocknen vorbereitet«, sagte Amand scheinbar zusammenhanglos, doch es gab einen Zusammenhang. »Das Granulat kannst du zu einem späteren Zeitpunkt in Wasser auflösen. Zur besseren Haltbarmachung hat meine Person eine Neudosierung von Natriumchlorid ausprobiert. Berichte doch zu gegebener Zeit einem Gelehrten, wie es dir bekommen ist, das dürfte der Nahrungsversorgung deiner Art entgegenkommen und manch Problem lösen, wenn es denn funktioniert. Der Vorrat müsste inzwischen einige Monate reichen, wenn du sparsam damit umgehst. Die Vorratskammer ist, wie du weißt, ohne das Wissen um ihren Platz kaum zu finden. Verborgen in der Gestalt einer Fledermaus kannst du auch eine längerfristige Heimsuchung durch die Chaostruppen gut überdauern und dir regelmäßig Blut anmischen, ohne dich in Gefahr zu begeben und bist nicht mehr auf meine Zuarbeit angewiesen.«
»Amand, Sie wollen doch nicht ... Sie können nicht zulassen, dass Ihnen etwas geschieht!«
»Mein Leben ist längst vorbei, Kasmir. Das weißt du. Ich bin nicht lebendiger als die Toten, mit denen ich mich umgebe. Wenn mir etwas zustößt, dann mag es verspätetes Schicksal sein. Dass ich überhaupt noch lebe, ist nichts als einem Fehler Dunwins zu verdanken, es hätte nicht sein sollen. Es war aber so, also lebe ich. Doch ohne Freude. Ich bin alt und müde, Kasimir. Die nahenden Krieger schrecken mich so wenig wie die Aussicht, im Schlaf ein Herzversagen zu erleiden, das mich jeden Tag treffen könnte.«
»Sie haben viele Verwandte im Süden! Dort könnten Sie um Unterschlupf ersuchen, wenn das Chaos kommt.«
»Man merkt, dass du ein sehr einfaches und behütetes Leben hattest. Du bist fast schon entzückend naiv. Habe ich dir nicht oft genug von meiner Familie erzählt? Meine Verwandten sind von allen meine erbittertsten Feinde. Ein Überfall der Rakshaner wäre weniger tödlich, als auf eine Familienfeier derer von Hohenfelde zu gehen und zu offenbaren, dass man den letzten Anschlag überlebt hat.«
Kasimirs schönes Gesicht erhellte sich und seine Augen blitzten, so als ob er einen Einfall hatte, der den Hexenmeister doch noch umzustimmen vermochte.
»Dann ist es also müßig, Ihnen davon zu berichten, dass Ihr Neffe Davard nach all den Jahren doch noch heiraten wird? Das liegt also ebenfalls außerhalb Ihres Interesses?« Kasimir lächelte aufmunternd, so als ob er hoffte, dass diese Information den Einspanzer zu durchbrechen vermochte. Doch wenn er eine emotional geartete Reaktion erhofft hatte, die Amand dazu brachte, die Versöhnung mit seiner Familie zu suchen und mit ihm vor den näherrückenden Truppen zu fliehen, wurde er enttäuscht.
Der Hexenmeister legte in aller Seelenruhe die letzten Muskelstränge in die Wanne und den befreiten Oberschenkelknochen zu den anderen in die Kalilauge. Damit war er fertig für heute. Er zog die Handschuhe aus und warf sie in die Wanne mit den Abfällen, die verbrannt werden sollten, wozu vor allem die Organe und die Verbrauchsmaterialien gehörten. Er breitete beide Arme aus und wartete. Kasimir eilte ihm auf dieses Zeichen hin zu Hilfe und half dem alten Mann, die Schutzkleidung aus gefettetem Leder abzulegen. Amand zeigte mit dieser Geste, dass seine schlechte Laune von heute Morgen durch die Arbeit abgeklungen war und er wieder normale Interaktion wünschte. Auch seine Sprechweise war fortan wieder etwas weniger förmlich.
Während Kasimir seine Kleidung in einem Korb zusammenlegte, um sie später zu reinigen, wusch Amand sich mit intensiv parfümiertem Wasser und einem alchemistischen Desinfektionsmittel eigenhändig von Kopf bis Fuß, was für einen Mann seines Standes ungewöhnlich war, nicht jedoch für ihn. Kasimir räumte während der Zeit auf und reinigte den Arbeitsplatz. Er hatte wie immer nur wenig Arbeit, denn der Hexenmeister ließ sein Material vor Arbeitsbeginn gründlich ausbluten und sorgte auch während der Sezierung und Präparation für größtmögliche Hygiene. Binnen Kurzem war der Sezierkeller somit bereit für das nächste Präparat.
Nackt bis auf ein paar Schlappen, die er jedoch an der Tür zurückließ, verließ Amand hernach seinen Arbeitsraum. Hinter ihm ging Kasimir mit erhobener Öllampe. Der Hexenmeister wollte nichts von dem, was sich hier unten abspielte, mit hinausnehmen und so ging er gewaschen und unbekleidet, von künstlichen Düften umweht, damit ihm auch der Geruch nicht folgte. Der Sezierkeller war ein Ort der körperlichen und geistigen Reinigung, sowohl für sein Präparat als auch für ihn und aller Schmutz blieb darin zurück. Als er durch den Kellergang hinaufstieg, fühlte er sich besser.
Lang und schwarz glitt sein Schatten vor ihm über das Kopfsteinpflaster. Das einsame Leuchten der Lampe war das einzige Licht in den stockfinsteren Eingeweiden der nächtlichen Burg und ihre Schritte das einzige Geräusch. Was anderen Angst eingeflößt hätte, flößte dem Hexenmeister ein Gefühl tiefer Ruhe ein. Normalerweise hätte er nun nicht gesprochen, doch in Anbetracht der Information wandte er sich doch noch einmal an seinen Leibdiener.
»Davard heiratet also. Berichte mir davon, Kasimir. Wie hast du es in Erfahrung gebracht?«
»Unserer Beobachter in Shohiro hat es berichtet. Es befindet sich ein entsprechender Aushang beim Rathaus. Die Einladung richtet sich in der Regel an die gesamte Familie. Entsprechend auch an Sie, mein Herr.«
»Nun, mit meinem Erscheinen dürfte niemand rechnen oder sich gar darauf freuen, vor allem nicht, wenn ich im lebendigen Zustand angeliefert werde und nicht als Kadaver. Ich meinerseits hatte nicht damit gerechnet, dass mein jüngster Neffe überhaupt noch heiraten wird. Er ist mittlerweile über Vierzig. Wer ist die Glückliche?«
»Eine Frau Varmikan Eisseher.«
Amand hielt abrupt inne. »Eine Bürgerliche? Dabei sollte man doch meinen, dass Dunwin seine Söhne vernünftig erzogen hat!« Er wollte verärgert mit dem Spazierstock klopfen, doch der befand sich bei seiner Kleidung, auf die sie gerade zuhielten.
Bevor sie die Treppe hinaufgingen und in das Atrium traten, bogen sie ab. Amand zog seine Kleider an, die er vor dem Beginn der Arbeit hier abgelegt hatte, weit weg vom Schmutz der Katakomben, nah am Weg hinauf ins Freie, so dass sie nach Nachtluft dufteten und nicht nach Keller rochen. Jede Bewegung schmerzte und er musste sich auf dem Stuhl niederlassen, um Unterhose, Kniestrümpfe, Bundhose und Schnallenschuhe anziehen zu können. Es dauerte. Sein Leibdiener stand dabei und hielt die Lampe. Ihm war es verboten, seinem Herrn Hilfe anzubieten, ehe der alte Hexenmeister nicht selbst danach verlangte.
»Dieser Umstand ändert natürlich vieles, Kasimir«, setzte Amand ihre Unterhaltung fort. »Eine Bürgerliche!« Er zog sein Hemd an, das Wams darüber und schüttelte verächtlich das vollständig kahlrasierte Haupt, während er sein Halstuch band. »Nun, da mein geschätzter Bruder nun nicht mehr unter uns weilt, werde ich mir selbst vor Ort ein Bild der Lage machen. Dunwins Jüngster scheint ja seit der Abwesenheit seines Vaters völlig neben sich zu stehen, dass er das Familienvermögen und Erbe an eine standeslose Sippe verschleudert. Und sein Ältester scheint nicht in der Lage zu sein, für Ordnung zu sorgen und Davard wieder auf den rechten Weg zu bringen. Ansgar ist somit womöglich ungeeignet für seinen Posten. Ich gedenke in Erfahrung zu bringen, was sich noch alles in der Familie geändert hat seit dem Ableben meines werten Bruders.«
»Sie meinen, um nachzusehen, ob die Zeichen günstig stehen für eine Rückkehr aus dem Exil?«
»Um nachzusehen und meinen rechtmäßigen Platz als Familienoberhaupt in Anspruch zu nehmen, wenn sich die Gelegenheit in Anbetracht der fragwürdigen Führung als günstig erweisen sollte.«
Amand stützte sich auf seinen Spazierstock und stand sehr langsam auf. Er schloss die Augen, damit seine Schmerzen nicht den Weg auf sein Gesicht fanden, bis er sich zur vollen Größe aufgerichtet hatte.
»Ich werde nicht alleine bei dieser Hochzeit erscheinen. Du wirst mich begleiten, Kasimir und zuvor besuchen wir jemanden, der mich ebenfalls begleiten wird. Ohne Verstärkung zu einer Familienfeier zu erscheinen war noch nie eine gute Idee.«
Er stieg durch die verwilderte Schönheit der Nachtburg, kam an zahlreichen geschlossenen Türen vorbei, hinter denen keine Stimmen zu hören waren, kein geschäftiges Treiben, kein Klappern von Geschirr, nur Stille. Im nächtlichen Burghof rief kein Kauz, schrien keine kämpfenden Katzen, bellte kein Wachhund. Nur der Wind pfiff über die Mauern und schwarzes Geäst raschelte.
Da er seine Dienerschaft so klein wie möglich hielt, hatten sie zu viel Platz in der geräumigen Anlage. Die Nachtburg wirkte zu jeder Zeit still und einsam, da sie nur sehr wenige der vielen Räume regelmäßig benutzten. Als die vorherigen Burgherren auf der Flucht vor dem näherrückenden Chaos verlassen hatten, war das meiste Inventar hier verblieben, das nun dem Hexenmeister gehörte. Die Ölporträts an den Wänden hatte Amand jedoch abnehmen lassen. Die nackten Wände gefielen ihm besser und in manchen Räumen gab es schön anzusehende Tapete. Auf einer war eine Adelsfamilie abgebildet, die gemeinsam im Garten saß und Tee trank, während die Kinder spielten. Dort trank auch Amand gern Tee, allein. Auf den kunstvoll geschnitzten Möbeln lag der Staub, der Garten war verwildert und jedes Kinderlachen längst verstummt. Er war der Einzige hier, der lebte. Kasimir war so tot wie seine übrigen Diener. Zumindest traf das zu, wenn man das Leben nach medizinischer Lehre definierte. Amands Ansicht nach hingegen war Kasimir das einzige lebende Wesen, das die Nachtburg durchstreifte und er selbst ein wandelnder Toter.
»Ich werde die Harpyien auftauen lassen. Wir nehmen den Wyvern.«
Zwei Tage später war der Hexenmeister Amand von Trux reisefertig. Er nahm Abschied von seiner liebsten Kreation Viola. Er ließ sie in ihrem schönsten Kleid vor sich stehen, mit ihren übertrieben weiblichen Proportionen und dem reglosen Puppengesicht und zog den Hut vor ihrer unnatürlichen Schönheit. Seine penibel manikürten Finger strichen über ihre knochenweiße harte Wange. Ganz bewusst hatte er sie so unnatürlich und übertrieben perfekt gestaltet, um sie von jener abzugrenzen, die er verloren hatte und die einst ebenso den Namen einer Blume getragen hatte. Er nahm ihre Hand in die seine, spürte die Feinmechanik, wie sich jedes Fingerglied nach seinem magischen Willen bewegte. Nur zu sprechen vermochte sie nicht.
»Leb wohl, meine Liebste«, sagte er sanft und ließ sie seine Umarmung erwidern und zärtlich über seinen Rücken streicheln. Ihr harter Leib, geformt aus dem Knochenschmelz dutzender Toter, drückte sich gegen seinen. Sie war zu wertvoll, um sie mitzunehmen. Er drückte ihr einen Kuss auf die weißen Lippen und ließ sie sich auf einen Stuhl setzen und erstarren, bis dass er zurückkehren und sie erneut erwecken würde. Er verschloss die Tür und auch jene davor und die, die zuletzt kam.
Entgegen dem, was man vielleicht vom Gefährt eines Nekromanten erwarten mochte, war dieses nicht schwarz, sondern blendend weiß. Das war bei genauer Überlegung nicht verwunderlich, denn Amand war ein Meister der Knochenmanipulation. Während andere seiner Zunft sich mit Heerscharen von Zombies umgaben, bevorzugte Amand die geruchsneutrale, glatte Form, die man mit einer ausreichenden Menge an Substantia corticalis und Geduld herstellen konnte - so wie diesen ebenmäßigen Himmelsgleiter in Drachenform mit seinen mehrere Meter breiten Schwingen und gegliedertem Schweif, der von untoten Harpyien gezogen wurde. Aus der Ferne mochte es aussehen, als ob dies ein echter weißer Drache sei, denn die Schwingen konnten zur Steuerung mittels Hebel bewegt werden.
Amand und Kasimir stiegen ein und legten die ledernen Gurte an. Das Gepäck hatte Kasimir bereits verstaut. Über ihnen schloss sich die Luke. Amand legte die magischen Fäden um die Harpyien und wie Marionetten erwachten sie zum Leben, warfen sich in ihre Zuggeschirre und zerrten den Gleiter über die Straße, die als Startrampe diente. Nach einiger Zeit begann der Wind unter die mit Leichenhaut bespannten Schwingen zu greifen und der Wyvern erhob sich in die Lüfte, zeitgleich ließ Amand die Harpyien steigen. Selbstredend waren sie alle weiß gefiedert. Sie stiegen höher und es wurde eisig, doch sie waren warm gekleidet, da sie oft auf diese Weise reisten. So erreichten sie recht bald Daijian.
Schlitternd landete zuerst der Wyvern auf seinen Gleitkufen. Funken stoben, als Amand den Bremshebel zurückzog. Da er der Nekromant war, musste er den Gleiter selbst steuern und konnte die Reise nicht Kasimir überlassen, wie das bei einer Kutsche möglich gewesen wäre. Als die Geschwindigkeit ausreichend heruntergebremst war, landeten auch die Harpyienzombies auf ihren Füßen, rannten noch ein Stück und hielten dann. Das Gefährt kam zum Stillstand. Die Kufen qualmten und es stank nach verbranntem Knochen. Sie stiegen aus, Kasimir entlud das Gepäck.
Der Wyvern hatte vor dem Anwesen des einzigen noch lebenden Verwandten gehalten, den Amand momentan für nützlich hielt und nebenbei die einzige Person, von der er glaubte, dass sie sich - möglicher Weise - über sein Erscheinen freuen könnte. Wolfram von Wigberg, der Sohn seines Cousins.