Ansgar hatte ebenso die Aushänge in Shohiro studiert. Er hatte die Stadt nicht oft besucht, aber die seltenen Besuche hatten ausgereicht, um ihn auf den neusten Stand der Dinge zu bringen. Nun war es amtlich, Freiherr Brandur von Hohenfelde war Familienoberhaupt der von Hohenfelde und vermutlich damit der gesamten Sippe, denn weder Veyd von Eibenberg von Wolfgang von Wigberg würden sich dem in den Weg stellen. Beide Familien hatten stets eine schlagkräftige Führung zu schätzen gewusst und dass Brandur wusste was er tat, stand außer Zweifel.
Ansgar hatte sich in der Magie verborgen gehalten. Er hatte sie nicht für das kleinste bisschen Zauberei genutzt. Er verhielt sich mittlerweile so, als wäre er ein Purie. Vermutlich würde er so den Rest seines Lebens leben. Seine Verwandten spukten vermutlich auf ihn, allen voran Dave, dem er seinen Sohn durch seine Flucht aufs Auge gedrückt hatte. Dabei ging es seinem Bruder sicher nicht darum, Anwolf versorgen zu müssen. Das ganz gewiss nicht, aber Dave hasste Verantwortung. Er spielte lieber die zweite Geige und setzte Befehle vom Obersten um, anstatt sich selbst Gedanken machen zu müssen. Oder besser gesagt, er dachte lieber anderer Leute Gedanken zuende. Weder Herr noch Gescher, sondern erster oder zweiter Mann. Bei der Bezeichnung kamen unliebsame Kindheitserinnerungen bei Ansgar auf, die er doch lieber dort ließ, wo sie hingehörten - weggesperrt im Dunklen.
Dave wie auch Fingard hatte er seit seiner Flucht nicht mehr gesehen, im Moment legte er auch keinen Wert darauf, denn er war auf beide noch gewaltig wütend. Wobei er eigentlich Dave nur übel nahm, dass er sich hatte breitschlagen lassen. Irgendwie vermisste er schon seinen kleinen Bruder. In seiner Kindheit war Dave alles was er gehabt hatte. Damals nach dem Reitunfall hatte er ihm sogar das Leben gerettet. Nun nicht ganz uneigennützig. Sicher Ansgar hatte nicht gewollt, dass Dave starb. Im Gegenteil er hatte ihn stets beschützt, wenn ihm dies möglich war.
Aber Ansgar hatte ihn auch gerettet um den Abgrund den sie Zuhause schimpften, nicht allein ertragen zu müssen. Vielleicht war dies egoistisch, aber Ansgar hatte gewusst, sollte Dave sterben, dann würde er ihm folgen. Allein hätte er dort nicht zurückbleiben wollen, aber letztendlich war er es irgendwie doch.
Auch diese Erinnerungen schob er zur Seite.
Ganz ohne Hintergedanken, Gram, Wut oder Enttäuschung dachte er nur an eine einzige Person - Anwolf.
Er vermisste sein Küken schmerzlich und es zerriss ihm das Herz, nicht mit Wolfi Kontakt aufnehmen zu können. Was die anderen dachten war klar, sie hielten ihn für einen Feigling. Aber dem war nicht so, er wusste dass Brandur in töten wollte und würde, sollte er die Gelegenheit dazu bekommen. Wäre Wolfi dann in seiner Nähe, dann würde er ihn mit in den Tod reißen. Schlichtweg, da Wolfi sich ihm gegenüber loyal verhalten würde. Er würde seinen Vater nicht kampflos sterben lassen und genau dieser Umstand wäre sein Todesurteil.
So musste sich Ansgar von seinem Küken fernhalten. Er wusste dass sich Anwolf an Dave klemmen würde. Beide verstanden sich gut, beide waren ein eingespieltes Team von Schüler und Meister. Zudem waren sie befreundet. Und sollte Brandur bei Dave aufschlagen, bestand immerhin die Möglichkeit, dass sie miteinander verhandelten. Brandur hatte schließlich Anwolf auch schriftlich aufgefordert sein Vermögen herauszugeben, anstatt ihn dafür anzugreifen. Würde Dave einlenken, dann würde er sein Leben, seinen Titel und sein Geld behalten. Das hoffte jedenfalls Ansgar und er hoffte, dass dies ebenfalls für Anwolf gelten würde. Wolfi würde sich nach Dave richten und dieser war wesentlich friedfertiger gestrickt als er selbst.
Er selbst musste nur an Brandur denken um binnen Sekunden einen Blutdruck von 180 zu haben. Irgendwann würde sich die Möglichkeit ergeben sich zu rächen. Vorerst war nur wichtig, dass Wolfi in Sicherheit war, dass Dave samt seiner Familie überlebte und dass er Naridien verließ. Hier hielt ihn nichts mehr.
Weshalb Brandur ihn tot sehen wollte, verstand Ansgar bis zum heutigen Tag nicht. Das hätte der Mann eher haben können. Eine einzige Bitte an Dunwin oder einer seiner speichelleckenden, monströsen Lakaien und er wäre Geschichte gewesen, Dave ebenso. Weshalb also jetzt der Aufwand? Wieso hatte er damit gewartet, bis er aus seinem vemeintlichen Tod zurückgekehrt war?
Nun vielleicht lag genau dort die Antwort. Sein eigener Tod war Brandur Anlass genug, den tatsächlichen Tod seiner Familie zu wünschen. Sie waren Dunwins Kinder, die Kinder jenes Mannes der Brandur scheinbar ermordet hatte. Das genau der gleiche Mann sie ebenfalls Scheibchen für Scheibchen hatte ermorden lassen, schien Brandur völlig gleichgültig zu sein.
Hass machte bekanntlich blind. Wie hieß es so schön, Auge um Auge - und irgendwann wird die ganze Welt blind sein. Brandur war auf gutem Wege dahin, er hatte sich den nutzlosen Linhard geschnappt und vermutlich bereits nach seinem Gutdünken umgeformt. Und als wäre das nicht alles schlimm genug, hatte er seinen einstigen Feind, seinen kleinen Bruder Dunwin, wieder an seiner Seite. Beide hatten im Kampf so gehandelt, als hätte auch nie nur ein Hauch ihre Beziehung getrübt.
Vielleicht war dem sogar wirklich so, wer wusste das schon?
Dem senilen Alastair hatten sie jahrelange Feindschaft vorgespielt und sich abends bei einem Glas Rotwein köstlich über den Blödmann amüsiert. Vermutlich hatten sie sogar gemeinsam sein Ableben geplant, wie auch die Folterungen von Melisande, Dave und ihm. Das war dann sicher auch eine pausenfüllende Annekdote über die die beiden Brüder herzhaft lachten, wenn einer von ihnen vor Schmerzen fast umkam. Dave hatte sich nicht grundlos gewünscht nach dem Reitunfall sterben zu dürfen.
Ja vermutlich war es so gewesen, wer wusste schon was dort oben auf dem Dach geschah? Er war nicht dabei gewesen, ebensowenig Dave oder Melisande. Dunwin konnte sich gut mit einem Mord brüsten, den er gar nicht begangen hatte. Brandur war vielleicht einfach nur über seinen Morgenmantel gestolpert und vom Dach geplumpst. Dunwin die alte Natter hatte dann vor Alastair großspurig getönt, er hätte ihn hinabgestoßen.
Allein bei der Vorstellung, stahl sich ein Grinsen auf Ansgars Gesicht.
Der Einzige neben ihm, der es die ganze Zeit wohl ehrlich gemeint hatte, war Massimo de la Cantillion.
Er hatte Ansgar sogar seine Hilfe angeboten und genau jene Hilfe wollte Ans nun in Anspruch nehmen. Da er seine Magie nicht nutzen durfte, trug er eine Halskette aus Messing. Für den Fall des Falles unterdrückte diese seine Fähigkeiten, aber zur Not konnte er sie auch noch schnell genug abreißen. Dennoch hatte er zu dieser Vorsichtsmaßnahme gegriffen, da er nicht versehentlich auf seine Gabe zugreifen wollte. Seine Magie zu nutzen war ansonsten für ihn so alltäglich, wie seine Hände zu benutzen.
Und genau dass würde er tun, er schrieb Massimo einen Brief.
Hallo Massimo,
als es auf der Hochzeit von Dave zu der Auseinandersetzung zwischen Brandur, Dunwin und uns kam, hast Du Dich letztendlich für unsere Seite entschieden. Trotz unserer vorherigen Differenzen, hast Du mir Deine Hilfe angeboten. Falls Du immer noch bereit bist, mir zu helfen, so würde ich Deine Hilfe gerne schnellstmöglich in Anspruch nehmen.
Meinen Stand habe ich an meinen jüngsten Sohn Anwolf abgetreten. Um ihn zu schützen halte ich mich von ihm fern. Dies ist ein bedauerlicher Umstand, aber andernfalls könnte ich den Jungen mit in den Tod reißen. Er ist jung, er ist mir gegenüber loyal und er ist stur wie ein Stein, wie man zu sagen pflegt. Folglich habe ich ihn in Daves Obhut übergeben.
Brandur hat die Herausgabe seines Erbes gefordert und Anwolf kam der Forderung nach.
Der Junge hatte keine andere Wahl, Brandur ist mit seiner Forderung leider im Recht.
Noch haben Dave und Anwolf die Chance, Ihre Leben samt ihrem Stand zu behalten. Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass ich mich von ihnen fernhalte. Da gebe ich mich keiner Illusion hin.
Aus diesem Grund möchte ich Dich bitten, mir ein kleines Stück Land auf Eurer Scholle zu überlassen. Ich erbitte nicht viel, ausreichend wäre eine Größe zur Selbstversorgung. Meine Bitte wäre nur, Ihr gewährt mir Schutz und Schirm, gegen Loyalität, aber ich möchte ein freier Mann bleiben.
Du wirst Dich vermutlich fragen, warum ich um ein Stück Land und um meine Freiheit bitte, aber ich vermute, dass es nur noch eine Frage von Tagen, vielleicht auch nur von Stunden ist, bis ich meine Verstoßung erhalte. Demzufolge werde ich nicht mehr von Stand sein, sobald ich Eure Scholle erreiche. Bestenfalls könntest Du mich als Bürgerlichen betrachten. Da Ihr im Feudalsystem lebt, wäre ich auf Eurer Scholle Euer Eigentum, falls Ihr mich nicht als Gast erachtet.
Ferner würde ich nicht alleine anreisen, sondern mit meiner Lebensgefährtin Annabelle Lemaitre. Wie Dir der Name schon zeigen dürfte, handelt es sich bei ihr um eine Almanin aus Souvagne, oder wie Ihr nun sagen würdet, um eine Souvagnerin.
Falls Du meiner Bitte entsprechen solltest, würde ich gerne Eure Staatsbürgerschaft annehmen und Anna heiraten. Aber diesen Schritt kann ich erst offiziell machen, sobald wir in Sicherheit leben. Mir ist durchaus bewusst, dass eine Bitte auch ein Nein zur Folge haben kann. Falls Du meine Bitte ablehnen solltest, antworte bitte trotzdem, damit ich weiß, woran ich bin.
Danke.
Gruß
Ansgar