Unter der schwarzen Wolke
Das Regenmoor war eine monotone Einöde, ab und zu aufgelockert von Inseln kahler Moorbirken, deren Stämme von unten schwarz angelaufen waren, als würden sie lebendig verfaulen - so wie die Bäume ihrer Heimat aussahen, fühlten sich die Duponts. Man hätte ihr Familienanwesen im Herzen des Regenmoores für ein leerstehendes Spukschloss halten können, ein einsames graues Gemäuer, durch das der Wind pfiff. Die aufgeschüttete Zufahrtsstraße war von Unkraut überwuchert. Das Wollgras ließ die im Dauerregen matschig gewordenen Köpfe hängen. Im Sommer konnte es hier recht hübsch aussehen, wenn das Torfmoos rote Flecken bildete zwischen gelben Blüten und die blauen Moorfrösche quakten, doch um diese Jahreszeit war das Regenmoor an Tristheit kaum zu überbieten. Meist war es hier still und neblig. Zu Recht fragten die wenigen Reisenden der Gegend sich, wovon die gefallene Rittersfamilie leben sollte - sie wussten es selbst nicht.
Es war der 23. des dritten Mondes 203 nach der Asche, die in Selbstironie am Blutgerüst auf dem alten Galgenberg drapierte Glocke läutete. Es war ein nicht unbedeutender Tag für die Duponts. Bedeutend genug, dass sich ein Großteil der Familie nun im Speisesaal ihres Spukschlosses versammelte. Der Tisch, um den sie saßen, war viel zu groß. Zwischen die Sitznachbarn hätten jeweils noch ein bis zwei weitere Gäste gepasst. Die Duponts zogen allesamt Gesichter, die in anderen Familien zu Beerdigungen zur Schau getragen wurden. Hier gehörte eine Trauermiene zum guten Ton, denn wer gut gelaunt dreinblickte, machte sich verdächtig, sich über das kollektive Leid der Familie lustig zu machen oder zu dumm zu sein, die Tragweite ihres Elends in seiner Gänze zu erfassen. Die grauen Banner mit der schwarzen Wolke hingen schwer über ihnen, dem Verlust ihres Adelsstandes zum Trotz.
Das derzeitige Familienoberhaupt Chetan blickte heute besonders finster in die Runde, als würden seine schwarzen Augen jeden Einzelnen im Hinblick auf seinen Gemütszustand überprüfen.
»Was gibt`s zu grinsen, Vianney?«, raunzte er seinen Enkel an, als er meinte, eine Spur von Freude über die Zusammenkunft in seinem Gesicht zu erkennen.
»Nichts«, gab Vianney betreten zurück.«
»Sehr richtig, es gibt nichts zu grinsen, nichts zu lachen und noch weniger irgendetwas Positives zu berichten. Als euer amtierendes Familienoberhaupt mit Einblick in die Versorgungslage, die Finanzen und die näheren wie ferneren Zukunftsaussichten, kann ich euch allen versichern, dass wir vollumfänglich am Arsch sind. Souvagne `at die Grenzen dicht gemacht. Sie `aben von Norden `er angefangen und ziehen einen Wall nach unten, in unsere Richtung und es ist davon auszugehen, dass sie ihn vor Ledwick schließen werden. Bereits jetzt ist es schwierig, für die notwendigen Raubzüge noch ins Landesinnere zu gelangen. Ich darf euch in Anbetracht der mageren Vorräte mitteilen, dass wir spätestens nächsten Winter alle verhungert sein werden. Im Sommer können wir uns womöglich noch mit dem Sammeln von `eidelbeeren und dem Fang von Fröschen über Wasser `alten, danach ist Sense. Zick, vorbei, aus die Maus.«
»Wenigstens `at unser aller Elend dann ein Ende«, versuchte der Onkel Kalenian sich an einer Aufmunterung.
Chetan funkelte ihn an, doch er widersprach dem Mann nicht. Dafür hatte selbst er als Familienoberhaupt zu viel Respekt vor dem alten Haudegen, auch wenn dieser alle Führungsansprüche in Chetans Hände gelegt hatte - nicht, weil er Chetan vertraute, sondern damit er selber oder seine eigenen Söhne sich nicht damit herumplagen musste, diese Familie vor dem endgültigen Untergang zu retten. Das konnten schön die Kinder seines Bruders übernehmen. Und der konnte nicht mehr widersprechen, da er tot war. Etwas neidisch dachte Chetan an seinen Vater, der nun friedlich in einem Massengrab schlummerte, während er selbst die Bürde der Familie Dupont auf seinen Schultern trug und das war wahrlich keine kleine Last.
»Ich finde deine Worte ziemlich pessimistisch«, meldete sich nun sein ältester Sohn Cedric zu Wort.
»Danke«, erwiderte Chetan. »Ich `abe mir auch Mühe gegeben, die Aussichtslosigkeit gebührend zu veranschaulichen.«
»Ja, deine Ansprachen verstehen es ganz vortrefflich, die Familie noch tiefer in den schwarzen Sumpf der Depression zurückzutreten. Sonst bist du doch immer derjenige gewesen, der versucht `at, noch irgendetwas zu reißen! Was ist los mit dir? Willst du wirklich dein Schwert ins Korn werfen, Vater?«
»Wenn es rein nach dem Wollen ginge, dem Gefühl, würde ich Kalenians alten Vorschlag des kollektiven Suizides womöglich wieder aufgreifen. Aber das wäre ein Sieg für den Duc, eine feige Flucht. Das ist es doch, was sie wollen, uns krepieren sehen. Wir werden leben, rein aus Prinzip, auch wenn kein einziger von uns je auch nur einen Funken Freude dabei empfindet. Und wenn es nur dazu dient, Souvagne durch unsere Anwesenheit an seiner `ässlichsen Grenze zu schaden.«
»Alles Weicheier«, murrte Kalenian. »Früher hätte man den rituellen Suizid durchgezogen. Es ist der einzige würdevolle Weg, um die Ehre der Familie doch noch zu retten.«
»Nicht jeder `ier möchte seine Kinder sterben sehen, weißt du?«, giftete Cedric. »Nur weil du ein alter Mann bist, der nichts mehr zu verlieren `at, müssen sich nicht alle selbst zugrunde richten! Das ist nicht, wofür unsere Vorfahren so `art gearbeitet `aben.«
»Oho«, höhnte Kalenian. »Du meinst, sie `aben nicht dafür gekämpft, konstant von allen Seiten betrogen und verraten zu werden? Da er öffnest du ja eine ganz neue Perspektive, mit diesen Gedanken.«
»Beruhigt euch«, bestimmte Chetan. »So lange ich Familienoberhaupt bin, wird kein kollektiver Selbstmord stattfinden. Du kannst dir gern einen Strick nehmen, Kalenian, du weißt wo sie liegen, sie sind sogar schon vorgeknüpft. Calvins Linie wird das nicht tun. Vater ist nicht gefallen, damit wir dem Feind die Arbeit abnehmen, sondern um sie ihm so schwer wie nur möglich zu machen. Wir sind das Steinchen in seinem Schuh, der Pickel an seinem Sack. Das `abt ihr jetzt nicht gehört, Kinder«, ergänzte er mit einem strengen Blick in Richtung von Celio und Cecil. Die beiden jüngsten Duponts starrten ihn mit großen schwarzen Augen an. »Verzeihung«, räumte Chetan in Richtung ihres Vaters ein.
Cato, Chetans jüngster Sohn und Bruder von Cedric, zuckte daraufhin nur die Schultern. »Manieren braucht man nicht in diesen Zeiten. Sie stehen nur im Wege. Wir `aben momentan ganz andere Prioritäten. Von daher kannst du ruhig in ihrer Gegenwart reden, wie dir der Mund gewachsen ist, Papa.«
»Kinder brauchen Erziehung«, wandte Cedric ein. »Ich bin nicht damit einverstanden, dass meine Kinder solche Kraftausdrücke `ören und womöglich nachplaudern. Wir sind trotz allem von Stand, egal was der momentane Duc und seine Lakaien uns weismachen wollen und sollten unsere Kinder ensprechend erziehen. Die Nobilitierung erfolgte damals durch Duc Varden `onore de Souvagne und er bleibt für mich der wahre `errscher dieses Landes. Daher werden meine Kinder erzogen, wie es unser alter Stand vorgibt, auch wenn er auf dem Papier nicht mehr existiert. Nicht umsonst `ängt unser Wappen über uns! Duc Varden `at nicht Sacha ermorden lassen, nicht Calvin und nicht Bianca und die anderen. Er `ätte all das nicht gewollt.«
»Die anderen sind zufällig meine Enkel und meine Schwiegertochter gewesen«, schnauzte Kalenian zurück.
»Die du eh zum Suizid zwingen wölltest, wenn sie noch lebten«, entgegnete Chetan trocken. »Jetzt `ört auf mit dem Gezanke, das ist ja `eute nicht zum Aushalten mit euch. Ich gebe zu, meine Ansprache war vielleicht nicht der beste Einstieg, aber momentan sieht es nun einmal wirklich besonders finster aus. Ich erwarte nicht wirklich sinnvolle Antworte, aber ich stelle meine Frage trotzdem: `at irgendwer einige brauchbare Ideen, um den drohenden `ungertod der gesamten Familie abzuwenden?«
Er blickte in die Runde. Erwartungsgemäß sah er bei Kalenians Linie das größte Desinteresse. Kalenians Familie war jene, die vom Unglück ihrer Familie am meisten gebeutelt war.
Sein Sohn Benjamin, der Frau und Kinder verloren hatte, las ein Buch. Würde Chetan ihn ansprechen, würde er wohl wie immer vorschlagen, zu warten, zu beten und das Schicksal der Familie in die Hände Ainuwars zu legen. Er war vielleicht das resignierteste Familienmitglied überhaupt. Sein letztes lebendes Kind hatte er nach Naridien in Sicherheit geschickt. Seither verzog er sich in sich selbst, in eine Welt der Spiritualität und des passiven Wartens.
Sein Bruder Bhajan saß bei seinem eigenen letzten verbliebenen Sohn Maxim, der den Kopf schief hielt und stumm wie ein Fisch in die Runde blickte. Maxim konnte nicht sprechen und Bhajan wollte nicht. Immerhin sah Bhajan ein wenig interessierter am Gespräch aus als Benjamin, der sich völlig von der Welt verabschiedet hatte oder Kalenian, der es gern würde, aber aus irgendeinem Grunde doch nicht tat.
»Irgendwer?«, fragte Chetan noch einmal.